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Heißer Draht zwischen Berlin und Brüssel

Jede Regierung vertritt in Brüssel ihre ganz eigenen Interessen. Und das gilt mittlerweile auch für Deutschland. Ein Novum, denn über Jahrzehnte hinweg haben die deutschen Regierungen für mehr europäische Zusammenarbeit gekämpft und dafür auch den ein oder anderen Kompromiss hingenommen.

Von Ruth Reichstein | 06.02.2007
    Jeden Mittag versammeln sich unter der Woche mehrere Hundert Journalisten aus den EU-Mitgliedsstaaten im Pressesaal der Europäischen Kommission. Zurück gelehnt in blauen Sesseln lauschen sie den Pressesprechern, die den Journalisten die neuesten Entscheidungen ihrer Kommissare mitteilen.

    Alle berichten über die Europäische Union – aber jeder ein bisschen anders:
    "Wir haben alle unsere nationale Brille auf. Aber hier in Brüssel wird man auch immer kritischer. Und die besten Journalisten sind am Ende diejenigen, die das ganze nicht als Italiener oder Polen betrachten, sondern die EU kritisieren, weil sie wollen, dass sie besser wird", sagt Inga Czerny von der staatlichen, polnischen Nachrichten-Agentur. Und was bei den Journalisten verbreitet ist, gilt für die europäischen Politiker erst recht. Linas Balsys, Radio- und Fernseh-Korrespondent aus Litauen:

    "Hier in Brüssel gibt es nichts anderes als nationale Interessen. Deshalb finden die Staats- und Regierungschefs ja so oft keine Kompromisse, wenn sie miteinander verhandeln. Als zum Beispiel der deutsche Ex-Kanzler Schröder eigenständig den Deal mit Russland gemacht hat über eine neue Öl-Pipeline, da hat er nur nach deutschen, nicht nach gemeinschaftlichen Interessen gehandelt. Und es ist eine absolute Utopie, dass sich das ändern wird."

    Jede Regierung vertritt in Brüssel also ihre ganz eigenen Interessen. Und das gilt mittlerweile auch für Deutschland. Ein Novum, denn über Jahrzehnte hinweg haben die deutschen Regierungen in Brüssel für mehr europäische Zusammenarbeit gekämpft und dafür auch den ein oder anderen Kompromiss hingenommen, der für das eigene Land nicht nur Vorteile brachte – zum Beispiel der Abschied von der D-Mark zu Gunsten des Euro. Aber seit einigen Jahren – vor allem seit der Wiedervereinigung - tritt Deutschland selbstbewusster auf.

    Reine Anpassung sei das, meint Isabel Arriaga E Cunha, Korrespondentin der portugiesischen Zeitung Publico:

    "Immer öfter blockiert Deutschland die Entscheidungen im Rat – zum Beispiel, was Steuerfragen angeht. Die Deutschen wollen keine höhere Bier-Steuern, also blockieren sie. Das machen natürlich alle großen Länder. Nur: Deutschland hat das früher nicht gemacht und fängt jetzt damit an. Dazu gehört auch die Verteidigung großer Unternehmen wie Volkswagen und Eon."

    Dabei helfe auch der deutsche EU-Kommissar, Günter Verheugen, sagt der Litauer Linas Balsys:

    "Auf dem Papier sind alle Kommissare Engel - sie haben kein Geschlecht und keine Nationalität. Aber das ist natürlich Quatsch. Verheugen hat nicht zufällig den wichtigen Posten des Industrie-Kommissars bekommen, denn dieser Bereich ist sehr wichtig für Deutschland. Vorher war es genau das gleiche. Damals war die Erweiterung wichtig für Deutschland und Verheugen war Erweiterungs-Kommissar."

    Diese Entwicklung könnte das europäische Zusammenspiel gefährden, meinen die Journalisten in Brüssel. Denn bislang waren die deutschen Politiker in ein Garant für faire, ja fast selbstlose, Verhandlungen. Das – befürchten viele – könnte mit der Zeit anders werden. Und auch in den europäischen Institutionen ist Deutschland immer stärker vertreten. Im Europäischen Parlament stellt das größte und bevölkerungsreichste Land der EU auch die meisten Abgeordneten. Der neue Parlamentspräsident ist ein Deutscher, genauso wie die Vorsitzenden der sozialdemokratischen und der grünen Fraktion.

    "Deutschland ist dabei, seine Männer und Frauen zu postieren. Die Deutschen sind überall. Ich befürchte, dass Deutschland damit den Franzosen Angst machen wird", meint Pascal Verdeau von France 3. Die Brüsseler Korrespondenten können die deutsche Wandlung aber durchaus nachvollziehen. Schließlich mussten die großen EU-Länder in den vergangenen Jahren Abstriche hinnehmen. Sie mussten einen Kommissar abgeben und haben im Verhältnis weniger Stimmen im Ministerrat. Isabel Arriaga E Cunha, Korrespondentin der portugiesischen Zeitung Publico:

    ""Es ist nicht einfach nur Arroganz. Die großen Länder haben viel Macht in der EU verloren. Deshalb müssen sie lauter auf den Tisch hauen. Deshalb vertritt auch Verheugen die Interessen der großen Länder."

    Und der deutsche Einfluss werde mit der Zeit ganz automatisch wieder abnehmen. Das meint zumindest der französische Fernsehjournalist Pascal Verdeau:

    "Wenn man sich die demografische Entwicklung anschaut, dann verliert Deutschland. In 20 Jahren wird es nicht mehr 80, sondern nur noch 60 Millionen Deutsche geben. Und die Größe der Bevölkerung ist ein Indiz für den Einfluss in Europa. Und dann, es tut mir Leid, wird Frankreich die größte Bevölkerung haben."