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Helmut Lethen: "Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich"
Politischer Maskenball

Gustav Gründgens, Wilhelm Furtwängler, Ferdinand Sauerbruch und Carl Schmitt: Vier Exzellenzen, die zwischen 1933 und 1945 Karriere machten – und die trotz allem zu Ikonen der jungen Bundesrepublik wurden. Helmut Lethen sucht nach dem gemeinsamen Nenner dieser vier Opportunisten mit dem besonderen Genius.

Von Katharina Teutsch | 15.04.2018
    Buchcover: Helmut Lethen: "Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt"
    Buchcover: Helmut Lethen: "Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt" (Buchcover: Rowohlt Verlag, Foto: picture alliance / dpa / Arno Burgi)
    "F: Wann haben Sie dem Teufel abgeschworen?
    A: 1936
    F: Schämen Sie sich nicht, damals derartige Dinge geschrieben zu haben, wie z.B., daß die Rechtssprechung nationalsozialistisch sein soll?
    A: Ich habe das 1933 geschrieben.
    F: Stellt Ihnen das ein gutes oder ein schlechtes Zeugnis aus?
    A: Es war eine These. Der N.S. Juristenverbund riß es mir gewissermaßen aus der Zunge heraus. Es war damals eine Diktatur, die ich noch nicht kannte.
    F: Sie kannten keine Diktatur?
    A: Nein, diese totale Diktatur war in der Tat etwas Neues. Die Methode HITLERS war neu. Es gab nur eine Parallele, das war die bolschewistische Diktatur von Lenin.
    F. Schämen Sie sich, dass Sie damals derartige Dinge geschrieben haben?
    A. Heute selbstverständlich. Ich finde es nicht richtig, in dieser Blamage, die wir da erlitten haben, noch herumzuwühlen.
    F. Ich will nicht herumwühlen.
    A. Es ist schauerlich, sicher. Es gibt kein Wort darüber zu reden.
    F. Ich finde es besser, wenn wir uns draußen über solche Sachen unterhalten, nicht hier in der Haft.
    A. Das wäre mir aus gesundheitlichen Gründen angenehm. Ich finde es auch im Interesse der Sache besser. Dieses Gutachten leidet doch unter dieser Situation.
    F. Ich will sehen, dass Sie nach Hause kommen.
    Vergeblich hofft der amerikanische Verhörer darauf, in der Scham einen Mittelweg zu finden, auf dem ein Austausch von Erfahrungen gelingen könnte. Nur für wenige Sekunden lässt sich Schmitt eine Scham-Maske überstreifen, als er auf die eher diskret gehaltene Frage nach seiner Reaktion auf die Verbrechen geistesgegenwärtig Zuflucht im Topos des Schweigens findet: "Es ist schauerlich, sicher. Es gibt kein Wort darüber zu reden." Damit gibt er dem Vertreter der Siegermächte die Chance zu einer großherzigen Geste. Kempner, ganz Gentleman, lenkt ein. Die peinliche Frage lässt sich besser außerhalb des Vernehmungszimmers erörtern. Schmitt wird am 6. Mai 1947 ohne Auflagen entlassen."
    Carl Schmitt, Staatsrechtler von Görings Gnaden; Gustav Gründgens, Generalintendant des Preußischen Staatstheaters; Ferdinand Sauerbruch genialer Chirurg an der Charité; Schließlich: Wilhelm Furtwängler weltberühmter Dirigent. Vier Exzellenzen, deren Aufstieg in den zwanziger Jahren begann. Vier Männer, deren Karrieren im Dritten Reich noch einmal Fahrt aufnahmen und die mit Ausnahme von Carl Schmitt bruchlos im Wiederaufbau mündeten. Von Scham konnte zu keinem Zeitpunkt die Rede sein. Vielleicht von Scham-Masken, wie der Ideenhistoriker Helmut Lethen eine verbreitete Haltung zum moralischen Debakel der Kriegsjahre auf den Begriff bringt.
    ‚Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich‘ heißt das neue Buch des preisgekrönten Kulturwissenschaftlers. Helmut Lethen spürt darin den Lebenskonstellationen von vier Prominenten nach, auf die sich der NS-Staat stolz berief. Hermann Göring persönlich ließ sie in den Preußischen Staatsrat berufen. Dort hatten sie eine eher repräsentative Funktion inne. Bis 1936. Denn da wurde die Institution wieder abgewickelt. Hitler suchte definitiv keinen Rat bei Görings Staatsräten. Trotzdem schreibt Carl Schmitt noch Anfang der fünfziger Jahre in sein Tagebuch:
    "Für drei Dinge danke ich Gott: erstens, dass ich ein Mensch bin und kein Tier. Zweitens, dass ich ein Mann bin und keine Frau. Drittens, dass ich preußischer Staatsrat bin und kein Nobelpreisträger."
    Von Görings Gnaden
    Der Staatsrat war eine Institution von Görings Gnaden. Ihm anzugehören, erzeugte die Illusion von Teilhabe an den neuen Machtverhältnissen. Ihn abzuschaffen wiederum bedeutete für die politische Praxis nichts. Helmut Lethen vereint seine vier Anti-Helden nun unter dem Dach dieser fragwürdigen Institution. Und sucht nach Gemeinsamkeiten.
    Er selbst kennt den Ideenschatz der Zwischenkriegszeit aus langjähriger Forschungsarbeit: das neusachliche Personal, das Hadern mit dem Liberalismus, die intellektuelle Stimmung kurz vor dem Absturz. Mit diesem Cocktail aus Gefühlslagen und Attitüden hat er mindestens zwei Generationen von Kulturwissenschaftlern geprägt. Der Titel seines Buchs "Verhaltenslehren der Kälte" wurde in den neunziger Jahren zum Bonmot der Zeitgeschichtsforschung. Das Buch war den "Lebensversuchen zwischen den Kriegen" gewidmet. Und fand für die intellektuellen Posen im republikanischen Ideensturm die Formel von der Selbstverpanzerung. Ein Erbe des kaiserlichen Erziehungsdrills. Aber vor allem eine spätere Reaktion auf Krieg und Krise. Selbstverpanzerung heißt: Die Elite des Landes gab sich nach außen glatt wie Teflon.
    "Berühmte Denker dieser Epoche wie Elias Canetti, Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Ernst Cassirer, Norbert Elias, Carl Schmitt, Hans Freyer, Jakob Johann von Uexküll oder Martin Heidegger – sie alle dachten nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs über eine Neujustierung von sozialer Nähe und Ferne nach. Die Denker entwarfen neue Bilder von der Natur des Menschen in einem sozialen und politischen Raum, der durch Bürgerkrieg, instabilen Parlamentarismus und totale Mobilmachung gekennzeichnet war. Als größtes Desaster galt der Sturz in die Formlosigkeit der "amorphen Gesellschaft".
    Man hatte sich also "in Form zu bringen". Das Individuum müsse sich eine Rüstung anlegen, die es auf dem Kampfplatz der Öffentlichkeit unangreifbar mache. Schreibt der Philosoph Helmuth Plessner. Ein in den zwanziger Jahren viel gelesenes Buch zu diesem Thema war das "Handorakel" eines spanischen Jesuiten. Es handelte sich um eine Sammlung von Überlebenstechniken in der politischen Arena des spanischen Hofs im siebzehnten Jahrhundert. Der Autor empfahl seinen Lesern darin, sich mit diplomatischer Durchtriebenheit gegen Machtmissbrauch zu panzern. Sich nicht in die Karten schauen zu lassen, war seine Devise. Sein Herz nicht auf der Zunge zu tragen. Sich nicht mit dem einzulassen, der nichts zu verlieren hat. "Das Sein des Souveräns bedarf des Scheins." Baltasar Graciáns ‚Handorakel‘ war ein Kultbuch der Zwanziger. Zuletzt wurde es von dem Romanisten Werner Krauss, einem Verschwörer der ‚Roten Kapelle‘, noch einmal herangezogen. Auf seine Hinrichtung wartend, verfasste er ‚Graciáns Lebenslehre‘. Sie diente der Erbauung des neusachlichen Menschen, der sich in existenzielle Bedrängnis gebracht sah. Helmut Lethen wendet es so:
    "Schreibend hebt Krauss die Bleigewichte seiner Haft auf, um den Idealtypus eines Mannes zu halluzinieren, der sich komplett in Form gebracht hat – ein nervöser Typus wird in die kalte persona transformiert. In der Scheinwelt am spanischen Hof lernt man, elegant im Verhalten und messerscharf in der Reflexion, der unversöhnlichen Mitwelt die Stirn zu bieten."
    Aber kann die These von der Selbstverpanzerung hinter Gesten des schönen Scheins allein erklären, weshalb sich das brillante Quartett vor den Karren der NS-Ideologen spannen ließ? Weshalb die Empathie versagte, wo doch insgesamt so viel empfunden wurde?
    "Gründgens machte aus Plessners Auffassung von der Natur des Menschen ein Schauspiel-, Schmitt eine Staatslehre, Sauerbruch panzerte sich in stoischem Berufsjargon, Furtwängler lebte im Strahlenkranz des Dirigentenpults. Wir werden es erleben. Die Ordnungsstruktur des starken Staats übte auf alle vier eine große Anziehungskraft aus."
    Der böse Bube Carl Schmitt
    Weder Schmitt, noch Gründgens, noch Furtwängler, noch Sauerbruch versuchten das Regime herauszufordern. Sie hielten sich für Ausnahmeerscheinungen in einer Ausnahmezeit. So lässt sich manche Ambivalenz ihres Verhaltens erklären: Furtwängler konnte jüdische Kollegen vor der Deportation bewahren. Gleichzeitig spielte er bei Großanlässen des Hitler-Staates auf. Sauerbruch wiederum bewilligte in seiner Funktion als Reichforschungsrat Menschenexperimente mit Senfgas. Gleichzeitig öffnete er sein Haus für die Treffen der Verschwörer des 20. Juli. Ambivalenz zeichnet alle vier Staatsräte aus.
    "Keinen allzu deutlichen Vortrag haben. Die meisten schätzen nicht, was sie verstehen; aber was sie nicht fassen können, verehren sie."
    So steht es bei Gracián.
    Die Unschärfe des eigenen Verhaltens trifft auch auf die Staatsräte zu. Nur dort, wo es dem eigenen Fortkommen diente, verwendeten sie sich für die Sache Hitlers.
    "Für die vier ehrenwerten Staatsräte bildete das Dritte Reich eine Umwelt, in der sie ihre Prunksucht ausleben und sich lustvoll an der Macht festsaugen konnten. Hier wurden ihre herrschsüchtigen und selbstverliebten Neigungen, aber auch ihre aggressiven oder widerwärtigen Möglichkeiten ausgereizt."
    Carl Schmitt, Kronjurist des Dritten Reichs, umgibt bis heute die Aura des bösen Buben. Aber auch die anderen Namen gehören zum Nennwert der Bundesrepublik: Daniel Barenboim weigert sich bis heute das Portrait Furtwänglers aus seinem Dirigentenzimmer zu entfernen. Sauerbruch ist wie eh und je das unstreitbare Genie der Charité. Und Gustav Gründgens "Artistik der Amoral" begegnet man spätestens seit Klaus Manns Roman ‚Mephisto‘ mit einer gewissen Angstlust. Über alle vier Persönlichkeiten ist viel und häufig geschrieben worden. Und vor allem Carl Schmitt, der im Zentrum des Buchs steht, hat unzählige Schriften hinterlassen. Helmut Lethen kennt diese Quellen natürlich. Um das Missing Link zwischen den vier Exzentrikern zu finden, muss er allerdings die Phantasie zu Rate ziehen. Will er die Quellen in gelehrte Kauserien verstricken, muss er "Geistergespräche" fingieren. Sie finden abwechselnd statt auf Gründgens und Görings Landsitzen in Brandenburg, in Sauerbruchs Villa am Wannsee, in Furtwänglers Dirigentenzimmer an der Berliner Staatsoper und in Schmitts Haus im Sauerland. In den erfundenen Zusammenkünften samt Dienern, Chauffeuren und Jagdtrophäen aus Görings Beständen werden alle Charaktermasken ausprobiert, die Lethen bereits in seinem Kapitel über die Selbstpanzerungen zur Diskussion gestellt hat. Im Gespräch über den "Schein", den "Feind", über "Prothesen", "Schmerz" und die "Gemeinschaft" soll die weltanschauliche Disposition einer Generation herauspräpariert werden, die kalte Distanz zu den heißen Verbrechen des NS-Staats wahrte. Über seine Methode schreibt Helmut Lethen:
    "An Originaltönen herrscht kein Mangel, aber die Fiktion spricht lauter. Einbildungskraft setzt das Wechselspiel von Transparenz und Dunkelheit im Austausch der vier in Szene, wirft Licht in die toten Winkel ihrer Weltanschauung und versieht ihre Charaktere mit einem Körperbau, wie man eine Beigabe ins Grab der Toten legt. Vier Staatsräte erhalten die Gelegenheit, die "Scham im Ofen des Bösen zu verbrennen".
    Die Schande der Scham
    Ist ihnen das gelungen? Zumindest ist es Ihnen gelungen, die eigene Mitschuld zu verdrängen. Gründgens, indem er das Böse auf die Bühne verbannte und damit aus der eigenen Biografie auslagerte. Furtwängler wiederum flüchtete sich in die Immunität der klassischen Musik. Er strebte nach Momenten totalen Ergriffenseins, was wiederum Carl Schmitt als peinlich empfand. Denn Schutzlosigkeit, so Lethens Schmitt, locke nur Feinde an. Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch schließlich versteckte sich hinter den technischen Voraussetzungen seines Fachs. Im dritten Geistergespräch heißt es über seine Erfahrungen als Arzt im Ersten Weltkrieg:
    "Man könne sich gar nicht vorstellen, wie ideal die Experimentierbedingungen im Krieg gewesen seien. Die Entwicklung von neuen Operationsmethoden und Prothesen hat im Weltkrieg einen bedeutenden Aufschwung genommen. Die Kriegschirurgie arbeitete genauso effizient wie die Heereslogik, mit der sie verzahnt war. Die schiere Menge an Versehrten hat die Chance auf tragfähige statistische Forschungsergebnisse in bisher unbekanntem Ausmaß erhöht. In den Feldlazaretten standen so viele Amputierte als Versuchspersonen zur Verfügung wie nie zuvor."
    Und was tat Carl Schmitt? Er liebte die "kristalline Härte des totalen Staats". Schließlich war Ordnung das einzige Mittel gegen das Chaos, das der Liberalismus in den Köpfen der Intellektuellen hinterlassen hatte. Aus dieser Logik ergibt sich für den Staatsrechtler die einzig mögliche praktische Konsequenz:
    "Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch."
    Das Führerprinzip mitsamt seinem Ordnungsversprechen erhielt dann aber spätestens mit der Niederlage von Stalingrad erste Imageprobleme. Ataraxia, Herzenskälte war die selbst verordnete Imprägnierung der Vier gegen die Zumutungen der Wirklichkeit. Man konnte sie besonders gut "in großer Ferne von den aktuellen Frontlinien des Schmerzes entwickeln". Doch plötzlich waren die Frontlinien des Schmerzes unangenehm nah gerückt. Carl Schmitt gewöhnte es sich ab, in zu erobernden imperialen Großräumen zu denken, schreibt Helmut Lethen. Zunehmend erschien ihm Geschichte im Licht der Apokalypse.
    "In Extremsituationen des Überlebens ist seine Formel von Freund und Feind wertlos. Sie setzt de Einhaltung von Distanzen voraus. In der Umklammerung der verfeindeten Armeen in Stalingrad fielen bei extremer Kälte die noblen Distinktionen von Schmitts Theorie in sich zusammen."
    Auch Gustav Gründgens lässt im Laufe der vierziger Jahre die Masken fallen. 1941 und 1942 noch spielt er den Mephisto als "gefallenen Engel und zugleich als "tragische Verkörperung luziferischen Geistes". Am 26. Februar 1943, acht Tage nach Goebbels’ Aufruf zum "totalen Krieg", teilt er dem Reichsmarschall Göring mit, dass er die künstlerische Arbeit aufgeben wolle, um an die Front zu gehen. Er wurde allerdings schon 1944 wieder von dort zurückbeordert. Fortan fand sich sein Name auf der von Hitler und Goebbels persönlich erstellten Gottbegnadetenliste.
    Ferdinand Sauerbruch dagegen operiert sachlich wie eh und je und genehmigt ebenso sachlich Menschenexperimente in Konzentrationslagern. Privat trifft er sich allerdings mit den Verschwörern des 20. Juli. Helmut Lethen zeichnet das Bild eines verhinderten Liberalen im Panzer eines Halbgottes in Weiß. In einem Vortrag über den Schmerz, lässt er den Chirurgen an sämtlichen Stilisierungen zweifeln. Ernst Jüngers Heroismus zum Beispiel stößt ihn ab. Es sei schon richtig, lässt Helmut Lethen seinen Sauerbruch sagen, der Liberalismus habe gegen den Schmerz nicht mehr aufzubieten, als die Narkose. Er persönlich habe dagegen allerdings nichts einzuwenden.
    Und Wilhelm Furtwängler? Er fährt weiterhin einen undurchschaubaren Schlingerkurs:
    "Im Rückblick könnte man sagen, dass er dem NS-Staat indirekt gute Dienste geleistet hat, als er zu Beginn des Dritten Reichs in Paris, Zürich oder London mit deutschen Emigranten musizierte. Dem "Kind mit kleinen Bosheiten", wie Goebbels den Meister nennt, von dem auch Hitler schwärmt, lässt man manches durchgehen. Beim Anschluss Österreichs ist seine Stellungnahme als Prominenz gefragt. Furtwängler hält die "Rückkehr in das große gemeinsame Reich" für eine Selbstverständlichkeit. "Die Notwendigkeit aber Wirklichkeit werden zu lassen, ist die unauslöschbare Tat Adolf Hitlers." Mit dem Anschluss fasst er in Wien Fuß. Als leitender Dirigent gelingt es Furtwängler, den Wiener Philharmonikern einen Sonderstatus zu sichern, der es erlaubt, neun "Halbjuden" weiterzubeschäftigen."
    Sie zehrten von der Behauptung ihrer Unschuld
    Neben der unablässigen Suche nach stabilen Formen, die Carl Schmitt in der Freund-Feind-Logik seiner Staatstheorie, Sauerbruch im sterilen Operationssaal, Gründgens auf der Bühne und Furtwängler im Gemeinschaftserlebnis zu finden glaubten, eint die vier Exzellenzen aber noch etwas anderes. Nach 1945 zehrten die Staatsräte nämlich von der Behauptung ihrer Unschuld. Die verordnete Schamkultur empfanden sie als die wahre Beschämung. Und wieder spielt das ‚Handorakel‘ eine wichtige Rolle: Carl Schmitt dachte sich nach 1945 neue Verwendungsweisen für Graciáns Überlebensregeln aus. In den autoritären dreißiger Jahren konnte der Staatsrat sich noch an die machiavellistischen Devisen des Jesuiten halten, um Gefahr für das eigene Leben abzuwenden. In demokratischen Zeiten nutzte er die Maximen Graciáns dazu, die eigene Haltung im Dritten Reich zu begründen. Carl Schmitt 1948:
    "Begreife den Machthaber, der nach Dir greift; setze seinen Griffen keine Gegengriffe gleichen Niveaus entgegen; erprobe lieber an seiner Macht Deine Kraft zu Begriffen. Auch nach Deinen Begriffen wird er greifen. Doch laß ihn nur greifen. Er wird sich die Pfoten schneiden."
    Zumindest hat sich der neue Machthaber an Carl Schmitts Rolle im Dritten Reich die Zähne ausgebissen. Schmitt erhielt zwar Lehr- und Publikationsverbot, machte aber sein Haus im Sauerland zum Wallfahrtsort für Denker des konservativen Lagers. Besonders die dritte Graciánische Maxime Schmitts ist ein perfider Schachzug in Sachen Selbstverteidigung:
    "Laß Dich nicht von Leuten, die draußen in Sicherheit sitzen, zum Widerstand im Inneren aufputschen. Vergiß also nie den Zusammenhang von Schutz und Gehorsam."
    Auch Wilhelm Furtwängler kam juristisch davon. In den letzten Wochen des Krieges, so eine Pointe Lethens, lässt er sein Orchester zurück und flieht an den Genfer See. Ironie der Geschichte: Er unterzieht er sich dort einer Frischzellenkur. Dabei kann von Frischzellen keine Rede sein. Denn wäre er heute mit derselben Situation konfrontiert, hält Furtwängler später in seinen Erinnerungen fest, würde er sich "in der Hauptsache ebenso" verhalten. Furtwänglers Verteidigungslinie führt zum Erfolg.
    "Kunst steht in Wahrheit über den Nationen. Opportunismus wird dem Künstler als Grundrecht zugebilligt. Am 17. Dezember 1946 spricht ihn die Berliner Kommission frei."
    Gustav Gründgens wird ebenfalls unverrichteter Dinge aus der Haft entlassen. Seine Theaterkarriere nimmt ihren Lauf. Er wird 1954 mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet. Im Jahr darauf übernimmt er die Leitung des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Als er dort 1962 ein letztes Mal den "Hamlet" inszeniert, ersetzt er das Wort "Gewissen" in der Schlegel’schen Übersetzung durch das Wort "Bewusstsein". Jetzt heißt es also für alle hörbar:
    "So macht das Bewusstsein Feige aus uns allen."
    Die eigene Frage in Gestalt
    Auf einer der letzten Seiten lässt Helmut Lethen seine Staatsräte noch einmal zu einem fingierten Gespräch in Plettenberg zusammenkommen. Dort zeigt sich noch eine letzte Volte im Denken des leidenschaftlichen Antisemiten Schmitt. Sie bildet den leicht zu überlesenen Lichtblick in dieser moralischen Verfallsgeschichte, von der Helmut Lethen erzählt. Gustav Gründgens ist neugierig und will wissen:
    "In Künstlerkreisen erzähle man sich, dass Schmitt seine berühmte Definition des Feindes mit einem Satz des Expressionisten Theodor Däubler zurückgenommen habe: Der Feind seid nur die eigene Frage als Gestalt, genau betrachtet, das Eigene in der Gestalt des Fremden."
    Helmut Lethen deutet diesen berühmten Schmitt-Satz nicht aus. Er lässt ihn stattdessen geisterartig ins Offene gehen. Vielleicht dienten all die Distanzierungsmaßnahmen, all die Freund-Feind-Unterscheidungen und Maskenspiele der Kunst nur dem einzigen Zweck: Von sich selbst abzulenken! Helmut Lethens ideengeschichtliche Familienaufstellung, die etwas ungelenk zwischen Sachbuch und Dokufiktion angesiedelt ist, findet hier ein abruptes Ende.
    "Der eine sieht tastend den anderen an, die Geister trennen sich auf Nimmerwiedersehen."
    Von unheimlichen Nachbarschaften spricht Helmut Lethen auf den ersten Seiten seines Buchs. Ganz erschließen sich die Nachbarschaften nicht zwischen vier Männern, die sich in Wahrheit in dieser Konstellation nie getroffen haben. Sie mögen alle auf ihre Weise genial gewesen sein, jedoch auch auf ziemlich herkömmliche Weise käuflich. Helmut Lethen hat seine seit Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse über den Geist der Zwischenkriegszeit im Geistergespräch noch einmal gebündelt. Der Versuch, aus einer wissenschaftlichen Theorie ein lebendiges Stück Literatur zu machen, glückt ihm dabei nicht ganz. Zu wenig ist von den tatsächlichen Lebensumständen der vier Exzellenzen die Rede. Zu sehr geraten sie zu Thesenträgern, die einander im dozierenden Ton begegnen. Gelegentlich nickt einer ein, wenn ein anderer seinen Vortrag überzieht. Man nimmt diese Mängel des Buchs allerdings gerne in Kauf. Denn Helmut Lethen schafft es, in den essayistischen Exkursen der "Staatsräte" zur gelehrten Eleganz seiner früheren Bücher zurückzukehren. An Gustav Gründgens, Wilhelm Furtwängler, Ferdinand Sauerbruch und Carl Schmitt lässt sich studieren, wieso die Verhaltenslehren der zwanziger Jahre zur großen Kälte der dreißiger und vierziger Jahre geführt hat.
    Helmut Lethen: "Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt"
    Rowohlt Berlin Verlag, Berlin. 351 Seiten, 24 Euro.