Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Heinrich Böll zum 100. Geburtstag
Immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten

Heinrich Böll wäre heute 100 Jahre alt geworden. Der Autor experimentierte immer wieder mit neuen Formen. So war er mit seinem ersten Buch seiner Zeit voraus. Sein letzter Roman hingegen wurde damals von den Kritikern verrissen - muss heute aber den Vergleich mit Werken von William Gaddis und Arno Schmidt nicht scheuen.

Von Walter van Rossum | 21.12.2017
    beim Interview in seiner Wohnung in Bornheim/Merten
    Ein undatiertes Foto von Heinrich Böll in seiner Wohnung in Bornheim/Merten, NRW. Sein letzter Roman "Frauen vor Flusslandschaft" erschien wenige Wochen nach seinem Tod im Jahr 1985. (imago/Sven Simon)
    Im Juli 1985 starb Heinrich Böll im Alter von 67 Jahren. Wenige Wochen nach seinem Tod erschien sein letzter Roman "Frauen vor Flusslandschaft". Es sei ein unfertiges Alterswerk, der deprimierende Nachlass eines zuletzt schwer kranken Autors, befand die Mehrzahl der Kritiker und erklärte das Buch für ganz und gar ungenießbar. Wer den Roman heute in die Hand nimmt, wird spätestens nach zehn Seiten das Geraune der Kritik vergessen und am Ende feststellen, es mit einem der bedeutendsten Romane der letzten Jahrzehnte zu tun zu haben.
    Ein Roman in Dialogen und Selbstgesprächen - ungewöhnlich, doch nicht ohne Vorbild. Unsere kritischen Koryphäen möchte man an ein so epochemachendes Buch wie "Jacques der Fatalist" von Diderot erinnern, es fällt einem auch Arno Schmidt ein und man denkt an die großartigen Romane von William Gaddis, die aus nichts als Gesprächsmitschnitten bestehen, Lauschangriffen auf das Geschwätz. In dieser Liga schreibt Böll, aber nicht unsere Literaturkritik.
    Eine Dauerintrige mit mobilen Seilschaften
    In jedem Kapitel präsentiert Böll ein neues Tableau mit Bonner Herrschaften: Ministrable und Minister gar, Veranstalter des Wirtschaftswunders, Täter und Opfer in wechselnder Konstellation – sämtlich vereint in einem Geschäftsgang, den man Politik nennen könnte, genauso gut könnte man von einer Dauerintrige mit mobilen Seilschaften sprechen. Man wird übrigens bis zum Ende nicht genau erfahren, worum sich die Intrigen spinnen. Man hat sogar den Eindruck, die Spinner selbst hätten den Überblick verloren. Es ist großartig, wie Heinrich Böll es schafft, niemals zum Kern von irgendetwas vorzustoßen. In einem Brief an seinen Freund, den Literaturkritiker Heinrich Vormweg, schrieb Böll Ende 1984:
    "Wie oft ich diese Arbeit durchgelesen, neu bearbeitet habe, kann ich kaum noch aufzählen. (…) Der Versuch, das alle in herkömmlicher Prosa zu schreiben, wollte nicht gelingen – das Problem: Bonn als Ort der Zerstörung des Christlichen – wollte in Prosa sich nicht fassen lassen."
    Mit anderen Worten, Böll befürchtete, dass herkömmlich erzählende Prosa heimlich eine Ordnung herstellte, eine vielleicht auch nur bescheidene Rationalität der Machtspiele andeutete, eine Linearität von Anfang und Ende. Doch was Böll sah und wovon er erzählerisch Zeugnis abzulegen suchte, war eine Mutationsform der Macht, eine Macht, die kein Projekt der Bemächtigung mehr formulieren könnte. Böll beschreibt beinahe schon prophetisch den Übergang vom sogenannten "Rheinischen Kapitalismus" zum neoliberalen Freibeutertum. Eine Welt, in der Demokratie längst keinen Wert mehr darstellt, sondern bestenfalls eine Art Steuerungsproblem, eine Legitimationsmaschine.
    Schon 1985 – als der Roman erschien – hätte man gewisse Ähnlichkeiten mit der real existierenden Realität und ihren Realisatoren nachweisen können. Doch Böll vermeidet sorgfältig allzu deutliche Entsprechungen. Er wollte nicht ein paar Figuren skandalisieren, sondern ein System zeigen. Doch vor allem möchte man Bölls Buch als eine Art Betriebsanleitung für jene Jahre verstehen, die dem Erscheinen des Romans erst noch folgen. Das waren die Jahre, in denen ein norddeutscher Ministerpräsident bei Nacht und Nebel in die DDR reiste, um von dort aus geheime und illegale Geschäfte mit Südafrika einzufädeln und der schließlich tot in einer Badewanne endete; die Jahre, als einem Bundeskanzler von einem bekannten Waffenschieber eine Million Mark im Plastikbeutel überreicht wurde; die Jahre, in denen ein ehemaliger Verfassungsschutzpräsident, enorme Schmiergelder kassierte und verteilte, Jahre, in denen die DDR verkauft wurde und am Ende 250 Milliarden Mark Schulden herauskamen.
    Die Unwahrheit der Welt fügt sich keiner Geschichte mehr
    Alles Verschwörungen, über die man manches weiß und die doch stets Verschwörungen geblieben sind. Als hätte Bölls Roman Regie geführt über eine Epoche, die man "Zeitalter des Verdachts" nennen möchte. Und an deren Ende ist uns allen die Demokratie verdächtig geworden. Es gibt Skandale, die kann man aufklären und es gibt Realitätszustände, von denen kann man nur erzählen. Die Unwahrheit der Welt fügt sich keiner Geschichte mehr. Sie ereilt auch den, der von ihr Zeugnis ablegen will: den Autor.
    Zeitlebens hatte man Böll als sympathischen Moralisten, aber bescheidenen Artisten diffamiert. Doch wahrscheinlich besteht Bölls wahre - nicht nur ästhetische - Größe eher darin, sich die unausrottbare Feldaufteilung von Kunst einerseits und Engagement andererseits nie zu eigen gemacht zu haben. Das hat er noch einmal in seinem Stockholmer Vortrag "Über die Vernunft der Poesie" 1973 ausdrücklich betont:
    "Moral und Ästhetik erweisen sich als kongruent, untrennbar auch, ganz gleich, wie trotzig oder gelassen, wie milde oder wie wütend, mit welchem Stil, aus welcher Optik ein Autor sich an die Beschreibung oder bloße Schilderung des Humanen begeben mag."
    Die umfangreiche Erzählung "Der Zug war pünktlich" erschien 1949 – sein erstes Buch. Doch seine ersten Romanversuche wurden erst gar nicht gedruckt – nicht allein, weil sie vom Krieg handelten, sondern weil sie von einem verbrecherischen Krieg handelten, über den man erst 50 Jahre später so schreiben durfte. Böll war damals auf eine fast unheimliche Weise seiner Zeit voraus. Er blieb Avantgarde - allerdings nicht im Sinne artistischer Glanznummern.
    Experimente mit immer wieder neuen Formen
    Man muss kein Germanist sein, um einen Text von Thomas Man auf Anhieb zu erkennen. Bei Heinrich Böll dürfte das sehr viel schwerer fallen. Zwischen "Wanderer kommst du nach Spa" bis zu "Billard um halb zehn" (1958) liegen knapp zehn Jahre und stilistische Welten. Zwischen "Ansichten eines Clowns" aus dem Jahre 1963 und "Gruppenbild mit Dame" liegen wiederum knapp zehn Jahre und enorme ästhetische Differenzen. Es geht hier nicht um Fortschritt, um Vervollkommnung literarischer Kunstfertigkeit, sondern Böll stellt sich den spezifischen Herausforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft. Als er dem Krieg gerade entronnen war, hatte er den Krieg als Schriftsteller noch vor sich, da er über den Krieg nichts veröffentlichen durfte, schrieb er über den Krieg, den niemand kennen wollte, er schrieb über die Trümmer und den Wiederaufbau, die Restauration und die Wiederkehr der Macht. Sein letzter Roman "Frauen vor Flusslandschaft" handelt von Postmoderne als gesellschaftliche Realität.
    Roman für Roman hat Böll mit neuen Formen experimentiert, nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für neue Realitäten gesucht. Die meisten Kollegen haben den einmal gefundenen, den einmal gesetzten Sound fort- und fortgeschrieben. Heinrich Böll:
    "Diese siebenundzwanzig Jahre waren ein langer Marsch, nicht nur für den Autor, auch für den Staatsbürger, durch einen dichten Wald von Zeigefingern, die aus der vertrackten Dimension der Eigentlichkeit stammten, innerhalb derer verlorene Kriege zu eigentlich gewonnenen werden. Gar mancher Finger war scharf geladen.
    Heinrich Böll in seiner Dankesrede für den Nobelpreis 1972 in Stockholm.
    "Ich bin weder ein Eigentlicher noch eigentlich keiner, ich bin ein Deutscher, mein einzig gültiger Ausweis, den mir niemand auszustellen oder zu verlängern braucht, ist die Sprache, in der ich schreibe."
    Vielleicht hat kaum ein anderer deutscher Autor nach dem Krieg so an die Kunst geglaubt wie er, an Worte und was einer sagt. Kunst als Lebensmittel. Heinrich Böll war unirritierbar auf der Suche nach einer "bewohnbaren Sprache in einem bewohnbaren Land". Nicht auszuschließen, dass wir dieser Ästhetik noch längst nicht gewachsen sind. Doch wenigstens könnte man mal anfangen, das Projekt wahrzunehmen.