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Hellsichtige Zeitzeugenschaft

Er war Film-, Theater- und Literaturkritiker in den 1920er-Jahren und floh vor den Nazis nach New York. 1953 schrieb Hans Sahl mit "Die Wenigen und die Vielen" einen der bedeutendsten Exilromane. Nun liegt der Abschlussband einer vierbändigen Werkausgabe vor - mit etwa einhundert Erzählungen und Glossen aus sechs Jahrzehnten.

Von Oliver Pfohlmann | 24.06.2013
    Berlin 1926: Im Künstlerlokal "Schwannecke" erweisen Persönlichkeiten wie Leonhard Frank oder Egon Erwin Kisch einem 24-jährigen Nachwuchskritiker ihre Reverenz. Der Name des Gefeierten ist Hans Sahl, der Anlass seine Glossenserie "Klassiker der Leihbibliothek" – eine Tiefenbohrung in die Abgründe des Lesemarktes, zu jenen millionenfach gelesenen Bestsellern rechter Autoren, über die damals niemand gerne spricht. Hellsichtig erkennt der aus großbürgerlich-jüdischem Elternhaus Stammende in diesen frühen Blut- und Boden-Romanen die Vorboten kommenden Unheils.

    Wie Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer diente auch dem jungen Hans Sahl das Medium der Kritik als Seismograph für den schwankenden Untergrund der neuen Demokratie. "Klassiker der Leihbibliothek" ist der umfangreichste Text in einer neuen Sammlung seiner Erzählungen und Glossen aus sechs Jahrzehnten literarischer Zeitzeugenschaft. Schon der Autor selbst hat in seinen späten Sammlungen wie "Der Tod des Akrobaten" seine fiktive Prosa mit jenen seiner journalistischen Arbeiten kombiniert, die einen erzählerischen Kern aufweisen, wie Mitherausgeber Klaus Siblewski erklärt:

    "Was ich sehr schön an den Glossen finde, ist, es gibt so etwas wie eine menschliche Ironie, also tatsächlich eine Ironie, die etwas zutiefst Humanes hat, in den Glossen, und ich meine damit, dass Hans Sahl sehr früh schon einer Fragestellung nachgegeben hat, die während seines Lebens sich für ihn immer als bedeutender gezeigt hat, nämlich herauszufinden, wie lebt man eigentlich, und zwar nicht irgendwann in der Zukunft und nicht vielleicht aus irgendwelchen Vergangenheiten heraus, sondern wie lebt man im Hier und Jetzt, und dieses ‚Wie lebt man im Hier und Jetzt‘ und ist es das wert, so zu leben, oder wäre es gut, anders zu leben, und wie könnte man dann leben, diese Fragestellung, nämlich das Leben im Hier und Jetzt ernst zu nehmen und darüber zu schreiben, das zeichnet ihn aus und dabei durchaus das Verständnis, das er für sehr schwierige und sehr komische und sehr abwegige Lebensformen dann durchaus aufgebracht hat und das ihn wirklich als einen zutiefst humanen Autor zeigt, einen, der über eine menschliche Ironie verfügt."

    So mancher wird freilich in dem Abschlussband der Werkausgabe eine ergänzende Auswahl von Sahls Buchbesprechungen vermissen: Immerhin entdeckte er als einer der ersten in den zwanziger Jahren Kafka, Anna Seghers oder Hemingway. Und seine Filmkritiken waren, frei nach Kracauer, ‚Attentate gegen die Gemütsruhe des bürgerlichen Lesers‘. An der marxistischen Gesellschaftstheorie geschult, erschienen sie ausgerechnet im "Berliner Börsen-Courier". Erst 1937 im Pariser Exil kam es zum Bruch mit den Genossen und zu Sahls geistiger wie moralischer Unabhängigkeitserklärung. Der stalintreue "rasende Reporter" Kisch beschimpfte ihn daraufhin als "Wahrheitsfanatiker" – dabei war Sahl gerade der Glaube an die "eine" Wahrheit hochverdächtig geworden:

    "Ich bin allergisch geworden gegen Alternativen, die keine sind, gegen Halbwahrheiten, die sich als ganze gebärden, gegen Denkmethoden, die mit dem Anspruch auf Ausschließlichkeit auftreten."

    Beeindruckend ist die Zeitlosigkeit von Sahls Sprache. Selbst seine frühe Prosa erscheint dem heutigen Leser schlackenlos und frei von Patina. Geschult an Brecht, bedient sie sich gern der Mittel von Satire, Groteske und illusionsdurchbrechender Verfremdung. Fast alle frühen Erzählungen künden von der Gewalt, die jederzeit auch aus noch so zivilisierten Verhältnissen hervorbrechen kann. In Sahls Prosa aus den Exil-Jahren dominieren dagegen Fragen der Identität und Kommunikation. In der Titelgeschichte aus dem Jahr 1964 will sich ein Herr P. selbst besuchen – nur um prompt in der eigenen Wohnung von einem unbekannten Besucher nach dem abwesenden Herrn P. befragt zu werden. Nach seiner Flucht vor den Nazis 1941 über den Atlantik lebte Hans Sahl in New York; eine Rückkehr kam für ihn lange Zeit nicht in Frage:

    "Hans Sahl hat ja Anfang der Fünfzigerjahre durchaus einen Versuch gemacht, wieder zurück nach Deutschland zu gehen, er hatte auch eine Einladung zu einer Tagung der Gruppe 47, sein Vortrag ist dort sehr ungnädig aufgenommen worden, es ist ihm so etwas signalisiert worden, als dass er eine Literatur vertreten würde, die die Kaffeehausliteratur der zwanziger Jahre darstellen sollte, was sicherlich falsch ist. Er hat aber auch dann wieder zurück in Amerika versucht, in Amerika selber beruflich Fuß zu fassen, was auch sehr schwierig gewesen ist. Insofern hat sich eigentlich für ihn eine Lebenssituation ergeben, die ihn halb in Amerika, halb in Deutschland hat sein lassen, und daraus hat er für sich arbeitsmäßig und für seine Glossen den Schluss gezogen, dass er eigentlich das deutsche Publikum mit amerikanischen Themen und Lebensverhältnissen bekannt machen möchte, und das ist sicherlich einer der Schwerpunkte seiner Glossen, die er nach 45 geschrieben hat."

    Sahl sollte besser als viele andere Emigranten in den USA zurechtkommen: Mit seinen journalistischen Arbeiten konnte er sich über Wasser halten, während er seine große Exil-Lyrik ohne Verbitterung nur noch für die Schublade schrieb. Zugute kam ihm dabei sein antielitäres Kunstverständnis: Mit seiner Faszination für den Film und die amerikanische Populärkultur wurde Sahl in den fünfziger und sechziger Jahren zu einem wichtigen Korrespondenten aus Übersee. In seinen Glossen für deutsche Zeitungen berichtete er über eine Theaterkommune für Millionäre in New York oder über die Premiere des ersten Riech-Films der Kinogeschichte am Times Square. Und beschrieb sich selbst emphatisch als "Gast in fremden Kulturen":

    "Ich bin ein exterritorialer Mensch geworden, ich habe einen Pakt mit der Fremde geschlossen. Ich kann nicht mehr ohne sie leben, ohne dieses Gefühl, nicht ganz zu Hause zu sein, ein Gast in fremden Kulturen, ein Reisender zwischen Abfahrtszeiten."

    Erst 1989, vier Jahre vor seinem Tod, kehrte Hans Sahl nach Deutschland zurück – und hoffte nach der Wiedervereinigung auf eine neue Stunde null: jenen historischen Augenblick, "in dem keine neue Ideologie darauf wartet, ausprobiert zu werden."

    Hans Sahl: Der Mann, der sich selbst besuchte.
    Die Erzählungen und Glossen. Herausgegeben von Nils Kern und Klaus Siblewski.
    München, Luchterhand Literaturverlag, 2012. 416 Seiten, 22,99 Euro