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Heimatfilm im Kopf

Von Johannisbeeren, Arschbomben im Schwimmbad und Rasenmäherlärm erzählt Florian Illies in seinem neuen Buch. "Ortsgespräch" ist ein Sammelsurium von Erinnerungen, Beobachtungen und Bemerkungen aus der hessischen Kleinstadt Schlitz, in der er seine Kindheit verbrachte - aber keine Ode an die Provinz.

Von Christoph Schmitz | 18.09.2006
    Wieder einmal macht Florian Illies Inventur. Diesmal nicht seiner Generation, sondern der Provinz, der ländlichen Heimat. Der 35-jährige begibt sich in Erinnerungen zurück in die Kleinstadt seiner Kindheit und Jugend, ins hessische Schlitz, und erzählt von den süß-sauren Explosionen der wie Lottobälle durch den Mundraum kullernden Johannisbeeren, von Tante Dos Geburtstagstorten und dem kritischen Blick der Tante auf jede frisch erblühende Liaison der Jugend, von Arschbomben im Schwimmbad, von Milchkannentransport und Rasenmäherlärm.

    Und Illies erzählt zugleich vom Landleben heute. Wie es ihn und die Städter zurück in die behagliche Provinz treibt, was sie dort vorfinden, was sich verändert hat im Vergleich zu damals. Und das ist auch schon der Punkt: Es hat sich nämlich nicht viel verändert. Jedenfalls ist Illies auf die positiven Konstanten der Provinz aus, auf das, was das Leben dort lebenswerter macht als in der Stadt.

    "Bei all dem, was ich bei der Vorbereitung dieses Buches gelesen habe, machte diese Ablehnung gegenüber der Provinz, wie in der Buchreihe "Öde Orte" etwa, 95 Prozent des Umgangs mit Provinz und Heimat aus. Deswegen habe ich ganz bewußt gesagt: Ich weiß schon, daß alles ambivalent ist, daß es Verbrechen in der Heimat gibt und Enge, aber warum leben da 70 Prozent der Deutschen und warum erinnern wir uns bis heute an Erlebnisse, die mit Natur zu tun haben?"

    Florian Illies vergegenwärtigt die Natur, die ganzjährig auf dem Land alles im Griff hat, das entschleunigte Lebenstempo, die gemeinsame Zeit, also die kollektiven Zeitzyklen im Unterschied zu den individualisierten einer Metropole. Darüber hinaus ist Schlitz für den Autor der Ort, der "Karl Marx Freudentränen in die Augen treiben würde", wie es an einer Stelle heißt: "Hier wird noch ehrlich und gern geteilt", Produzenten und Abnehmer kennen sich meist persönlich. Bei dieser Inventur geht Illies weder systematisch, noch analytisch vor. Es handelt sich um ein Sammelsurium von Erinnerungen, Beobachtungen und Bemerkungen.

    "Das Sammelsurium, wie Sie es nennen, habe ich etwas sehr Individuelles ausgesucht. Es ist für mich immer harte Arbeit, all das herauszustreichen, was nicht zum verdichteten Beispiel taugt, und am Ende ein paar Beispiele zu haben, an die der Leser Assoziationen knüpfen kann. Mir geht es darum, die symbolischen Aufladungen zu beschreiben und beim Leser etwas auszulösen. Es geht mir um ein Gefühl für Heimat, für Nachhausekommen, vor allem aber auch in seiner Ambivalenz, in seinem Sichabstoßen, aber auch in seiner Anziehungskraft."

    Das Benennen der Dinge hat für Illies schon Bedeutung. Er will nicht immer gleich erklären. So zeichnet sich das Buch durch eine gewisse intellektuelle Abstinenz aus, die sich der Autor fast programmatisch verordnet zu haben scheint. Vielleicht steckt dahinter eine Strategie, mit der Funktion eines pädagogischen Katalysators.

    "Ich schreibe ganz bewusst Bücher, bei denen es mir darum geht, beim Leser Freude und Wiedererkennung zu vermitteln. Aber auch Humor ist ein großes Thema in meinen Büchern. Ich will den Leser ernst nehmen, ihm nicht sagen, wie er etwas zu denken hat, sondern: Ich gebe dem Leser ein Angebot, versuche die Dinge so zu beschreiben, daß in seinem Kopf ein eigener Heimatfilm entsteht. Damit er auch seine eigenen Dinge erinnert, die schwierigen, schönen und lustigen Erinnerungen mit Heimat und Land. Das Buch als Sprungbrett für die eigenen Gedanken."

    Florian Illies Buch "Ortsgespräch" ist keine Ode an die Provinz, wie es im Klappentext heißt. Es will nicht feiern oder gar verklären. Schwärmerei ist ihm fremd. Es spricht aus ihm eher eine mit ironischer Lakonie verdeckte Sympathie, die allerdings eine Verachtung zur Voraussetzung hat.

    "Ich werfe gewissermaßen einen warmen Blick auf die Provinz. Denn sie ist so viele Jahrzehnte und Jahrhunderte verachtet worden, daß es natürlich zuerst einmal eine kalte Grundstruktur gibt. Darum ist die Provinz jetzt noch nicht so heiß zu bekommen. Für mich besteht der Reiz darin, zu changieren. Und dieses Dazwischen, zwischen Enge und Geborgenheit, ist oft weitaus näher an der Wahrheit, als ganz kalte Abrechnungen oder heiße Lobpreisungen."

    "Heimatgefühl war lange verboten, höchstens das Grundgesetz durfte man lieben, sein Auto oder seine Frau" liest man bei Illies ziemlich am Anfang. Eine Kritik des Verbotes von Heimatgefühl, einen Exkurs über die Diskreditierung der Provinz nach 1945, die ideologische Verachtung seitens der 68er und die Wiedergeburt der Heimat aus dem Geiste neuer Bürgerlichkeit will der Autor nicht liefern.

    "Das wäre ein ganz anderer Typus Buch. Den kann man auch schreiben. Ich habe auch bei "Generation Golf" zuerst ein ganz soziologisches Buch geschrieben, 60, 70 Seiten, und darin ganz nüchtern analysiert, wie sich die Jugend jetzt entwickelt, dann aber gemerkt, daß ich das ganz staubtrocken und langweilig fand. Ich bin Journalist und jemand, der sich freut, wenn die Bücher lesbar bleiben und gelesen werden. Ich lese sehr viel Soziologisches, um für mich zu begreifen, worum es mir geht, um die Themen zu präzisieren. Aber dann ist es meine größte Arbeit, daß all das verschwindet und es hineingesogen wird in die Beispiele und in die Erzählungen. Das ist ein anderer Ansatz."

    Auch mit seiner feuilletonistischen Eleganz, die Illies als Journalist auszeichnet, wartet er in seinem neuen Buch nicht unbedingt auf. Man könnte es als stilistische Enthaltsamkeit deuten, die ihm ein größeres Publikum sichern wird. Die Landeier namens Babsi und Kevin, die sein Buch bevölkern, werden es ihm danken.

    "Ich freue mich sehr, wenn es auf dem Lande und in der Provinz gelesen wird und nicht nur von den Intellektuellen in den Großstädten, die ihre Rotstifte zücken, weil ihnen die Fremdworte fehlen."