Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Heimkehrer-Roman von Carleton
Wiederentdeckung eines interessanten Zeitdokuments

In dem Roman "Zurück in Berlin" begleitet eine junge Amerikanerin einen Exil-Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück nach Deutschland. Die Geschichte basiert auf den Erfahrungen der Rückkehrerin und Fotografin Gisèle Freund. Sie war vor der NS-Verfolgung aus Deutschland geflohen. Dieses spannende Zeitdokument ist erneut auf Deutsch erschienen.

Von Julia Schröder | 25.10.2016
    1.8.1958, Berlin Gedächtniskirche, zwischen Breitscheidplatz und Kurfürstendamm.
    Der Roman "Zurück in Berlin" von Verna B. Carleton ist auch eine von Zeitkolorit gesättigte, historische Momentaufnahme der Frontstadt Berlin. (imago/Gerhard Leber)
    Als Eric Devon nach zwei Jahrzehnten zum ersten Mal wieder deutschen Boden betritt, glaubt er zu wissen, was ihn erwartet: Wirtschaftswunder und Wiederbewaffnung, alter und neuer Nationalismus - und lauter Deutsche, die mit den Untaten der Nazis nichts zu tun gehabt haben wollen. Es ist das Jahr 1956. Der Mittvierziger aus London versucht, dem eigenen Trauma auf die Spur zu kommen: Als junger Widerständler ging er 1934 ins Exil, in Großbritannien baute er sich eine neue Existenz auf - als Brite. Das aber bedeutete für Eric Devon auch, dass er seinen deutschen Namen Erich Dalburg ebenso wie seine Muttersprache aufgab. Alle Erinnerungen an Deutschland kapselte er tief in sich ein. Ein Schlüsselerlebnis löst die Wiederkehr des Verdrängten nach 20 Jahren aus, die Folge ist der psychische Zusammenbruch. Und Eric reist zurück nach Berlin.
    Wiederentdeckung eines interessanten Zeitdokuments
    "Back to Berlin" - so lautet der Originaltitel des 1959 veröffentlichten Romans der amerikanischen Journalistin Verna B. Carleton, dessen deutsche Übersetzung "Zurück in Berlin" der Aufbau Verlag jetzt als Ausgrabung eines zeitgeschichtlichen Dokuments präsentiert. Das stimmt. Und stimmt doch auch wieder nicht:
    Carletons Roman ist nämlich bereits 1962, also kurz nach seiner Entstehung, erstmals auf Deutsch erschienen. Die Schriftstellerin Ulrike Draesner, die jetzt die Neuübersetzung herausgegeben hat, verschweigt dies im Nachwort auch gar nicht. Dennoch kann man kann die Neuausgabe von "Zurück in Berlin" heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, als Wiederentdeckung eines interessanten Zeitdokuments feiern. Aber er ist nicht nur das, sondern auch ein spannendes Leseerlebnis.
    Der erzählerische Kniff der Autorin Verna Carleton besteht darin, dass sie nicht ihren traumatisierten Helden Eric Devon selbst seine Geschichte erzählen lässt, sondern eine namenlose Reisebekanntschaft, eine Amerikanerin, die das Land der ehemaligen Feinde einmal mit eigenen Augen anschauen möchte.
    Diese Amerikanerin lernen die Eheleute Eric und Nora Devon gleich zu Beginn des Romans während der Schiffsüberfahrt von Florida nach Europa kennen. Die neue amerikanische Freundin wird Zeugin der zunächst rätselhaften Seelenqual, in der das sympathische Paar gefangen scheint, ja, sie wird - ungewollt - sogar zum Katalysator von Erics schmerzhaftem Weg zurück zu sich selbst. Nachdem Eric ihr das sorgsam gehütete Geheimnis seiner deutschen Herkunft eingestanden hat, begleitet sie die Devons fortan nach London, nach Köln, Bergen-Belsen und schließlich nach Berlin.
    Heimkehrer-Roman mit wohltuend nüchternem Ton
    Durch diese unvoreingenommene Erzählerin gewinnt Carletons Heimkehrer-Roman einen wohltuend nüchternen Ton. Als US-Amerikanerin weiß sie zwar um die Gräuel der NS-Zeit wie um die Schrecken des Krieges, aber sie kennt sie nur aus der Ferne - ganz im Unterschied zum traumatisierten Exilanten Eric Devon, der immer wieder zwischen Selbsthass, Zorn, Trauer und vorsichtig aufkeimender Hoffnung hin und hergerissen ist. Als Chronistin schildert sie etwa Erics Zusammenstoß mit dem munteren, schon wieder nationalstolzen Kölner Elektrohändler Grubach:
    "Grubach wurde rot (…) ,Ich weiß, wie Sie sich fühlen’, sagte er gefasst und mit respektgebietendem Ernst. ,Mein Vater fiel im Ersten Weltkrieg. Ich war erst siebzehn, als ich an die Front musste. (…) Der Krieg hat keinen von uns verschont. Wohin ich auch komme, die Menschen wollen vergessen und in Frieden leben. Können nicht auch wir vergessen (…), dass Sie Brite sind und ich Deutscher bin? Müssen wir denn auf ewig verfeindet bleiben?’(…) Eric sah Grubach an, ohne ihn zu sehen. Als er endlich seine Sprache wiederfand, bebte sein Körper, und nur widerstrebend brachte er gequält die Worte über die Lippen: ,Herr Grubach’, sagte er voller Verachtung, ,wir deutsche Juden werden niemals vergessen.’" (Zitat)
    Die Zeugin dieser Szene, die zwar anteilnehmende, vor allem aber beobachtungsstarke amerikanische Erzählerin, darf man getrost mit der Autorin gleichsetzen. Verna Carleton, Jahrgang 1914, Enkelin einer Deutschen, aufgewachsen in New York, polyglott und psychoanalytisch beschlagen, hatte einen mexikanischen Arzt geheiratet und war mit ihm 1933 nach Mexiko-City gegangen; ihre Trauzeugen waren keine Geringeren als Frida Kahlo und Diego Rivera. In den Vierzigern begegnete sie der deutschen Fotografin Gisèle Freund, die vor der NS-Verfolgung nach Lateinamerika geflohen war. Fortan verband eine enge Freundschaft die beiden Frauen, 1957 reisten sie gemeinsam nach Deutschland. Es sind Gisèle Freunds Erfahrungen bei ihrer Rückkehr aus dem Exil, die Carleton in "Back to Berlin" - Untertitel "An Exile Returns" – verarbeitet hat.
    Wie viele NS-Versehrte kann er sein Leid nicht mitteilen
    Ulrike Draesner hat diese biografischen und historischen Hintergründe recherchiert und in ihrem Nachwort verdienstvollerweise herausgearbeitet. Vor allem aber betont Draesner, was Carleton mit ihrem Roman literarisch leistete:
    "Zurück in Berlin" ist nicht nur eine von Zeitkolorit gesättigte, historische Momentaufnahme der Frontstadt Berlin zwischen Trümmerbeseitigung und Mauerbau. Carleton porträtiert hierin auch treffsicher die alten Nazis, die neuen Unbelehrbaren, die Propagandisten des Wirtschaftswunders und der Wiederbewaffnung, die halbstarken Nachgeborenen und die wenigen Standhaften, die moralisch integer geblieben waren.
    Mit Eric Devon, der sich langsam und unter Schmerzen zurückverwandeln kann in Erich Dalburg, erschafft Carleton darüber hinaus einen exemplarischen Deutschland-Heimkehrer. Wie so viele NS-Versehrte kann er sein Leid nicht mitteilen, er hat große Teile seiner Verwandtschaft verloren, und ihm fehlt buchstäblich die Hälfte seines Lebens. Die daraus folgende traumatische Störung wie Erics allmählich einsetzende seelische Erholung beschreibt Carleton eindringlich und nachvollziehbar.
    Unerwartete Wendungen
    Zu diesem Prozess trägt auch die Beseitigung fataler Missverständnisse bei. So hatte der 24-jährige Erich, als er im letzten Augenblick aus Berlin abhauen konnte, vieles falsch eingeschätzt. Die ehedem geliebte Tante Rosie etwa hatte er als feige Profiteurin des NS-Regimes abgeheftet - dabei hat sie, wie Eric zum Glück nicht zu spät erfährt, auf kluge und aufopfernde Weise die Stellung gehalten, um ihrem Neffen das väterliche Erbe zu sichern. Erics Cousine Käthe wiederum, die sein Exilschicksal teilt, tut sich schwer, ihrem Vertrauten aus Kindertagen zu verzeihen, dass er bei seiner Flucht die gemeinsame Widerstandsgruppe im Stich ließ.
    Diese unerwarteten Wendungen bewahren den Roman davor, in simple Schwarz-Weiß-Malerei abzugleiten. Zugleich beweist Verna Carleton ein geradezu hellsichtiges Gespür für die politische Großwetterlage vor dem Mauerbau.
    "Irgendwann auf unserer bedrückenden Suche gelangten wir an den Potsdamer Platz, dieses Fadenkreuz der Besatzungsmächte, den zentralen Grenzpunkt zwischen Ost- und Westberlin. Touristen konnten ihn offensichtlich unbehelligt zu Fuß passieren, während Wachleute auf beiden Seiten jedes private Fahrzeug anhielten und nach Schmuggelwaren durchsuchten. (…) Da war sie, die vielbeschriebene geteilte Stadt, die Spaltung menschlicher Schicksale in zwei Welten, jede mit eigener Regierung, eigener Währung, eigener Gesellschaftsform. Es war offensichtlich, dass das auf Dauer nicht gut gehen konnte." (Zitat)
    Kein Meisterwerk, dennoch aufwühlend
    Die Übersetzerin Verena von Koskull arbeitet mit wohltuendem Gespür für die Ausgangs- wie die Zielsprache der Entstehungszeit des Romans. Ein Meisterwerk avancierten Erzählens, das wird auch in ihrer Übersetzung spürbar, ist "Zurück in Berlin" freilich nicht. Der Journalistin Carlton war es nicht um brillante Kabinettstückchen zu tun. Sie setzte auf die Wirkung von Dialog und Szene, auf psychologische Stimmigkeit und einen spannungsvollen Aufbau der Handlung. Auf diese Weise entsteht das Bild einer ungefestigten, geschichtsvergessenen deutschen Nachkriegsgesellschaft, die uns heutigen Lesern immer wieder aufwühlend nah kommt.
    Verna B. Carleton: "Zurück in Berlin". Übersetzt von Verena von Koskull und herausgegeben von Ulrike Draesner, Aufbau Verlag, 391 Seiten, 22.95 Euro.