Dienstag, 19. März 2024

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Heinrich Böll im Westen Irlands
Grüß' die Lieben in Mayo

An der Küste im äußersten Westen Irlands, im County Mayo, hat vor 60 Jahren Heinrich Böll seine zweite Heimat gefunden. Die dort begonnenen irischen Erzählungen wuchsen später zu seinem "Irischen Tagebuch" zusammen. Es hat Millionen Menschen bewegt, vor Ort nach den Böllschen Schauplätzen zu suchen.

Von Jule Reiner | 23.07.2017
    Rene Böll, Sohn von Heinrich Böll (1917-1985), zeigt am Freitag (13.02.2009) im Historischen Archiv der Stadt Köln ein Familienbild aus dem Jahr 1958, aufgenommen in Irland.
    Heinrich Bölls Sohn Rene zeigt 2009 im Historischen Archiv der Stadt Köln ein Familienbild aus dem Jahr 1958, aufgenommen in Irland. (dpa/ lnw/ Rolf Vennenbernd)
    Über der aufgerauten See vor der Bucht von Keel fließen pastose Schichten aus Blau ineinander. Achill Island scheint aus einer ungeheuren Bläue gemacht zu sein. Die Bucht, eine weite Sichel aus weißem Sand, schimmert wie ein Halbmond vor den heranrauschenden Wassermassen. Und über einer Kette aus schwarz gezackten, schroffen Klippen spannt sich ein doppelter Regenbogen. Wie ein Band pastellfarbener Notenlinien, aus denen die Töne alter Folksongs rieseln, um sich zu immer neuen Melodien zusammenzufügen. So sieht einer dieser herrlichen D-Dur Tage aus, an denen der getragene Grundton der Uilleann Pipe über dem Blau des Atlantiks zu schweben scheint.
    Angekommen im äußersten Westen Irlands, in Keel, einem Nest mit weiß-grauen Cottagehäuschen, deren rote und blaue Fensterrahmen wie Einfassungen für die Ozeankulisse wirken. Vor uns liegen 4000 Kilometer Wasser bis Amerika. Hier an dieser Küste hat vor 60 Jahren der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll seine zweite Heimat gefunden. Er mietete sich mit seiner Familie für vier Monate in einem Cottage vor der phantastischen Bucht ein und begann, irische Erzählungen zu schreiben. Zunächst erschienen sie in loser Folge in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und später sollten sie zu jenem "Irischen Tagebuch" zusammenwachsen, das Millionen Menschen beeinflusst und dazu bewegt hat, nach den Böllschen Schauplätzen zu suchen, die immer auch Seelenlandschaften der Iren sind. Vom Zug aus beschrieb Böll die Fahrt quer durch die Mitte Irlands ins County Mayo als Reise in ein entvölkertes Land.
    "Ja, grün ist Irland, sehr grün"
    "Der Stechginster blühte, die Fuchsienhecken hatten schon Knospen; wilde grüne Hügel, Torfhaufen; ja, grün ist Irland, sehr grün, aber sein Grün ist nicht nur das Grün der Wiesen, auch das Grün des Moses, gewiss hier, hinter Roscommon, auf Mayo zu, und Moos ist die Pflanze der Resignation, der Verlassenheit. Verlassen ist das Land, es entvölkert sich langsam, aber stetig, und uns – keiner von uns hatte diesen Streifen Irland je gesehen, je das Haus besichtigt, das wir irgendwo im Westen gemietet hatten -, uns wurde ein wenig bang. (...) Nun haben die Iren eine merkwürdige Gewohnheit; wenn der Name der Provinz Mayo genannt wird (es sei lobend, tadelnd oder unverbindlich), sobald nur das Wort Mayo fällt, fügen die Iren hinzu: 'God help us!'"
    Schon einmal sind wir vor zehn Jahren auf den Spuren von Bölls "Irischem Tagebuch" gereist. Und damals wie heute war unser Weg nach Achill Island von implosivem Sonnenschein begleitet, der das weite leere Land im Westen in übernatürliche Schattierungen von Grün taucht. In grellen Diskanttönen schillert dann die Torfheide, dazwischen die Glissandi des ewigen Stechginsters und Dreiklänge aus violetten Wolken von Rhododendron und dem flockigen Strahlen steinalter Weißdornbäume. Und je näher wir dem offenen Meer kamen, legte sich das getragene D-Dur der Uilleann Pipe über die Wiesen und die braunen Moore, auf denen die gestochenen Torfbriketts zu kleinen Pyramiden gestapelt lagen. So war es vor zehn Jahren und so geschieht es jetzt wieder. Achills wilde Schönheit ragt in der Ferne als blaue Silhouette mit seinen drei mächtigen Bergen auf - dem Minaun, dem Slieve Mór und dem Croaghaun. Und bei der Einfahrt nach Keel liegt da noch immer der absurde kleine Golfplatz vor der weißen Sichel der Bay, den niemand je bespielt. Nur ruhende Schafe sprenkeln ihn wie Dotterkleckse.
    Vor den Cottage-Appartements des Bervie Guest House, wo einst auch die Bölls ankamen und ihr Cottage bezogen, rollt sanfte Dünung in glitzerndem Blau heran. Auch der Mini Einkaufsladen um die Ecke, die hübsche Kaffeebar The Beehive, der Bienenkorb, und ein Souvenirshop sind da wie in alten Tagen. Nur das schönste Pub Irlands, das Minaun View, das über Generationen hinweg auf den Hausberg schaute, hat blinde Fensterscheiben bekommen und liegt jetzt armselig an der Dorfstraße.
    Freitags und samstags gab es im Minaun View live Musik wie seit Jahr und Tag. In der zeitlosen Dekoration aus alten Werbetafeln für Player Zigaretten und Guinness und den Portraits irischer Revolutionäre und Märtyrer konnten sich hier noch immer einige Figuren aus Bölls Erzählungen versammeln. Der durstige Seamus, der immer über den Berg in den Nachbarort musste, weil er nach dem Pubgesetz dort als Fremder galt und länger trinken durfte. Oder Padraic, der nach dem fünften Bier wissen wollte, ob Böll nicht alle Iren für halb verrückt hält. Auch die Moorbauern, Torfstecher, der pensionierte Oberst und der Briefträger, die im Pub mühelos eine klassenlose Gesellschaft bildeten, waren mit von der Partie, wenn es darum ging, der Zeit einen langen Atem des gemeinsamen Vergnügens einzuräumen.
    Tee, so schwarz wie die vom Torf getränkten Flüsse
    "Als Gott die Zeit machte", so steht es im "Irischen Tagebuch", "hat er genug davon gemacht". Das mag für die großen Städte des Landes jetzt nicht mehr zutreffen. Auch dort ist die irische Zeit knapper geworden. Aber im schummrigen Minaun View, während draußen die Abenddämmerung in die Farbe des Atlantiks überging, gab es die Zeit noch im Überfluss. Die Pints of Guinness kamen mit einem feinsäuberlich in den cremigen Schaum gedrückten Muster des Shamrock, des irischen Kleeblattsymbols auf den Tresen. Und zur Sperrstunde haben wir mit den letzten Gästen stehend und die Hand auf dem Herzen die irische Nationalhymne mitgesummt. Da schienen die Märtyrer in ihrer Bildergalerie über dem Tresen heimlich zu grinsen.
    Es ist bekannt, dass man in Irland nicht gerne früh aufsteht. Wahrscheinlich hat es etwas mit dem wechselhaften Wetter zu tun, das uns um 7 Uhr früh unvorbereiteter trifft, als nach einem Full Irish Breakfast um neun. Nach einem starken Tee, der so schwarz ist wie die vom Torf getränkten Flüsse, nach Spiegeleiern, gebratener Leber- und Blutwurst – dem Black- and White Pudding – oder nach Rührei mit Lachs und Pfannkuchen mit Ahornsirup und einem guten Gespräch hat die Sonne schon den Morgentau von den Wiesen geleckt. Und nach einer Lesezeit im Kaminzimmer hat man sich auch wieder für sein Lieblingskapitel in Heinrich Bölls Werk entschieden. "Die schönsten Füße der Welt", heißt es und beschreibt eine besondere Fahrt um den von hohen Klippen gesäumten, gefährlichen Südwestbogen von Achill. Eine junge Arztfrau zeichnet diesen Weg in einer Nacht auf einer Landkarte nach, die im Flur ihres Hauses hängt. Mit einem silbern lackierten Fingernagel, wie ein kleines glitzerndes Automodell, fährt sie die Strecke durch den waghalsigen Teil des Atlantic Drive ab. Dort, wo ihr Mann jetzt unterwegs ist und wo die menschenleeren Meilen aus Moor die winzigen Dörfer trennen wie Inseln im Atlantiksturm.
    "Dunkelbraun ist hier die Karte, die Küstenlinie ausgezackt und unregelmäßig wie das Kardiogramm eines unruhigen Herzens, und jemand hat mit Kugelschreiber in die blaue Meerfarbe geschrieben: 200 Fuß – 380 Fuß – 300 Fuß, und jede dieser Zahlen ist mit einem Pfeil versehen, der verdeutlicht, dass diese Angaben nicht der Meerestiefe gelten, sondern dem Gefälle der Küste, die an diesen Stellen mit dem Weg zusammenfällt. Immer wieder stockt der silbern lackierte Zeigefingernagel, denn die junge Frau kennt jeden Schritt dieses Weges: oft hat sie ihren Mann begleitet, wenn er Krankenbesuche machte in dem einzigen Haus, das dort an dem sechs Meilen langen Küstenstreifen liegt. Touristen genießen diese Fahrt an sonnigen Tagen mit leichtem Schauder, da sie auf einige Kilometer vom Auto aus senkrecht auf die weiß züngelnde See blicken; eine kleine Unachtsamkeit nur, und das Auto erleidet Schiffbruch an diesen Klippen dort unten, wo manches Schiff schon zerschellt ist. Nass ist der Weg, mit Geröll übersät, mit Schafdung bedeckt an den Stellen, wo sich die alten Trampelpfade der Schafe mit dem Weg kreuzen – plötzlich stockt der Zeigefingernagel: hier fällt der Weg in eine kleine Bucht hinein steil ab, steigt wieder an: die See brüllt in eine Canon-artige Schlucht hinein; Millionen Jahre alt ist diese Wut, die sich schon tief unter den Felsen gefressen hat."
    Wenn die Wolken wieder einmal in Windeseile davonziehen
    "Sie blickt noch einmal auf die Uhr: fast halb zwei; sie geht zum Fenster, blickt auf die nackte Münze des Mondes, die weiter auf das westliche Ende der Bucht zugewandert ist; plötzlich die Scheinwerferkegel vom Auto ihres Mannes: hilflos wie Arme, die keinen Halt finden, turnen sie am grauen Gewölk herum, senken sich – das Auto hat die Steigung also fast genommen -, schießen über die Höhe erst auf die Dächer des Dorfes, senken sich auf die Straße: zwei Meilen Moor noch, das Dorf und die Hupe, dreimal und wieder: dreimal, und alle Leute im Dorf wissen es: Mary McNamara hat einen Jungen geboren, pünktlich in der Nacht vom 24. auf den 25. September; jetzt wird der Postmeister aus dem Bett springen, die Telegramme nach Birmingham, Rom, New York und London aufgeben; noch einmal die Hupe, für die Bewohner des Oberdorfs: dreimal: Mary McNamara hat einen Jungen geboren."
    Aber was für ein Weg ist der Atlantic Drive bei Tag, wenn die Wolken wieder einmal in Windeseile davonziehen und sich der Süden von Achill als eine nahezu mediterrane Garten- und Meereslandschaft offenbart. Dieses Grün nun ist aus Ölfarbe angemischt und dick aufgetragen. Es umschlingt einige Meilen einer neu aus dem Boden gestampften Siedlung mit Ferienappartements, ehe sich die Straße wieder in der Weite der Moorheide verliert. Dann kommen die Warnschilder mit der Aufschrift "Caution – steep cliffs", jene Stellen, an denen das Meer die steilen Klippen gehöhlt hat und kaum mehr drei Meter Grasnarbe zwischen Straßenrand und Abgrund liegen. Da stockt einem wahrhaftig der Atem. Zugleich möchte man jubeln über die Schönheit der Schöpfung.
    Teds Pub ist das größte auf der Insel in der Ortschaft Achill Sound. Es existierte schon zu Bölls Zeiten und es ist sonntags auch heute noch Treffpunkt der Männer, die die Pferderennen im Fernsehen verfolgen. Natürlich mischen sich jetzt auch junge Frauen mit hautengen Jeans und bauchfreien Pullovern ins Pub und junge Männer, die sich keine Schwielen mehr beim Torfstechen holen werden. Dennoch stehen die Lokalseiten der Wochenzeitung Mayo News wie eh und je voll mit solchen Meldungen, mit denen sich auch die junge Arztfrau in der Geschichte von den "Schönsten Füßen der Welt" die bange Wartezeit bis zur Rückkehr ihres Mannes vertreibt. Ein Spiegel von Achill gestern und heute.
    "Notes" heißen diese prall gefüllten Seiten mit Grüßen, Glückwünschen, Kurzgeschichten und Nachrufen für die Lieben in Mayo: Da ist Johnny Byrne aus Irishtown nach kurzem Leiden verstorben. Er war ein ruhiger und bescheidener Mann in der Farmergemeinde, hat hart gearbeitet in all den Jahren und war ein liebenswürdiger Nachbar, der Zeit für andere Menschen hatte und half, wann immer er konnte. Breege Flaherty aus Tulrahan hat beim Brickens Bingo den Jackpot mit 100 Euro gewonnen. Glückwunsch! Die Leserin Cathey Leneghan hat ein Foto von Kitesurfern geschickt, die am Mulranny Beach bei schönstem Wetter ihr Können vorführten. Und Großfoto: Der deutsche Botschafter, Matthias Höpfner, hat gemeinsam mit Mitgliedern der Achill Böll-Association für den deutschen Nobelpreisträger Heinrich Böll eine Gedenkplakette am ehemaligen Feriencottage in Keel enthüllt.
    Von einst 137 Cottages sind heute noch 80 sichtbar
    Einen Ort gibt es noch auf Achill Island, der sich seit Bölls Tagen auf der Insel nicht im Geringsten verändert hat. "Deserted village", eine verlassene Siedlung an den baumlosen Hängen des 800 Meter hohen Slieve Mór Mountain. Neben dem Minaun und dem Croaghaun ist auch er, wie Böll es formuliert hat, "wild und wie für den Hexensabbat geschaffen, mit Moor und Heide bedeckt".
    "Würde jemand das zu malen versuchen, dieses Gebein einer menschlichen Siedlung, in der vor hundert Jahren fünfhundert Menschen gewohnt haben mögen; lauter graue Drei- und Vierecke am grünlich grauen Berghang; würde er noch das Mädchen mit dem roten Pullover hinzunehmen, das gerade mit einer Kiepe voll Torf durch die Hauptstraße geht; einen Tupfer Rot für ihren Pullover und einen dunklen Brauns für den Torf, einen helleren Brauns für das Gesicht des Mädchens; und noch die weißen Schafe hinzu, die wie Läuse zwischen den Ruinen hocken; man würde ihn für einen ganz außerordentlich verrückten Maler halten: so abstrakt ist also die Wirklichkeit. Alles, was nicht Stein war, weggefressen von Wind, Sonne, Regen und Zeit, schön ausgebreitet am düsteren Hang wie zur Anatomiestunde das Skelett eines Dorfes: dort – 'sieh doch, genau wie ein Rückgrat' – die Hauptstraße, ein wenig verkrümmt wie das Rückgrat eines schwer arbeitenden Menschen; kein Knöchelchen fehlt; Arme sind da und die Beine; die Nebenstraßen und, ein wenig zur Seite gerollt, das Haupt, die Kirche ..."
    Die Siedlung selbst hatte keinen Namen, sie wird Slievemore genannt oder The Boley, von einer bestimmten Art der Häuseranordnung in Reih und Glied, in der Böll dieses "Skelett einer menschlichen Siedlung" ausmachte. Von einst 137 Cottages , Ein- oder Zweiraumhäuschen mit angebautem Stall, sind heute noch 80 sichtbar. Die Fundamente der Ruinen sind mit Moos gepolstert, die Moorheide sucht sich ihren Weg durch die Mauerritzen. Manche der Häuser haben Gesichter; zwei Fenster - die Augen; ein Türsturz - der aufgerissene Mund, der das Elend der Ausgewanderten zum Himmel schreit. Dort an der Wand muss das Küchenregal gewesen sein, in jenen Alkoven passte gerade ein Bett, dahinter im kleineren Anbau schliefen im warmen Dampf ihrer Körper die drei Ziegen und die eine Kuh, die sieben hungrige Menschen ernähren sollten. Doch die McGuires, McEwans, McDonnels und das Kind mit dem roten Pullover und der Kiepe kamen nie wieder. Vergessen sind sie deshalb nicht. Die verfallenden Häuser sind einfach nur dem Wind übergeben und damit einem langen Gedächtnis.
    Wir müssen langsam Abschied nehmen von Achill Island und der Ruhe dieser Tage. Wir sind den Minaun hinaufgefahren und haben auf seinem Gipfel wie im Vogelflug über die Torf- und Wasserlandschaft geschaut, weit bis Achill Head, dem letzten zerklüfteten Stück Land vor dem weltumspannenden Blau des Ozeans. Grandios die Schatten des Wolkenspiels, die halluzinogenen Sonnenfelder, der Regen, der plötzlich schräg herunterprasselt und das schon vor 5000 Jahren getan hat, damit der Torf wachsen und sich eine ganze Insel diesen grünen Pelz überziehen konnte. Nur noch ein Schauplatz wartet auf unseren Besuch, das Dorf Dugort, wo sich die Bölls 1958 ihr eigenes Cottage gekauft haben. In diesem Cottage entstand dann das "Irische Tagebuch". Heute lädt die Achill-Böll-Stiftung dort Gastliteraten aus Deutschland ein, die sich im recht puritanischen Ambiente, umgeben von Fotos aus Bölls Zeit und eingerahmten Faksimiles seiner Schriften und an einem original Torfholzkamin eine inspirierende Auszeit nehmen können.
    Ein halbes Jahrhundert ist nicht viel für solch ein altes Land
    Dugort ist winzig, besteht aus einer sehr alten Kopfsteingasse mit einigen Häuschen, die scheinbar zufällig dageblieben sind und sich amüsieren, wenn abends die Kühe und Schafe vorbeikommen, als wollten sie gleich an einem von ihnen die Türglocke schlagen.
    "Die alte Frau, die im Haus neben uns wohnte, wusste uns nicht zu sagen, wann das Dorf verlassen worden war: als sie ein kleines Mädchen war, um 1880, war es schon verlassen. Von ihren sechs Kindern sind nur zwei in Irland geblieben: zwei wohnen und arbeiten in Manchester, zwei in den Vereinigten Staaten, eine Tochter ist hier im Dorf verheiratet (sechs Kinder hat diese Tochter, von denen wohl wieder zwei nach England, zwei nach den USA gehen werden), und der älteste Sohn ist bei ihr geblieben: von weitem, wenn er mit dem Vieh von der Weide kommt, sieht er wie ein Sechzehnjähriger aus, wenn er dann um die Hausecke herum in die Dorfstraße einbiegt, meint man, er müsse wohl um die Mitte der Dreißig sein, und wenn er dann am Haus vorbeikommt und scheu ins Fenster hineingrinst, dann sieht man, dass er fünfzig ist."
    Eine Woche auf Achill, vier Monate auf Achill – die irische Zeit hat einen besonders großzügigen Bogen um die Insel gespannt. Und immer wieder öffnen sich darin Zeitfenster, in denen - je nach Stimmung, nach Wetter, nach Laune des Meeres - einer der Fortgegangenen die Lieben in Mayo grüßt, weil ein halbes Jahrhundert nicht viel ist für solch ein altes Land.