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Heinrich-Böll-Stiftung
Fragen nach der Verfasstheit der liberalen Gesellschaft

Einen Monat nach den Terroranschlägen in Paris haben Intellektuelle und Künstler aus Deutschland und Frankreich diskutiert, wie man die Werte der liberalen Demokratie gegen islamistische Strömungen verteidigt, ohne die anwachsende Islamophobie zu befördern.

Von Cornelius Wüllenkemper | 10.02.2015
    Die erste Ausgabe von "Charlie Hebdo" nach dem Anschlag zeigt eine Karikatur Mohammeds auf dem Titel
    Die erste Ausgabe von "Charlie Hebdo" nach dem Anschlag zeigt eine Karikatur Mohammeds auf dem Titel (imago stock&people)
    Aus den Schlagzeilen sind die blutigen Attentate gegen die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" vor einem Monat vorerst verschwunden. Frankreich sei jetzt damit beschäftigt, das Geschehen zu verarbeiten und mit verstärkter Militär- und Polizeipräsenz an sensiblen Orten neue Anschläge zu verhindern, sagte der französische Philosoph und Publizist Pascal Bruckner gestern in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung. Zuvor hatte die seit fünf Monaten amtierende Kulturministerin Frankreichs, Fleur Pellerin, in Berlin erklärt, wie die französische Regierung der offenbar zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung zu begegnen gedenkt:
    "Für Kulturvermittler ist es mit Sicherheit einfacher, die Werte zu vermitteln, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, als dies in abstrakten Seminaren der Fall wäre. In den kommenden Wochen werde ich unser neues Budget für Erziehungs- und Kulturpolitik vor allem in den Grundschulen der sozial schwierigen Viertel einsetzen. Es geht um Projekte im Kunstbereich, die Gemeinschaft stiften können und Schüler unterschiedlicher Herkunft zusammenbringen. Auch dem Umgang mit den Medien werden wir viel Aufmerksamkeit widmen: Wie gehe ich mit Informationen um, wie gewinne ich kritischen Abstand dazu? Das ist gerade für Kinder sehr wichtig."
    Friedliche Koexistenz religiöser Gruppen in Frankreich befördern
    Dass Fleur Pellerin die neuen Mittel ihres Ressorts im Schulunterricht einsetzen will, um die friedliche Koexistenz religiöser Gruppen in Frankreich zu befördern, wirft ein neues Licht auf den französischen Laizismus. Der deutsche Publizist Mischa Brumlik machte später am Abend in der Heinrich-Böll-Stiftung genau darin den entscheidenden Unterschied aus. Deutschland sei besser als Frankreich gegen religiös motivierten Hass aufgestellt,
    "Weil die Bundesrepublik Deutschland kein laizistischer Staat ist, was die Möglichkeit eröffnet, dass solche Fragen der Feindschaft und der Unterschiede zwischen den Religionen in der Schule mit Kindern und Jugendlichen bearbeitet werden können. Ich glaube tatsächlich, und das ist mir klar geworden bei der Debatte über Charlie Hebdo, dass der Rheingraben doch ziemlich tief ist."
    Die Vorsitzende des Liberalislamischen Bundes, Lamya Kaddor, ist überzeugt, dass man auch in Deutschland mit islamistisch motivierten Anschlägen rechnen müsse, wenngleich die soziale Isolation der "verlorenen Jugend" in Frankreich weit ausgeprägter sei. Die deutschen Islam-Verbände, so Kaddor, hätten durch die Pariser Anschläge gelernt, dass sie sich von ihrer Opferrolle befreien müssten und sich aktiv mit den gesellschaftlichen Werten und den extremistischen Strömungen innerhalb des Islams auseinandersetzen müssen. Der deutsch-französische Journalist und Internetunternehmer Thierry Chervel dagegen forderte, den Blick weg von der innerislamischen Diskussion hin auf die liberalen Werte unserer Gesellschaft zu lenken.
    "Deswegen ist es auch sehr wichtig, über diese Zeichnungen zu diskutieren und zu sagen, sind die denn jetzt islamophob? Statt immer zu über den Islam zu diskutieren und über die Frage, wie wir ihn integrieren und wie wir es einigermaßen hinkriegen, ein friedfertiges Miteinander zu machen, sollte man sich doch auch mal wieder überlegen, wie genau wir hier eigentlich leben wollen."
    Moderate Islam-Vertreter kommen nun auch zu Wort
    Thierry Chervel attestierte den westlichen Medien eine zunehmende Selbstzensur. Mischa Brumlik konterte, wer absolute Meinungsfreiheit wolle, der könne auch den Straftatbestand der Volksverhetzung abschaffen. Karikaturen verurteilte Brumlik gar pauschal als "menschenfeindliche Kunstform". Um des gesellschaftlichen Friedens Willen die Meinungsfreiheit einschränken? Das kann nicht die Lösung sein, befand auch der französische Philosoph und Publizist Pascal Bruckner:
    "Der Antisemitismus und der Rassismus wenden sich gegen einzelne Menschen und werfen ihnen vor, die sie sind, was sie von Geburt aus sind: Juden, Araber, Afrikaner, Asiaten. Religiöse Karikaturen dagegen, ob sie sich gegen den Islam, das Judentum, die Christen oder den Buddhismus wenden, machen sich über ein Glaubenssystem lustig. Das ist absolut nicht das Gleiche!"
    Bruckner begrüßte, dass nach den Anschlägen gegen Charlie Hebdo nun auch moderate Islam-Vertreter in den französischen Medien zu Wort kämen, die bisher keine Stimme hatten. Bis zu welchem Punkt verletzende Karikaturen zu ertragen seien, entschieden in demokratischen Gesellschaften weder Vertreter religiöser Gruppen noch Meinungsorgane, sondern ausschließlich die Gerichte, so Bruckner. Die Attentate gegen Charlie Hebdo, so kann eine positive Bilanz der konfliktreichen Diskussion in Berlin lauten, vertiefen im besten Falle nicht die Spaltung zwischen den Glaubensgruppen. Vielmehr stellen sie mit neuer Wucht die grundsätzliche Frage nach Meinungsfreiheit, sozialer Ausgrenzung und der demokratischen Verfasstheit der liberalen Gesellschaft.