Freitag, 19. April 2024

Archiv

Heimat als Utopie
Heimat - der offene Begriff

Mit Heimat lässt sich inzwischen beinahe alles verkaufen und vieles rechtfertigen. Umso wichtiger ist es, eine genaue und differenzierte Begriffsbestimmung vorzunehmen. Ausgehend von Ernst Blochs berühmtem Satz von der Heimat, die uns in die Kindheit scheint - und in der noch niemand wirklich war.

Von Markus Metz und Georg Seeßlen | 03.10.2019
Der Philosoph und Schriftsteller ("Das Prinzip Hoffnung" 1954-59) Ernst Bloch am 30. März 1967.
Für den Philosophen Ernst Bloch ist Heimat nicht Raum, sondern eine Perspektive (picture alliance / dpa)
Die Auseinandersetzung darüber, welchen Begriff von Heimat wir verwenden wollen, was wir meinen, wenn wir uns über Heimat unterhalten oder auch streiten, ist ein Schlüssel für die Kultur einer kommenden Gesellschaft. Die extreme Rechte versucht, den Begriff seit geraumer Zeit im Sinne einer "völkischen" Ideologie von "Blut und Boden" zu besetzen und sie als politische Waffe gegen einen angeblich heimatlosen, verräterischen Liberalismus einzusetzen, der nur kosmopolitisches und grenzenloses Chaos verspreche. Gleichzeitig freilich ist "Heimat" ein Geschäftsmodell, das Tourismus, mediale Heimatfantasien und industrielle Folklore gewinnbringend einsetzt.
Diesem zweifachen Missbrauch kann man begegnen, indem man den anderen, den humanistischen, offenen und utopischen Begriff wieder in sein Recht setzt, der genauso tief in unserer Kultur verankert ist wie der regressive und chauvinistische. Für einen allgemeinen Dialog wäre schon viel gewonnen, wenn uns klar ist, wie viele unterschiedliche Dinge gemeint sein können, wenn von Heimat die Rede ist.
Markus Metz, geboren 1958, studierte Publizistik, Politik und Theaterwissenschaft, er lebt als Hörfunkjournalist und Autor in München. Zuletzt erschien von ihm "Schnittstelle Körper" (Matthes & Seitz Verlag) und "Freiheitstraum und Kontrollmaschine. Der (vielleicht) kommende Aufstand des nicht zu Ende befreiten Sklaven" (bahoe books Wien), beide gemeinsam mit Georg Seeßlen.
Georg Seeßlen, geboren 1948, hat in München Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie studiert. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und schreibt heute als freier Autor unter anderem für "Die Zeit", "Frankfurter Rundschau", "taz" und "epd-Film". Außerdem hat er rund 20 Filmbücher verfasst und Dokumentarfilme fürs Fernsehen gedreht.

Ein Mensch ist immer irgendwo, so fängt das an. Wo er ist, das ist weder gleichgültig noch willkürlich. Er wird das später, am Lagerfeuer, im Tempel, in der Bibliothek sein Schicksal nennen. Und er wird erzählen von Orten, an denen er vorher war. Und vielleicht von Orten, zu denen er noch hin will. Orte sind es, die sein Leben bestimmen, vom Anfang bis zum Ende. Orte, an denen er glücklich war. Orte, von denen er vertrieben wurde. Orte, die ihm zu eng geworden sind. Orte, von denen ihm viel erzählt wurde. Orte, die er selbst eroberte, an denen er sich schuldig machte. Orte, an denen er nicht bleiben konnte. Orte, an denen er sich gern zur Ruhe setzen würde. Der Ort, der für ihn bestimmt ist. Und irgendwann wird in allen diesen Erzählungen ein Wort aufscheinen. Sehr vage zuerst, dann mit einem geheimnisvollen Glanz, dann immer mächtiger und fordernder. Fast so, als könne sich in der Sehnsucht nach diesem Ort auch schon die Angst vor dessen Verlust breit machen. Und so, als könnte hier nur jener Zorn auf alles entstehen, was es ihm streitig macht. Dieses Wort heißt: Heimat.
"Wanderer über dem Nebelmeer" des Künstlers Caspar David Friedrich
Teil 2: Der Heimatbegriff in der Kulturgeschichte - Das große Missverständnis
Obwohl sich viele Menschen in aktuellen Debatten am Wort Heimat sehr stark gestoßen hätten, sei es "im Grunde ein sehr menschenfreundlicher Begriff", sagt Susanne Scharnowski im Dlf. In ihrem neuem Buch möchte die Autorin mit Missverständnissen in der historischen Verwendung des Begriffes aufräumen.
"Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."
Ernst Blochs Vorstellung von Heimat im "Prinzip Hoffnung" beginnt damit, dass uns etwas "in die Kindheit schien", von dem wir erst am Ende erfahren, was es ist: die Heimat, die zugleich eine Erinnerung und eine große Hoffnung ist.
Die erste Heimat: Die Heimat der Kindheit
Heimat ist unabweisbar mit diesem Schein in die Kindheit verbunden. Damit, dass man sich auf den Schutz und die Geborgenheit durch Eltern, Geschwister, Nachbarn verlassen konnte. Damit, dass man die ersten sinnlichen Erfahrungen speicherte, die noch viel von Wunder und Zauber hatten – Gerüche, Töne, Bilder, Sprachklänge, die Laute von Natur und Gesellschaft, die ersten Orte von Wiederkehr und Erweiterung, die Verstecke und die Pfade. Damit, dass man sich ganz direkt Dinge, Worte, Gesten aneignete. Das alles im Bewusstsein, jederzeit der glücklichen Rückkehr gewiss zu sein.
Diese Heimat der Kindheit, das ist das Geräusch eines Baches oder einer Straßenbahn, der Geruch einer Heuwiese, eines Rosinenkuchens oder eines Schaumbades. Das ist die Erkenntnis, dass es für beinahe jedes Ding, das einem begegnet, auch ein Wort gibt, manchmal auch mehrere. Das ist ein Weg, den man immer wieder geht, und der doch nie ganz der gleiche ist. Das ist ein wärmender Ofen, wenn man vom Schlittenfahren kommt.
Diese Heimat der Kindheit ist nichts anderes als ein Ineinander von Abenteuer und Geborgenheit. Und da dieses Ineinander nie zu 100 Prozent ausgeglichen sein kann, können wir auch nur von diesem beglückenden Schein der Heimat sprechen. Es ist keineswegs die Abwesenheit von Unglück, Schmerz und Tod, was als Heimat "in die Kindheit scheint", wie es Ernst Bloch sagte, sondern vielmehr die Identität von Blickraum, Handlungs- und Erfahrungsraum und Wissensraum. Es ist die Empfindung des Einverständnisses zwischen Körper und Natur, in dem das Werden eines Ichs noch nicht gleich gesetzt ist mit dem Fortschritte-Machen in Schule, Beruf, Konsum und Weltgeschichte. Und es ist die Gewissheit, dass es die Menschen, die Welt, das Universum im Wesentlichen gut mit einem meinen. Ein Ort, zu dem man vielleicht immer wieder zurückkehren kann, den man vor allem aber immer in sich haben wird.
Fast nichts kommt einem humanistischen Empfinden so verbrecherisch vor, als Menschen um diesen Vorschein der Heimat in der Kindheit zu betrügen oder zu berauben. Doch andererseits müssen wir uns davor hüten, diese Gleichung von Heimat und Kindheit absolut zu setzen. Ist Kindheit nicht eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft, zugleich ein Freiheits- wie ein Zurichtungsraum? Oder gar eine Rückprojektion auf Land und Natur, auf den Mythos der Unschuld? Bemerkenswerterweise beschreiben wir eine glückliche, abenteuerlich geborgene Kindheit gern als "Bullerbü"-Kindheit, nehmen also eine Fiktion zu Hilfe. Die Heimat der Kindheit ist vor allem eine Erinnerung, die auch trügen kann.
Sprechen wir also von einer Heimat des Beginnens, so früh auch Arbeit, Disziplin, Gewalt und Betrug in das junge Leben eingreifen mögen. Und kehren wir die Sache dialektisch um. So ist Heimat nicht allein das, was in die Kindheit scheint, sondern umgekehrt, der Schein der Heimat erzeugt im Menschen das, was man Kindheit nennen mag. Die Empfindung von Heimatlichkeit und das innere Kind eines Menschen korrespondieren miteinander. Und um die psychologische Metapher auf die Spitze zu treiben: Auch der Tod des inneren Kindes und der Verlust von Heimat bedingen einander auf diese Weise.
In dieser ersten Heimat kann niemand bleiben, es wird den Abschied geben, so oder so. Die einen müssen fortgehen, um ihr Glück zu machen, die anderen müssen an ihrem Ort arbeiten, gründen, besitzen, verteidigen. Ist es nicht merkwürdig, dass jene, die ihre Heimat verlassen, sie leichter im Herzen bewahren können, als jene, die am Ort bleiben, und dort mehr Plage und Kampf sehen als Heimat?
Die zweite Heimat: Die Heimat als soziale Praxis
Wenn man das Heimat-Paradies der Kindheit verlassen hat, wird man in aller Regel Teil eines produktiven Apparates, der Sinn und Form stiftet und stets zugleich für Nahrung, für Schutz und für Ordnung zu sorgen hat. Man kann dies in einem Wort als soziale Praxis, also als strukturiertes Leben mit den Anderen bezeichnen. Es besteht im Wesentlichen aus einem Austausch. Der Einzelne tut etwas für den Anderen, der Andere tut wiederum etwas für ihn. Der Einzelne tut etwas für die Gemeinschaft, die Gemeinschaft tut etwas für ihn. Die Dinge sind nicht mehr allein Erfahrung, sie sind vor allem Wert, Tauschwert und Gebrauchswert, sozialer und ästhetischer Wert, ideeller und materieller Wert. Die zweite Heimat ist eine Beziehung zu anderen, in denen die Werte verlässlich sind – oder wenigstens die Systeme, in denen die Werte ausgehandelt werden. Das ist unter gegebenen Umständen ausgesprochen vernünftig, doch es ist auch der Ursprung aller Konflikte. Von hier aus wird es Besitzverhältnisse, Machtkämpfe, Gewalt und Betrug geben.
Diese soziale Praxis organisiert sich zunächst an bestimmten Orten. Die griechische Antike hatte dafür das Wort "oikonomia", womit eine Ordnung des Hauses gemeint ist: das Haus als eine wirtschaftliche Einheit aus großer Familie, Gesinde und Sklaven. Die "oikonomia" beschrieb indes nicht nur die Ordnung der Menschen und ihrer Arbeit, sondern auch die Ordnung der Dinge, der Werkzeuge etwa. Ganz entscheidend: Diese Ordnung sollte immer zugleich nützlich und schön sein. Die "oikonomia" war zunächst ein zwar interagierendes, aber doch in sich eher geschlossenes System zur Produktion und Reproduktion. Man könnte sie daher als eine hergestellte Heimat ansehen, die nun nicht mehr an Glück und Erfahrung, sondern am Funktionieren und am Erzeugen orientiert ist.
Noch heute kommt uns, wenn wir an Heimat denken, als erstes ein Bauerndorf in den Sinn, in dem die Aufgaben wohl verteilt sind und die Reproduktion aus eigener Kraft geschieht. Das Dorf hat einen Schmied, einen Bader, einen Friseur, einen Arzt, einen Bäcker, einen Metzger, einen Lehrer, einen Pfarrer, einen Bürgermeister, einen Polizisten und – mehr oder weniger hierarchisch – die weiblichen Pendants dazu. Jeder und jede kennt seinen oder ihren Platz. Jeder und jede ist Teil eines gesamten Gelingens.
Nichts anderes als eine leicht modernisierte Form einer "oikonomia". Heimat also wird der Ort, den wir gemeinsam gestalten, wie es in einem Pionierlied der DDR hieß.
Aber vielleicht ist Heimat, wo man der Natur alle ihre Geheimnisse entreißt und in der sozialistischen wie in der kapitalistischen Version alles dem Fortschritt unterwirft, doch keine Glücksgarantie. So lange es Politik gibt, ist die Heimat nicht sicher. Aber ebenso ist die Heimat ohne Politik nicht weniger unsicher. Um Heimat und Politik miteinander zu versöhnen, müssen also Arrangements getroffen werden. Das gelingt mal besser, mal schlechter, jedenfalls nie vollständig. Denn diese zweite Heimat muss permanent organisiert und definiert werden, und da sind Krisen und Katastrophen vorprogrammiert. Dazu gibt es unzählige Geschichten. Eine handelt von dem Menschen, der so gern Teil dieser Heimat wäre, aber aufgrund seines Aussehens, seines Sprechens, seines Handelns oder seiner Fähigkeiten von der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Eine zweite handelt von dem Menschen, der geachtet, erfolgreich und vernetzt Teil der Heimat ist, aber aufgrund seiner Macht und seines Reichtums als Verräter an der Gemeinschaft betrachtet wird. Heimat als soziale Praxis geht in unserer kollektiven Erinnerung ebenso schnell durch bittere Armut wie durch plötzlichen Reichtum verloren. Eine dritte Geschichte handelt von einem, der leichtfertig seine Heimat verlässt – den wärmenden Ort der Gemeinschaft –, um in die Kälte der Welt zu gehen, wie es Friedrich Nietzsche in einem Gedicht beschreibt:
"Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem‚ der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr‚Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt – entflohn?"
Von diesen Grundmotiven aus können wir alle Prozesse von Aufbau und Zerfall, Integration und Exklusion einer sozialen Praxis der Heimat beschreiben. Mit der etwas melancholischen Erkenntnis, dass die geglückte soziale Praxis nur ein schwacher Widerschein des Glücks der Kindheits-Heimat darstellt, die missglückte aber alle Schrecken der Finsternis übertrifft. Für den – so oder so! – Ausgeschlossenen, Gebrandmarkten, Verdächtigen kann Heimat als soziale Praxis zur Hölle werden. Und der Mensch, der seine Heimat verliert, tendiert dazu, einen Hass auf alles außerhalb zu entwickeln, auf die Politik, die Natur und die Fremde. Denken wir uns einen Menschen, dem von der Heimat nichts anderes geblieben ist als der Hass.
Die dritte Heimat: Die Heimat als Ökonomie
Aus der Heimat der "oikonomia" wurde der Mensch zwar in eine größere Ökonomie vertrieben, aber auch diese funktionierte noch leidlich in der Form eines Austausches auf lokaler Ebene. Arbeit, Tausch und Konsum waren mit Riten der direkten Beziehung verbunden. Heimat entstand durch die Nähe und Kenntnis der Beteiligten in einer Wertschöpfungskette. Wie die nächste Vertreibung aussieht, beschreibt der österreichische Komponist Georg Friedrich Haas in einem Monolog:
"Als ich ein Kind war – in den Vorarlberger Alpen, in Latschau –, gab es dort ein kleines Sägewerk, das von einem vorbeifließenden Bach betrieben wurde, ein Familienbetrieb. Unten im Tal lebten Tischler, ebenfalls Kleinbetriebe, die Möbel aus diesen Brettern herstellten, die dann für Generationen halten sollten. Das Geld, das dafür im Umlauf war, blieb im Ort. Die Steuern zahlten sie – sofern sie sie nicht hinterzogen – in der lokalen Gemeinde. Wer heute Möbel kauft, geht zu einem Großkonzern. Die Haltbarkeit dieser Möbel ist beschränkt, hergestellt werden sie unter desaströsen Arbeitsbedingungen irgendwo weit weg, dann werden sie über den halben Planeten verschifft. Die Gewinne werden vom Konzern irgendwohin transferiert. Die Steuern aber werden nicht mehr hinterzogen, sondern ordnungsgemäß in einer Schweizer Kleinstadt pauschal abgeführt. Zu wesentlich günstigeren Bedingungen als es auch der cleverste Vorarlberger Steuerhinterzieher jemals geschafft hätte. Vergleichbares ist in den meisten Lebensbereichen geschehen."
Die ökonomische Entheimatung des Menschen wird uns indes ganz allgemein als Fortschritt verkauft. Versklavung, so scheint es, findet anderswo und anderswie statt, und die Entfremdung des Menschen in seiner Arbeit und in seinen Produkten wird mehr als kompensiert durch die Befreiung des Subjekts und die Subjektivierung der Freiheit. Die Heimat, die als soziale Praxis und als Würde und Solidarität in der Arbeit verloren ging, kann man sich aus Konsum und Design wieder neu zusammensetzen. Für diese Heimat der Rekreation, des Spektakels und der kaufbaren Dinge braucht man nicht einmal mehr die anderen. Aus Kollegen und Mitbewohnern der zweiten und dritten Heimat sind ohnehin Wettbewerber und Neider geworden. Heimat soll nun der Reproduktions- und Konsumraum der so genannten Kleinfamilie sein; die Erinnerungen an die alten Heimaten sind im Fernseher und in der Haustierhaltung aufgehoben. Und wer in die alte Heimat zurückwill, ist ein heilloser Romantiker, ein grüner Spinner, ein naiver Nostalgiker, wenn nicht gar ein Reaktionär. Das Problem freilich liegt nicht nur in der wachsenden Ungerechtigkeit dieser entheimateten Ökonomie, sondern darin, dass sie ohne ein anderes Ziel als das der Deregulierung von Produktion und Konsumtion geschieht, von der nur eine schäbige Teilhabe am großen Luxustraum bleibt. Nach dem persönlichen, dem sozialen und dem kulturellen Verlust von Heimat ist dieser ökonomische Verlust der gravierendste.
Aus der Heimat, die als glücklicher Schein durch eine Kindheit floss, ist nach und nach ein immer härterer Klumpen geworden, ein Stein, der einem nicht mehr vom Herzen fallen will. Es muss Macht werden, was nicht mehr Erfahrung sein kann, es muss Ideologie werden, was nicht mehr Vertrauen sein kann. Nach Ökonomie und Politik wird Heimat zur medialen Ersatzwelt und zur Propaganda.
Die vierte Heimat: Die Heimat als Bild und Erzählung
Man könnte das Narrativ Heimat in die Form eines Paradoxon bringen: Es ist nicht zu erklären, aber es ist zu erzählen. Je genauer man Heimat ansieht, desto mehr zerfließt sie in wunderbaren Farben in ein unendliches Erzählen. Und sofort drehen wir das erzdialektisch wieder um: Erzählen ist nichts anderes als eine semantische Arbeit der Heimat-Erschaffung. Daher ist es vollkommen verständlich, dass Erzählen immer komplizierter und reflexiver werden muss, denn auch Erzählen muss im Spannungsfeld von Fortschritt und Heimat gesehen werden. Und es geht um das Wissen, dass auch diese Transformation – wie in den Heimatverlusten zuvor – Heimat nicht bewahren kann, sondern stets den Verlust in die Utopie verwandeln müsste, soll Erzählen prinzipiell mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit verbunden bleiben.
Die größten Ursachen für den Verlust von Heimat sind in der modernen Gesellschaft neben Krieg und Katastrophe die durch strukturelle Veränderungen der politischen Ökonomie erzwungene Landflucht, sowie der Verlust an Geborgenheit und Sicherheit als arbeitender und wohnender Mensch. Die vierte Heimat scheint verlässlich nur noch in einer allwöchentlichen Fernsehserie zu erhalten sein. Ansonsten ist nicht nur der Arbeitsplatz, nicht nur die Wohnung, sondern auch die Nachbarschaft prekär geworden. Selbst die Dingwelt in der Umgebung, von den Naturresten zu schweigen, geriet in einen fortwährenden Zustand dessen, was die neoliberale Sprechweise "kreative Zerstörung" nennt. Diese kreative Zerstörung hat mittlerweile auch die Sprache und das Sprechen erwischt. Es löst sich in das auf, was wir in Anlehnung an George Orwell mittlerweile "das Sprech" nennen: Computer‑Sprech, Finanz-Sprech, Nazi-Sprech. Und nun gar: Heimat‑Sprech.
O-Ton Anton Friesen, AfD-Bundestagsabgeordneter: "Deutschland ist kein Siedlungsgebiet. Deutschland ist die Heimat des deutschen Volkes, aller deutschen Patrioten, egal, woher sie kommen. So ist es und so soll es auch bleiben. Das Recht auf Heimat, wird durch den globalen Flüchtlingspakt und den globalen Migrationspakt unterminiert."
Die Entheimatung des modernen Menschen hat nichts mit offenen Grenzen, nichts mit Multikulturalität, nichts mit metropoler Polyphonie zu tun, sondern wird durch die Deregulierungen der sozialen Praxis erzeugt. Die Angst vor allem Fremden, die das Verhalten in der "oikonomia" prägte, muss sich in der Industriegesellschaft in eine Angst vor der Entfremdung verwandeln. Genauso wie sich die Heimat von einer Kindheitserfahrung und einer sozialen Praxis notwendig immer weiter in ein kulturelles Konstrukt, eine künstliche Erinnerung, in Ritual und Ideologie verwandeln muss.
Unfähig, den inneren Verlust von allen vier Heimaten zu verarbeiten, richten sich Energien auf äußere Formen. Aus unserer Heimat-Sprache vertrieben genießen wir in Politikerreden, in TV-Serien und so genannter volkstümlicher Musik Heimatlichkeit als Fast-Food-Angebot. Heimat, so scheint es, wird zu einem Ort, der umso mehr verloren geht, als man ihn mit Gewalt festhalten will. Und die Rückkehr wird so schwer, wie es Goethe einst beschrieb:
"Alle denken gewiß, in kurzen Tagen zur Heimat
Wiederzukehren; so pflegt sich stets der Vertriebne zu schmeicheln;
Aber ich täusche mich nicht mit leichter Hoffnung in diesen
Traurigen Tagen, die uns noch traurige Tage versprechen:
Denn gelöst sind die Bande der Welt; wer knüpfet sie wieder
Als allein nur die Not, die höchste, die uns bevorsteht!"
Die große Idee des bürgerlichen Lebens besteht aus einem Kreislauf: Der Mensch verlässt das Paradies der Kindheits-Heimat, erzeugt in seiner Arbeit und seiner Reproduktion soziale Praxis, fächert gewissermaßen das Heimatliche zur Welt hin auf, stabilisiert sich in provinzieller Harmonie, und kehrt schließlich in die Heimat am Ende seines Lebens zurück. Das Alter, und ja, auch den Tod in der Heimat zu erleben, ist das letzte Glück dieser Biographie. Mit Entsetzen nehmen wir zur Kenntnis, dass auch hier ein Prozess der Vertreibung stattfindet. Heimat als Trost und Geborgenheit am Ende des Lebens ist die letzte der vielen Verweigerungen, die im Namen von Wachstum und Fortschritt ausgesprochen wird. Nicht einmal den Wunsch, daheim zu sterben, kann man leicht noch erfüllen, wo es kein Daheim mehr gibt. So gälte es, die als Glücksschein in der Kindheit, als soziale Praxis und ökonomische Ordnung, als Bild und Erzählung verlorene Heimat so wiederzufinden, wie es Ernst Bloch einst forderte: als Ziel für das Prinzip Hoffnung.
Wer in eine Heimat will, der will an einen Ort, wo es Vertrauen, Geborgenheit und Freiheit gleichermaßen gibt. Wo man sich auf Dinge verlassen und zugleich mit ihnen spielen kann. Wo alles vertraut, aber auch alles neu sein kann und wo man niemals Angst haben muss, dass man Wörtern, Bildern und Handlungen nicht zu trauen vermag, weil im Inneren etwas anderes gilt als im Äußeren. Heimat, das wäre eine Wirklichkeit, die wir gemeinsam bewohnen, in der nicht Macht und Besitz, sondern Glück und Schönheit das Maß aller Dinge bilden.
Sollen wir also Heimat sehr schlicht und kindlich mit "Paradies" übersetzen? Nein, denn die Götter haben uns die Paradiese nur geliehen, und die Menschen haben sie verscherzt und zerstört. Zur Strafe haben die Götter – und der christliche Gott mit besonderem Nachdruck! – die Menschen zur Arbeit verurteilt. Kaum waren die Menschen aus dem Paradies vertrieben, da haben sich schon Bruder mit Bruder und Volk mit Volk bekriegt. Aber die Arbeit selbst ist nicht nur Strafe, sondern auch eine Chance. Das zweite Paradies, die Utopie Heimat, die uns "in die Kindheit schien" und in der noch niemand war, kann nur durch menschliche Arbeit erreicht werden. Durch die Veränderung der Welt zu einem Ort, an dem alle Menschen und alle anderen Wesen in Vertrauen und Geborgenheit miteinander zurechtkommen. Keine Welt ohne Probleme, ganz gewiss nicht, aber eine Welt, deren Möglichkeiten gerecht verteilt sind.
Heimat als Utopie gibt es augenblicklich wohl nur als Traum, als Idee, als Fantasie. Allgemeiner gesprochen: als Kunst. Man kann über die Kunst im Zeitalter ihrer neoliberalen Vermarktbarkeit viel Kritisches sagen, doch dass sie eine Heimat ist, lässt sich ihr nicht absprechen. Sie kennt keine Grenzen in Raum und Zeit, ist also ein Vor‑Schein jener Heimat, die die Sesshaften und Besitzenden den Nomaden und Gauklern, den Träumern und Denkern, den Kindern und Geistern nicht mehr vorenthalten können. Eine Heimat für beide Lebensformen, die nomadische wie die sesshafte, "das Glück ohne Macht, die Heimat ohne Grenzstein", um Adorno und Horkheimer zu zitieren. Nur eine Heimat ohne Besitz, ohne Macht, ohne Grenzstein und ohne ideologische Besetzung kann eine glückliche Heimat sein. Um zu einem utopischen Ort oder – wie das Wort "Utopie" impliziert – Nicht-Ort zu werden, muss der Begriff Heimat von zwei Zuschreibungen befreit werden. Zum einen von der historischen Legitimation: Heimat als Ort, an dem unsere Vorfahren auf mythische Weise Fuß gefasst haben, meist begleitet von kolossalen Verbrechen, den wir seither als Besitz betrachten und gegen andere Historien und Mythen verteidigen müssen. Zum anderen von der territorialen Begrenzung: Heimat ist kein Ort, der von Grenzen und Ausschließungen, von Verbannungen und Versklavungen gebildet wird. Nein, Heimat ist der Zustand, in dem sich der Mensch von zeitlichen und räumlichen Distinktionen gänzlich befreit hat, der Nicht-Ort aller Entronnenen.
Wir wissen es sehr genau: Die Heimat, die uns mit Ernst Bloch "in die Kindheit schien", ist ein Zustand, den entweder alle Menschen oder aber niemand erreicht. Denn jener Mensch, der anderen Menschen die Heimat raubt oder sie ihnen verweigert, hat die eigene Heimat schon verloren – auch wenn er es selber nicht bemerken will. Wie bei Friedrich Hölderlin ist Heimat vielleicht der Ort, an dem Heimkehr und Aufbruch keine Widersprüche mehr bedeuten.
"Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom
Von fernen Inseln, wo er geerntet hat;
Wohl möcht auch ich zur Heimat wieder;
Aber was hab ich, wie Leid, geerntet? –
Ihr holden Ufer, die ihr mich auferzogt,
Stillt ihr der Liebe Leiden? ach! gebt ihr mir,
Ihr Wälder meiner Kindheit, wann ich
Komme, die Ruhe noch einmal wieder?"