Samstag, 20. April 2024

Archiv


Hellsichtig und streitbar

Angriffslustig, aber auch zur Differenzierung bereit, sprachbewusst, aber auch gern polemisch: So hat der Theaterkritiker, Dramaturg und Intendant Ivan Nagel Kultur und Politik begleitet. Ein neuer Sammelband vereinigt Essays, Reden und Briefe aus über 50 Jahren.

Von Angela Gutzeit | 27.08.2012
    "Einspruch erheben heißt vulgär: den Mund aufreißen, wenn einem der Kragen platzt", schreibt der große Theatermann Ivan Nagel in der Einleitung zu seinem letzten Buch "Schriften zur Politik". Der Kragen platzte dem engagierten Intellektuellen ziemlich häufig und dann legte er los - in Reden, Aufsätzen und Zeitungsartikeln. Manchmal offenbar so heftig, dass Feuilleton-Redaktionen den einen oder anderen Nagelschen Einspruch auch mal ungedruckt ließen.

    Wenn Nagel öffentlich seine Stimme erhob, ging es natürlich immer wieder um Kulturpolitik. Das war schließlich das ureigenste Terrain des Musik- und Theaterkritikers, später des Dramaturgen und Intendanten. Beispielsweise ereiferte er sich über kulturpolitische Fehlentscheidungen wie die der Schließung des Berliner Schillertheaters. Ein Text, der in diesem Band neben der Forderung nach mehr Kultur-Instituten und mehr Kultur-Engagement in Osteuropa zu finden ist.

    Aber was Nagel so einzigartig machte, das war seine umfassend gebildete Persönlichkeit, die den Adorno-Schüler und späteren Ästhetik-Professor befähigte - weit über den Radius des Tagesaktuellen hinaus - Künstlerisches, Politisches, Gesellschaftliches zusammen zu denken und in einen historischen Kontext zu stellen. Seine Einsprüche richteten sich gegen den Missbrauch der Demokratie durch Machteliten, gegen das Primat der Ökonomie, gegen Totalitarismus, Rassismus und Krieg. Nagel war ein vehementer Gegner des Irak-Krieges und bezeichnete die Bush-Regierung mit ihrer 'Lügen-Politik' als "Unglück für die Welt". Dabei richtete sich sein Ärger auch gegen die deutsche Presse, nachzulesen in einem der erläuternden Vorworte zu seinen hier versammelten Aufsätzen und Artikeln. So heißt es an einer Stelle:

    "Es ist schwer, sich heute vorzustellen, mit welcher Anpassung, ja Servilität die deutsche Presse (mit Ausnahmen) selbst in der Aufmarschphase noch das scheinheilige Vokabular der Washingtoner Kriegspropaganda beibehielt und vervielfältigte. Zuflucht für eine nüchterne Sicht boten die Kulturseiten weniger großer Zeitungen; sie druckten oft die unverstellte Widerlegung dessen, was auf der ersten, politischen Seite (etwa gegen Schröders 'deutschen Sonderweg') stand."

    Das ist der typische Nagelsche Ton: angriffslustig, aber auch bereit zur Differenzierung, sprachbewusst, aber auch gern polemisch. Eine Mischung, die seine mehr zeitgebundenen Texte in diesem Buch auch heute noch - zehn, 20 Jahre später - so lebendig und frisch wirken lassen. Zum Beispiel, was die Europa-Politik angeht. Das Desaster mit dem Euro, der im Januar 1999 eingeführt wurde, konnte Ivan Nagel im Mai 1990 noch nicht vorhersehen, als er bei den Römerberg-Gesprächen über "Europas Geld - Europas Geist" sprach. Aber er spürte Fehlentwicklungen, vor allen Dingen im Ost-Westverhältnis. Er kritisierte zum Beispiel das Versäumnis einer gemeinsamen neuen deutschen Verfassung nach dem Zusammenbruch der DDR sowie die Entwertung der ostdeutschen Kultur und Literatur, wie sie sich nach seiner Meinung im sogenannten "Deutschen Literaturstreit" und im Angriff auf Christa Wolf äußerte. Er warnte vor neuen Kalten Kriegen, Bürgerkriegen oder - wie er es nannte - neuen "Bruderkriegen" wie sie zu dieser Zeit auch tatsächlich auf dem Balkan entbrannten. Und er warnte vor einer wohlstandsgesättigten Selbstgefälligkeit der reichen europäischen Länder, einer Selbstgefälligkeit, die zur Aushöhlung der Demokratie und zum Wiedererstarken von Nationalismen in Ost und West führen könne. Das ist jetzt 20 Jahre her, aber haben folgende Sätze nicht auch in der jetzigen aktuellen Bedrohung der Einheit Europas Gewicht und Relevanz?

    "In diesem entscheidenden Jahr der Weltgeschichte haben unsere Politiker fast nur von der Wirtschaft gesprochen. Dem Geist Europas gönnt man nicht den geringsten Anteil an Worten und an Geld: vielleicht weil man Europas Geld ohnehin für Europas Geist hält. Die Marxsche Überschätzung der Ökonomie, Verachtung des Überbaus wird sonderbar wiederentdeckt von unseren triumphierenden Antimarxisten. Die Wirtschaft wird aber im kommenden Jahrzehnt nicht nur Bindungen, sondern auch Unterschiede schaffen: zwischen den Ärmsten im Osten und den Reichsten im Westen. Die sogenannte Stunde Europas wird Jahrzehnte brauchen ..."

    Ivan Nagel war ein linker Intellektueller, kein Marxist und schon gar kein Freund des Kommunismus. Ihm hat der gebürtige Ungar noch vor dem Aufstand seiner Landsleute gegen die Sowjetherrschaft den Rücken gekehrt. Als Jude, der im Versteck überlebte, und als Homosexueller, für den die Diskriminierung auch nach dem Krieg und der Übersiedlung in den Westen nicht endete, galt seine Abscheu Ideologien und Vorurteilen, welcher Couleur auch immer. Ähnlich wie der amerikanische Jude und linke Demokrat Tony Judt es in seinen Lebenserinnerungen beschrieben hat, konnte auch Nagel mit den rebellischen 68ern und speziell der APO nicht viel anfangen, und das aus dem Grund, weil er sie - wie auch Judt - für blind hielt gegenüber der Zensur und der Verachtung der Menschenrechte in der DDR und anderen osteuropäischen Ländern. Diese Haltung wird in einem hitzigen Briefwechsel Ende der 60er Jahre zwischen Ivan Nagel und intellektuellen 68er-Größen wie unter anderem Erich Kuby und Walter Boehlich sichtbar - wobei auch Nagels Gegenreden aus heutiger Sicht nicht ganz frei wirken von politischer Selbstgerechtigkeit und einer Portion Sturheit.

    In seiner Moses-Mendelsohn-Dankesrede im Jahr 2000 hatte Ivan Nagel betont, dass er kein Optimist sei. Das konnte er nach seinen Lebenserfahrungen wohl auch nicht sein. Und so ist wohl auch zu verstehen, warum er in dieser Rede, die viel Autobiografisches enthält, nicht zuallererst das Gute im Menschen hervorhebt, sondern das Gefährliche. Ivan Nagel begann damals im Konzerthaus Berlin mit einem schockierenden Vergleich, in dem er beschrieb, wie Ratten Artgenossen zerfleischen, wenn sie sich in ein fremdes Rudel verirren, also nicht derselben Sippe angehören. Der Mensch, so Nagel, degeneriere zum Rattenhaften, wenn er durch Ideologien zum Rassismus verführt werde. Nun lässt die Betonung des triebhaft Animalischen im Menschen naturgemäß nicht viel Spielraum für die Hoffnung auf positiven Wandel. Aber Nagel sprach in diesem Vortrag auch von der menschlichen Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. In seinen schönsten Texten in diesem Buch, weniger Aufsätze oder Artikel als Essays im klassischen und damit besten Sinne, führt Nagel das Gegenmittel vor, das allein in der Lage ist, das Rattenhafte im Menschen einzuhegen: Kultur. Eine Kultur des toleranten Miteinanders, eine Kultur, die Erziehung und Verfeinerung des menschlichen Geistes meint - durch Kunst, Musik, Theater, durch Lektüre, durch Bildung, eine Kultur, die zur Unterscheidung, zur Kritik befähigt.

    Zu diesen tiefgründigen Essays, die antike Texte oder klassische Werke der Literatur und Kunst im Licht der Gegenwart betrachten, gehört zum Beispiel Ivan Nagels 2003 veröffentlichter Antwortbrief an György Konrád "Warum ich gegen den Irak-Krieg bin". Ivan Nagel erinnert hier an Thukydides und sein Werk "Der Peleponnesische Krieg", in dem der griechische Historiker beschreibt, wie Athen an seiner Machtversessenheit zugrunde ging, um mit diesem vorchristlichen Beispiel der Weltmacht USA einen Spiegel vorzuhalten. Und in seiner Rede zur Wehrmachtsausstellung 1999 reflektiert Ivan Nagel über Schuld, Erinnerung und Vergessen, indem er 30 Takte der Bachschen Matthäus-Passion zu Rate zieht.

    "Bachs Choräle sind das großartigste Kollektiv, das je zu Musik geworden ist. Doch obwohl Stimme des Kollektivs, sagt dieser Choral nicht: Wir sinds, wir sollen büßen. Und er sagt auch nicht das Gegenteil davon: Wir sind Spätgeborene, wir haben mit der Schuld von damals nichts zu tun; weshalb zwingt man uns trotzdem zu bereuen, zu büßen? Sondern jeder ist, wie es wiederum Martin Walser zu sagen nötig hielt, mit seinem Gewissen allein." (…) "Doch nein: Der Einzelne vor seinem Gewissen erinnert sich als Kollektiv, nur und gerade als Gemeinde. Er singt, nicht als Solo-Arie, sondern als Choral der Lebenden, der Heutigen, eines Jeglichen unter ihnen: 'Ich bins, ich sollte büßen.' (...) Ich plädiere für eine lange, standhafte Erinnerung. Und ich behaupte, dass Erinnerung nichts bloß Subjektives ist, vom Einzelnen mit Berufung auf sein einsames Gewissen nach Belieben anzunehmen oder zu verweigern."

    Fast alle Texte dieses Bandes - wie auch dieser, aus dem gerade zitiert wurde - sind schon einmal in anderen Büchern Ivan Nagels erschienen. Aber diese Zusammenschau von Nagels Schriften aus über 50 Jahren politischem und kulturpolitischem Engagement beleuchten noch einmal eindrücklich die Vielfältigkeit und das Denken dieses großen Theatermannes, der einmal sagte, seine große Liebe gehörte eigentlich der Musik. Eine Autobiografie konnte Nagel leider nicht mehr schreiben. Aber sein reiches publizistisches Schaffen, unter anderem die bei Suhrkamp erschienenen Bände "Schriften zum Drama" und "Schriften zum Theater", geben Einblick in dieses reiche Intellektuellenleben. Der Band "Schriften zur Politik" bildet nun so etwas wie den Schlussstein. Seine politischen Einsprüche schöpfen in ihren besten Momenten tief aus der europäischen Geschichte und Kultur, um mit Sprachkritik, einem feinen Gehör für falsche Töne und Sensibilität für die menschlichen Irrungen und Wirrungen Aufklärung zu leisten.

    Ivan Nagel: Schriften zur Politik.
    Suhrkamp Verlag. 293 Seiten, 26,95 Euro