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Heimatmelodien von den Alpen bis zur See

Volksmusik heißt nicht gleich Musikantenstadl - in ganz Deutschland wird altes Heimatliedgut bewahrt und neu interpretiert: ob Wirtshausmusik in Bayern, Bergbaumusik im Erzgebirge oder Shanties an der Nordseeküste. Die Volksweisen beziehen sich dabei oft auf ihre natürliche Umgebung und zeigen die Verbundenheit zu ihrer Region.

Von Jan Tengeler | 03.03.2013
    "Das Begleitorchester ist schon da, der Wind ist heute unser Orchester…"

    Wer mit Loni Kuisle das Allgäu bei Kempten erwandert, hat zweierlei im Sinn: die Schönheit der Landschaft und die Besonderheit der Gesänge. Denn das Jodeln, erklärt die Gesangslehrerin, sei einst als Kommunikationsmittel entstanden. Der hohe und laute Ruf sei früher die einzige Möglichkeit gewesen, sich von Alm zu Alm, über Täler und sogar Berge hinweg der Anwesenheit anderer Menschen zu vergewissern. Bei persönlichen Begegnungen ist daraus dann eine Kunstform geworden.

    "Es gibt so schöne Plätze, dass man sich von den Plätzen leiten lässt, was man spürt unter den Füßen, was man riecht und hört und das dann in Gebrauch nimmt, dass man die Sache aus der Natur dazu nimmt, mit dem was man selber macht, dann gibt es was Schönes, drum muss man es draußen machen."

    Früher diente es der Verständigung über große Entfernungen hinweg, doch heute gibt es Handys und so ist das Jodeln nur noch Kunstform. Aber Loni Kuisle vermittelt in ihren wandernden Jodelkursen einen Eindruck davon, wie nahe sich Klangbildung, Natur und Arbeitsalltag einstmals standen. Das ist Aktivurlaub der besonderen Art: Bewegung und selbst gemachter Musikgenuss in einem.

    Einmal quer durch die Republik, von Süden nach Norden, aus den Bergen raus aufs Meer, auf die Ostsee bei Flensburg. Auch das war früher einmal Arbeit und ist heute Hobby – Segeln. Wer sich auf ein altes Segelschiff begibt, auf denen es noch keine elektrischen Winden gibt, wird schnell merken: Mit einem Lied auf den Lippen ist es viel einfacher, die Segel zu hissen:

    Hei ho, hul em up: ‚zieh es hoch.‘
    Hei ho, nun geif n Schluck: ‚jetzt kannst Du einen aus der Buddel, aus der Flasche nehmen.


    "Sea music ist eine andere Leidenschaft, Musik vom Meer ist englischsprachig, auf See wird englisch gesprochen, auch auf deutschen Schiffen, man hat sich auch auf Englisch geeinigt, daher auch Shanty."

    Roland Lorenzen muss es wissen: Im eigentlichen Beruf ist er Ingenieur, aber der gelernte Schiffsbauer hat zwei Hobbys: Schiffe - am liebsten restauriert er alte Segelboote aus Holz - und die Musik. Die Schnittmenge aus Meer und Musik sind natürlich die Shanties, die meisten auf Englisch, einige auf Deutsch oder sogar auf Plattdütsch.

    Musik
    Hannes Wader
    ‚Hamburger Veermaster‘ (Trad.)
    CD: Hannes Wader singt Shanties, Mercury 9595657, LC 00268


    Das Meer ist grenzenlos und es verbindet – wer von der deutschen Ostseeküste aus, von Flensburg, Lübeck oder Rostock mit dem Boot aufbricht, ist schnell in Dänemark, Polen oder Schweden. Der Wind treibt ihn in andere Sprach- und Kulturregionen, aber mit einem Shanty auf den Lippen wird er überall verstanden.

    So verschieden die Regionen Deutschlands sind, so unterschiedlich die Dialekte und Klangfarben, so finden sich natürlich auch viele Gemeinsamkeiten. Der Steigermarsch etwa wird überall dort gesungen, wo es Bergbau gibt oder gab. Und schon wird die Spurensuche schwierig und interessant, denn viele Regionen reklamieren das Lied für sich. Aber der Steigermarsch ist mitnichten im Ruhrgebiet oder im Saarland entstanden, sondern im Erzgebirge, mit Wurzeln, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Hinweise auf die regionale Herkunft lassen sich in den Strophen allerdings nicht finden, vielmehr geht es um das, was alle Bergleute vereint, um die Arbeit in ewiger Nacht und den Gedanken an die Liebste, der diese gefährliche Tätigkeit vielleicht etwas erträglicher gemacht hat. Das Lied ist Ausdruck der einfachen Leute. Die Musiker Christoph Rottloff und Stefan Gerlach erklären, dass die Bodenschätze des Erzgebirges das nördlich gelegene Sachsen reich gemacht haben, nicht aber die Bergregion selbst.

    "Die Großen haben es abgeschöpft, wie das immer so war, der kleine Bergmann hat nicht viel gehabt, Geld hatten sie nicht, dann haben sie sich in Lieder und Tradition zurückgezogen, ganzen Tag arbeiten, Musik gemacht, Geselligkeit, Bergbau, da musste sich ja jeder auf den anderen verlassen."

    Dieser Zusammenhalt ist in vielen Liedern des Erzgebirges bis heute spürbar. Nicht nur bei den Arbeitern des Bergbaus. Denn das Mittelgebirge ist gerade in den höheren Regionen eine unwirtliche Gegend, die die Menschen von jeher zusammenrücken ließ. Nicht von ungefähr kam Anton Günther, der bekannteste Lieddichter des Erzgebirges, aus der kleinen Stadt Gottesgab, die mit über 1000 Meter als höchste Stadt Mitteleuropas gilt. Heute gehört Gottesgab, bzw. Bozi Dar, zur tschechischen Republik und ist einer der bekanntesten Wintersportorte des Landes. Zu Zeiten von Anton Günter, der von 1876 bis 1937 lebte, gab es dort nur etwas Holzwirtschaft. Wohl auch deshalb hat Günter als junger Mann seine Heimat Richtung Prag verlassen. Dort, erzählt sein Enkel, ist dann sein erstes bekanntes Lied entstanden, Daheim ist Daheim.

    Musik
    Anton Günther
    Derham is Derham (Günther)
    CD: 50 Heimatlieder, Glück auf 2542-2, LC 09611


    "Heimweh ist ja eine Krankheit. Wenn er von einem Ort in den anderen gegangen ist, 32 Kilometer, da hatte er schon Heimweh. Er war auch in Prag, da ist sein erstes Lied entstanden, "Dahoim ist Dahoim" 1898. Ich bin fest überzeugt, es ist aus Sehnsucht entstanden, nach Gottesgab, den Freunden der Familie, alles was dazugehört- da haben sich die Gottesgaber in Prag zusammengefunden, das war ja fröhlich und lustig, wie es bei jungen Leuten ist, wenn es dann aber abends geworden ist, aber der Gedanke nach Gottesgab ging, da dachte er "Dahoim ist Dahoim""

    Heimweh als Krankheit, aus der immerhin schöne Musik entstehen kann. Die musikalischen Impulse, die vom Erzgebirge und den angrenzenden Regionen Böhmen und dem Vogtland ausgehen, sind kaum zu überschätzen. In Marktneukirchen werden seit Jahrhunderten hochwertige Geigen und andere Holzinstrumente gebaut; die Akkordeonwerkstätten Klingenthals gelten als die besten der Welt und Gottfried Silbermann, einer der bedeutenden Orgelbauer der Barockzeit, kam ebenfalls aus dem Erzgebirge.

    Der Rotschwanz - eine vor allem in waldigen Gebirgsregionen verbreitete Vogelart. Er hat die Angewohnheit, früher als andere Vögel aus seinem Winterurlaub im Süden zurück nach Mitteleuropa zu kommen. Bist Du auch schon da? Fragt er dann seine Kollegen, wenn sie kommen. Bist du a scho da? heißt das in breitem erzgebirgischen Dialekt. Rodel Vodel sagt, dass Naturbeobachtungen wie diese typisch für die Musik des Erzgebirges seien. Er ist einer der letzten großen Mundartsänger der Region.

    Zwischen harter Arbeit und urwüchsiger Natur bewegte sich jahrhundertelang der Alltag abgeschiedener Regionen und davon erzählen ihre Lieder. Wenn man das Erzgebirge Richtung Nordwesten verlässt, gelangt man nach Thüringen: Hier öffnet sich ein anderer Raum, nicht weniger prägend, ein Kulturraum. In Städten wie Weimar schwingt immer etwas Romantik mit.

    Musik
    Bobo
    Todesstille (Goethe)
    CD: Lieder von Liebe und Tod, Traumton 4504, LC 05597


    Für die Popsängerin Bobo, die ursprünglich aus Gräfenhainichen stammt, ist die Romantik den Menschen in Thüringen und Sachsen-Anhalt in die Gene eingeschrieben. Die Musik von Schumann über Schubert bis Brahms habe sie mit der Muttermilch aufgesogen, dazu die Gedichte von Eichendorff und Heine. Seit einigen Jahren befasst sie sich intensiv mit den Wörtern und Melodien ihrer Heimat und rückt die alten Themen in ein neues, modernes Licht. Denn bei aller Liebe zu ihrer Sprache stellt sie fest:
    "Das ist das Schwierige am Deutschen, weil es zu schwerfällig ist, deshalb mögen es auch viele nicht, weil es nicht so diese Leichtigkeit hat, das ist nicht so unsere deutsche Ureigenschaft."

    Ein Hauch von Melancholie liegt in vielen alten Volksweisen, ob das jedoch eine typisch deutsche Eigenschaft ist? So oder so wird die überreiche Tradition, die aus der Mitte Deutschlands kommt, von Bach bis Schubert, vom Kirchenlied über die Klassik bis zum vermeintlich einfachen Volkslied, in jüngster Zeit wieder neu entdeckt und - wie Bobo zeigt - in unsere Zeit übersetzt. Dass aber die deutsche Seele nicht nur schwermütig oder melancholisch ist, wird jeder schnell feststellen, der mit Rucksack und Wanderstock durch die Landen zieht. Südöstlich von Thüringen, nach Überschreiten der alten innerdeutschen Grenze, erwartet einen das Frankenland. Es gilt als Region mit der höchsten Brauereidichte weltweit. Nicht selten kommt man durch kleine Ortschaften mit zehn Häusern und zwei Gasthöfen, die jeweils ihr eigenes Bier brauen. Traurigkeit kommt da nicht auf.

    Im Brauerei-Gasthaus "Zum Välta" steigt die Stimmung, jeden Freitagabend gibt es in dem kleinen Appendorf bei Bamberg Hausmusik zum Mitmachen. Das Wirtshausmusizieren ist in ganz Bayern bekannt, der Abend in Appendorf allerdings genießt einen ganz besonderen Ruf. Verantwortlich dafür ist ein rüstiger alter Herr, der Besitzer von Brauerei und Gasthof, Edmund Fößel. Sein Bier ist selbst gebraut und süffig, wer als Musiker sein Instrument nicht dabei hat, kann sich in einem kleinen Raum im hinteren Teil des Gasthauses eines aussuchen. Dort stehen, liegen und hängen rund 500 Instrumente, die Fößel im Laufe seines Lebens gesammelt hat. Die meisten von ihnen kann er auch selber spielen.

    "Jeden Freitag spielt bei uns die Musik, alles lacht und singt, da schaffen wird den heiligen Freitag auch, das ist mein Elternanwesen, da lauf ich schon 80 Jahre rum, da haben wir uns reingesteigert, die kommen aus der ganzen Gegend, das läuft einwandfrei."

    Schön ist es nicht immer, wenn diverse Akkordeonisten und verschiedene Blasinstrumente gemeinsam mit dem halben Gasthaus eine bekannte Volksweise anstimmen. Aber darauf kommt es ja auch nicht an. Wer nach Appendorf kommt, hat genug vom Musikantenstadl im Fernsehen, dem fehlen Schweiß und Tränen, dem fehlen echte Menschen:

    "Es kommt immer mehr Wirtshaussingen auf, da kommen da die Leut', die Leute freuen, die sand fernsehmüde, da kann man mal reden mit jemandem."

    "Die Musik, da kann man sicher erholen, das ist Medizin."

    "Ich hab Schmerzen im Bein, wenn ich hier bin, dann tut es nicht weh. Musik ist gesund"

    Musik als Medizin, bei einem Bier in geselliger Runde. Auch das ist Volksmusik.
    Vom Alpenrand bis zum Nordseestrand, vom Kunstlied bis zum Gassenhauer, gesungen wird da, wo Menschen zusammen kommen. Es ist eine anthropologische Konstante, in die die jeweiligen Eigenheiten einer Region einfließen. Die kann man auf verschiedene Arten erfahren. Beim Wandern durch die Natur, beim Einkehren in urwüchsige Gasthöfe, aber auch auf den Straßen der größeren Städte. Überall kann man sie riechen, schmecken, fühlen und man kann sie hören.