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Heimweh nach Nirgendwo

Vesna Goldsworthy hat Glück gehabt. Denn die Krebsdiagnose, die sie im Alter von 42 Jahren aus heiterem Himmel mitten im erfüllten Berufs- und harmonischen Familienleben traf, klang definitiv. Ob die Erdbeeren aus dem Tschernobyl-Jahr daran schuld waren, die sie zu herrlicher Marmelade verkocht und gegessen hat, bleibt offen und angesichts der Diagnose unerheblich.

Von Eva Schobel | 20.02.2006
    Der Brustkrebs, sagt man ihr, sei in einem fortgeschrittenem Stadium und habe bereits Knochenmetastasen gebildet. Die Krankheit soll nicht mehr behandelt, die junge Patientin lediglich schmerztherapiert werden. Doch dann bringt eine weitere Untersuchung Entwarnung: Doch keine Metastasen.

    Die Heilkunst der Ärzte war genauso gefordert wie die Willenskraft von Vesna Goldsworthy, die sich umgehend ans Schreiben machte. Der Krebs, der möglicherweise zum Tode führen konnte, war also der Schreibimpuls.

    Doch obwohl die Krankheit in jeder Zeile ihres unsentimentalen Buchs präsent bleibt, wird die Autorin nicht müde zu betonen, dass der Krebs keineswegs das zentrale Thema ihrer Autobiographie ist. Sie hat ihre Lebensgeschichte geschrieben, vor allem für ihren zweijährigen Sohn, dem sie nicht als "englische Patientin", sondern als fröhliche, kluge und humorvolle junge Frau in Erinnerung bleiben wollte, die aus einem ziemlich exotischem Land kommt, das von der Landkarte verschwunden ist.

    Und dann gab es noch ein weiteres Schreibmotiv. Denn fantastische Krebs-Memoiren, von topfitten Kranken, die mit Metastasen im Leib den Mount Everest erklimmen, sind zwar realitätsfremd, aber en vogue in Großbritannien

    Der definitive Schreibanlass war die Krankheit. Die Schreibmotivation aber reicht weiter zurück. Es sind nicht die harmonischen, katastrophenfreien Leben, die Menschen zum Schreiben bringen, es sind die Brüche und Widersprüche, die manche literarisch verarbeiten wollen oder müssen. Widersprüche, die hier lange vor Ausbruch der Krankheit aufbrechen, aber erst dadurch bewusst und in der Autobiographie so selbstkritisch wie ironisch reflektiert werden.

    Vesna Goldsworthy ist als wohlbehütetes und selbstbewusstes Mädchen in einer gut situierten Belgrader Familie aufgewachsen. Die Eltern, zwei aufgeschlossene Yuppies, die ihren beiden Töchtern alles an Wohlstand und Bildung angedeihen lassen, was in Tito-Jugoslawien möglich war. Als liberale Geister liegen sie im ständigen Clinch mit der eigenen Elterngeneration, die tradierte Werte hoch hält und die Menschen, nach ihrem Glauben oder ihrer Herkunft in Freund und Feind einteilt.

    Vesna hingegen hat den Eindruck in einem modernen, weitgehend vorurteilsfreien Land aufzuwachsen. Von Spannungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten merkt sie schon deshalb wenig, weil sie in keiner multiethnischen Umgebung lebt. Der Vielvölkerstaat Jugoslawien erscheint ihr ewig und wird immer da sein, auch wenn sie ihn, der Neugier und der Liebe wegen, mit 20 Jahren verlässt.

    Aber dann – zehn Jahre nachdem sie ihrem Land den Rücken gekehrt hat, kommt der Krieg, den sie aus der Ferne miterlebt. Um Nacht für Nacht als Radioreporterin für BBC-world in serbischer Sprache davon berichten zu können, muss sie ein großes Verdrängungspotential aufbringen. Als sie mehr Worte für "Sterben" kennt als die Inuit für "Schnee" hängt sie ihren Job an den Nagel. Unhinterfragt hat sie sich zehn Jahre lang als polyglotte Londonerin gefühlt, die aus Jugoslawien kommt, auch wenn sie die höflichen Engländer nicht als eine der ihren, sondern als assimilierte Ausländerin akzeptiert haben. Jetzt erlebt sie von auswärts die Zersplitterung ihres Heimatlandes und wird auf eine Herkunft zurückgeworfen, die ihr entzogen wurde. Denn Jugoslawien existiert nicht mehr. Im reflektierenden Schreibprozess zieht sie eine Parallele zwischen der Zerstörung ihres Landes und der Zerstörung ihres Körpers und macht sich auf die Suche nach einer neuen, weniger illusorischen Identität.

    Ihre Autobiographie, sagt Vesna Goldsworthy, sollte ihre Entwicklung und ihre Identitätssuche dokumentieren, Niederlagen und Fehler eingeschlossen. Ein herzerfrischendes Porträt jener privilegierten und vielleicht ein wenig naiven serbischen Prinzessin wollte sie hinterlassen, der es trotz der Krankheit gelungen war, zu sich selbst zu finden. Und ein persönliches Erinnerungsbild ihrer osteuropäischen Heimat über das im Westen so viele Stereotypen kursieren. Was sie keinesfalls schreiben wollte, sei ein politisches Buch. Aber – so die resignierte Einsicht – man könnte als Serbin in Alaska leben oder eine Landschaft beschreiben, es wird als politische Äußerung verstanden werden.

    Eine Bürde sei es gewesen, sagt Vesna Goldsworthy, der politischen Realität nicht zu entkommen. Was hätte sie von England aus schon zum Krieg in ihrer Heimat sagen können, außer dass sie Engländerin sei, die auch nicht mehr wisse als die anderen. Doch je mehr sie sich die Geschichte vom Leib halten wollte, desto mehr sei sie davon eingeholt worden.

    Auch wenn es nicht die Absicht der Autorin war – es ist die große Stärke dieses Buchs, dass es die persönliche und politische Geschichte unverkrampft miteinander verbindet. In einer frischen Sprache, die der eigenen Position selbstironisch auf den Grund geht, bildet sich tatsächlich so etwas wie eine neue Identität, die Widersprüche nicht verleugnet, sondern produktiv verwertet. Die Identität einer Person, die politisch korrekt anerkennt, dass die Hauptkriegsschuld bei den Serben liegt und sich trotzdem eingesteht, mehr mit den Leidtragenden der eigenen Volksgruppe zu fühlen als denen der anderen. Eine doppelte Identität als Serbin und als Engländerin, die weiß, dass sie ihre Außenseiterposition vor falschen Gewissheiten schützt.

    Vesna Goldsworthys Autobiographie ist damit allerdings ebenso wenig ausgeschöpft, wie ihr literarisches Talent. In der Tradition Susan Sonntags arbeitet sie an einer Studie, die thematisiert, wie die Wahrnehmung der Krebserkrankung die ästhetische Sicht auf den Köper verändert, und an einem Emigrantenroman. Denn die Geographie, sagt sie, sei ihr Schicksal. Aber der Verlag und die Leser müssen warten. Denn diesmal hat sie das Gefühl jede Zeit der Welt zu haben.