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Heimat ist weitaus mehr als der Ort, an dem die Rechnungen ankommen

Hässlich ist nur, was man nicht sehen will: Burkhard Müllers Reisebuch bietet neue Blicke aufs scheinbar Vertraute - und plädiert eindringlich für ein kritisches Heimatbewusstsein.

Von Nils Kahlefendt | 31.05.2011
    Im März 1978, fast 20 Jahre nachdem sich John Steinbeck mit einem zum Wohnmobil umgebauten Kleinlaster auf die "Suche nach Amerika" begeben hatte, brach ein gewisser William Least Heat Moon, Nachkomme von Indianern und frühamerikanischen Pionieren, zu einer ungewöhnlichen Reise auf. 13.000 Meilen legte er in seinem alten Ford-Transporter auf den Wegen und Abwegen der amerikanischen Provinz zurück; die Expedition ins Nirgendwo folgte den kurvenreichen Nebenstraßen, die in alten Karten, anders als die roten Autobahnen, blau ausgezeichnet waren. Sein 1982 erschienenes Buch "Blue Highways. A journey into America", das sich monatelang auf der Bestsellerliste der "New York Times" hielt, machte den Autor schlagartig berühmt. Er hatte, kraftvoll und poetisch, den Stoff geliefert, auf den eine während der glücklosen Präsidentschaft Jimmy Carters arg gebeutelte Nation dringend wartete. Kein Zweifel, im Gewand des Roadmovies, von den Rändern her, lässt sich einer Gesellschaft bestens der Puls fühlen. Funktioniert das "Prinzip Nebenstrecke" auch im Reich des Bundesverkehrsministers Peter Ramsauer? Burkhard Müller, der an der TH Chemnitz Latein lehrt und als Literaturkritiker für die "Süddeutsche Zeitung" schreibt, gehört als Reisender sicher nicht zu jenen Abenteurern, die mit Schlafsack und Outdoor-Equipment ins Blaue fahren. Um Deutschland "in seiner räumlichen und zeitlichen Tiefe" kennenzulernen, hat jedoch auch er die Autobahnen verlassen und das ältere unserer beiden großen Fernstraßennetze unter die Räder genommen - das System der Bundesstraßen, das heute nur noch im Nahbereich genutzt wird. Wer weiß etwa in Leipzig, dass die B 2, als längste deutsche Straße überhaupt, 1000 Kilometer von Tirol nach Stettin in Polen führt?

    "Und indem man diesen schrägen Linien, die Deutschland kreuz und quer durchschneiden, folgt - da sieht man einfach mehr! Auf der Autobahn sieht man nichts. Und zwar, nicht nur dann sieht man nichts, wenn rechts und links diese Schallschutzmauern da sind - also, Schutz des Ohrs auf Kosten der Augen, würde ich sagen - sondern man rast mit einer Geschwindigkeit vorbei, die die Erfahrung des Raums unmöglich macht. Und infolge dessen ergibt sich eine Landkarte in den Köpfen, die aus Punkten besteht. Also, jeder kommt schnell dort an, wo er hin will. Aber er weiß nicht, was dazwischen ist. Er erfährt es nicht. Und mir kam es eben darauf an, Deutschland auf diese Weise zu "erfahren" - in dem ich zehn Bundesstraßen in ihrer vollen Länge vom ersten bis zum letzten Kilometer ausgefahren bin. "

    Das stimmt nicht ganz: Müller, überzeugt davon, dass man zu zweit "anders", im besten Fall "mehr" sieht, hat sich von seiner Schwester und anderen Reisebegleiterinnen chauffieren lassen. "Am besten", so der Autor, "spricht es sich mit Frauen." Weil sie so gut auf den Verkehr achten und dennoch hin und wieder ein gutes Stichwort geben können? Andere Menschen kommen dieser Art des dauer reflektierenden Unterwegsseins eher selten in die Quere. Wenn doch, bleiben sie, bis auf wenige Ausnahmen - wie den Farbgestalter Ernst Friedrich von Garnier, der versucht, Industriebauten in Einklang mit der sie umgebenden Landschaft zu bringen - blasse Randfiguren. Müller sieht sich nicht in der klassischen Reporter-Rolle, und dass der Deutschlandreisende den stets zu Urteilen gezwungenen Kritiker endlich mal hinter sich lassen kann, scheint ihm zu gefallen.

    " Es ist keine Reportage. So sehe ich das nicht. Sondern als die Gelegenheit, einfach zu sehen, was es unterwegs gibt. Die Form ist ja sehr stark vorgegeben. Also, die Bundesstraßen: Was fädelt sich an dieser Perlenkette auf? Da ist Platz für sehr viel Verschiedenes. Und diese Form hat mich auch sehr gereizt. Weil hier die Sachen in der Reihenfolge, mit der sie erscheinen, auch bedacht werden können. Zum Beispiel: Wenn man im Dezember überall die Apfelbäume sieht, an denen noch die Äpfel hängen. Warum erntet keiner die mehr ab? Was sagt das über die Entwicklung der Landschaft? Oder auch die Häufungen: Wenn man 20 Mal Kreisverkehre gesehen hat, 20 Mal Tiefgaragen - dann werden diese Phänomene auf einmal so deutlich - also, irgendwann versteht man nicht mehr, dass sich die Menschheit so was wie ein Parkhaus bieten lässt! Diese höllenhaften Orte, in denen die Autofahrer dafür büßen, dass sie Auto fahren - so kommt mir das vor. Als eine Art Purgatorium."

    Obwohl Müller - vom schäbigen Hotelzimmer über tote Fußgängerzonen bis zur allgegenwärtigen Sparkassenfiliale - eine Vielzahl solcher Vorhöllen beschreibt, hält er sich mit dem Urteil der Hässlichkeit, das den eigenen Blick zu schließen droht, klug zurück. Was er aus Städten wie Meschede oder Saarbrücken notiert, dürfte die dortigen Tourismus-Ämter nicht glücklich machen - mit der aufgesetzten Witzigkeit von Satire-Samplern wie "Öde Orte" hat er nichts am Hut. Was, so fragt sich Müller, lässt sich über unsere Gesellschaft herausfinden, wenn man die Dinge, die uns umgeben, ihre Materialien, Oberflächen, Farben, betrachtet? Häufig weitet sich die Schau der Phänomene dabei zu Tiefenbohrungen in die Geschichte, zu kleinen Meditationen über das So-Geworden-Sein von Landschaften und Menschen. Erben, weiß der Autor, klingt leichter, als es ist.

    "Ich glaube, dass unser Verhältnis zur Geschichte in gewisser Weise gestört ist. Und zwar, die Geschichte wird als, ja, als ein Schatz, als ein Erbe betrachtet, etwas, was "konserviert", ja sogar wieder hergestellt werden kann. Die zwölf Jahre der NS-Zeit, die dienen als das große Abstoßungspotenzial. Und da scheint Geschichte überhaupt kondensiert zu sein, also das legt sich wie eine steinerne Platte zwischen jetzt und früher. Und wo man was für die Geschichte tun will, da kommen dann meist so steril-konservatorische Maßnahmen raus. Spätestens in dem Augenblick, wo etwas UNESCO-Weltkulturerbe wird, da wird ja etwas peinlich konserviert. Aber es ist nicht möglich, Geschichte zu konservieren. Weil, an einer Stelle hat immer nur eine Zeit Platz. Die Geschichte ist sedimentiert im Raum. Und das ganze sind aber aufeinender durchsichtige Schichten. Das schillert, das laviert. Und dazu muss man vor Ort sein, um das zu sehen."

    Müllers plastische Sprache, seine originellen Bilder und Vergleiche öffnen dem Leser die Augen für Dinge, an denen der Alltagsblick zumeist abgleitet. Von der in die eigene Formulierungskunst verliebten Prosa mancher literarischer Flaneure ist wohltuend entfernt. Nur selten sitzt er Klischees auf - etwa, wenn er, spürbar mäkelig aufgelegt, aus dem Osten in die vermeintlich im piefigen Vorgestern feststeckenden Altländer rollt. Ein großer Reiz des Buches liegt darin, dass es sich Baedecker-Highlights wie den spätgotischen Schnitzaltären der Stralsunder Hauptkirche St. Nikolai oder der Kaiserpfalz zu Ingelheim mit der gleichen sprachlichen Sorgfalt und Detailversessenheit annimmt wie den Uran-Halden der Wismut, der Rostocker Volkswerft oder dem Hochregallager von Boehringer. Heimat, das zeigt Burkhard Müllers "Deutsche Reise" eindrucksvoll, ist auch in Zeiten der Globalisierung weitaus mehr als der Ort, an dem die Rechnungen ankommen.

    Burkhard Müller: B - Eine deutsche Reise. Rowohlt Berlin, 319 Seiten, 19.95 Euro
    Die deutsche Ausgabe des spannenden Buchs von William Least Heat Moon ("Blue Highways. Eine Reise in Amerika") erschien in der Übersetzung von Dieter Hildebrandt zuerst 1985 im Insel Verlag; derzeit ist sie nur antiquarisch erhältlich.