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Heilung oder Persönlichkeitsveränderung?

Medizin. - Parkinsonkranken oder Depressiven versprechen Neuroimplantate Besserung, Juristen und Mediziner diskutieren ernsthaft ihren Einsatz bei Sexualstraftätern. Doch noch sind die Nebenwirkungen solcher Implantate, die mit elektrischen Impulsen das Gehirn beeinflussen nicht erforscht. Der widmete daher dieser Medizintechnik eine öffentliche Diskussionsveranstaltung.

Von William Vorsatz | 26.01.2006
    Der Mann kann kaum stehen, zittert am ganzen Körper, ist nicht in der Lage, seine Bewegungen zu kontrollieren. Er leidet unter der Parkinsonschen Krankheit. Doch der Patient hat eine Elektrode im Gehirn und erhält nun von außen Signale. Augenblicklich wirkt er wie verwandelt. Läuft selbstbestimmt durch den Raum und ist wieder Herr seiner Bewegungen. Ohne Hilfe kann er allein stehen. Solche Implantate sind für viel Parkinson-Patienten die letzte Rettung. Allerdings: sie bewirken mehr, als sie eigentlich sollen. Der Neurochirurg Prof. Marcos Tatagiba vom Universitätsklinikum Tübingen:

    "Grundsätzlich muss man sagen, dass die heute vorhandenen Implantate, die beispielsweise für die Parkinsonerkrankung angewandt werden, auch zusätzlich in der Lage sind, gewisse Verhaltensveränderungen zu verursachen. Zum Beispiel eine Stimmungsveränderung der Patienten, in gewisser Weise Euphorie oder erhöhte Sexualität, andere Patienten können aber durch das Implantat, durch die Stimulation, eher eine depressive Stimmung bekommen."

    Wann die Manipulationen bei verschiedenen Patienten welche Stimmungen nebenbei auslösen, ist den Forschern bisher noch unklar. Sie wissen noch nicht einmal so genau, ob die veränderten Gefühle nur indirekt hervorgerufen werden, weil die Patienten auf ihre neue Lage emotional reagieren - etwa mit Freude und Lustgefühlen wegen der wiedererlangte Kontrolle über den Körper. Es spricht aber einiges dafür, dass die neuen Gemütszustände andere Ursachen haben: direkte Stimulationen entweder an den betreffenden oder angrenzenden Hirnarealen.

    Aber schon heute gehen die Neurochirurgen noch einen Schritt weiter. So haben die Tübinger beispielsweise bei einer Patientin mit Wiederholungszwängen ein Implantat eingesetzt - mit Erfolg. Heute, nach einigen Wochen, hat sich ihr Zustand entscheidend verbessert. Und schon schalten erste Kliniken Anzeigen, um die gezielten Reize als Allheilmittel gegen Depressionen zu verkaufen. Eine gefährliche Illusion: der richtige Draht könne die Therapie ersetzen. Noch kann Tatagiba zwar beruhigen, zumindest für Westeuropa:

    "Bislang werden diese Maßnahmen in seriösen Zentren durchgeführt, so dass die Gefahr eher gering ist, dass die Methode missbraucht wird. Man kann aber diese Methoden, diese technischen Methoden, zum Beispiel mit der Verwendung eines Messers vergleichen. Ein Messer kann vom Chirurg verwendet werden, um eine Krankheit zu heilen, man kann das Messer auch benutzen, um einen Schaden anzurichten."

    Wissenschaftler und Juristen diskutieren bereits über Möglichkeiten, Sexualstraftäter mit Neuro-Implantaten ungefährlich zu machen. Sexualität ist jedoch sehr vielschichtig und solch ein Eingriff könnte die gesamte Persönlichkeit verändern. Professor Rafael Capurro ist Mitglied der Ethikgruppe der Europäischen Kommission. Er warnt:

    "So dass aufgrund der Komplexität des Gehirns die Möglichkeiten von unabsehbaren Auswirkungen noch sehr groß sind. Und dass man da das Vorsichtsprinzip, das ethische Vorsichtsprinzip, das rechtliche Vorsichtsprinzip, da walten lassen sollte, weil die sogenannten Nebenwirkungen noch so sein können, dass unter Umständen an Stelle der Heilung eine ganz andere Angelegenheit zu Stande kommt, die nicht annehmbar ist. Also das Nichtwissen ist im Moment größer als das Wissen."

    Im Moment haben die EU-Ethiker selbst noch keine endgültige Position zum Einsatz von Neuroimplantaten. Dazu entwickeln sich die Erkenntnisse viel zu schnell. Sie beobachten dieses Feld jedoch aufmerksam. Und meinen: auch die Öffentlichkeit sollte das tun.