Dienstag, 23. April 2024

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Hengsbach kritisiert Reformen

Klaus Remme: Als hätte Anfang des Jahres ein Dramaturg das innenpolitische Jahr entworfen. Der Reformprozess, publikumswirksam auf den Begriff Agenda 2010 reduziert, beschleunigte sich auf dem parlamentarischen Weg von Monat zu Monat. Knappe Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und eine Machtteilung zwischen Parlament und Bundesrat führten im Dezember zu einem furiosen Finale, das gestern in beiden Kammern für einen vorläufigen Abschluss sorgte. Milde schlich sich ein in viele Debattenbeiträge gestern. Da mag das bevorstehende Weihnachtsfest eine Rolle spielen, vielleicht aber auch die Tatsache, dass die Reformen am Ende parteiübergreifend beschlossen wurden, vielleicht war es auch nur eine gewisse Müdigkeit nach all den Anstrengungen in den vergangenen Wochen. Klar ist: So wichtig die beschlossenen Reformen sein mögen, die politischen Akteure holen nur Luft, denn im nächsten Jahr geht es weiter mit dem notwendigen Umbau unserer Gesellschaft. Nachdem die Schlacht zwischen Regierung und Opposition geschlagen ist, vielleicht kein schlechter Zeitpunkt innezuhalten, einen Blick zurück und einen nach vorne zu werfen. Wir wollen das tun mit Professor Friedhelm Hengsbach, Sozialethiker an der Hochschule St. Georgen. Herr Hengsbach, es war und ist ein quälender Prozess, den wir da in Berlin in den vergangenen Monaten beobachtet haben. War diese Art der politischen Auseinandersetzung vermeidbar oder müssen wir damit leben, dass Politik auch immer bewusst inszeniert wird?

20.12.2003
    Friedhelm Hengsbach: Sie haben eben schon richtig gesagt, Dramaturgie, fast operettenhaftes Spiel und die Inszenierung. Das ist sicher die eine Ebene, die so vielen etwas Unbehagen verursacht. Auf der anderen Seite muss man ja auch sagen, Gewinner ist eigentlich das System Deutschland. Es hat sich als handlungsfähig erwiesen. Ich vermute, dass die Position des Kanzlers erheblich gestärkt worden ist, aber auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass die Parteien sich in die staatlichen Prozesse, also in der Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat doch sehr massiv eingeschaltet haben. Es gab auch im Vermittlungsausschuss eine Arbeitsgruppe jenseits gleichsam der Mitglieder des Vermittlungsausschusses aus Ministerpräsidenten, aus vier oder fünf Parteivorsitzenden. Aber insgesamt muss man schon sagen, formal gesehen ist das System handlungsfähig, aber um welchen Preis? Das ist die große Frage.

    Remme: Sehen Sie in der deutschen Nachkriegsgeschichte eine Parallele zu diesem Umbau, wie er in diesem Jahr vorangetrieben wurde?

    Hengsbach: Es hat erhebliche Auseinandersetzungen gegeben zur Zeit der großen Koalition um grundlegende Entscheidungen, beispielsweise da die Notstandsgesetzgebung. Vorher hat es auch massive Auseinandersetzungen gegeben um die Wiederbewaffnung und überhaupt um die Westorientierung der Bundesrepublik. Aber das sind damals Entscheidungen gewesen, wo es eindeutige Alternativen zwischen Regierungsparteien und den Oppositionsparteien gab. Was jetzt geschehen ist, würde ich nennen, die politische Klasse hat sich und ihre Einkommensposition gesichert, indem sie nach unten getreten hat, indem sie also, ich will es mal so sagen, das Gitter zur Kellertreppe beseitigt hat und gleichsam den Zugang zum Kellereingang erleichtert hat für bestimmte Bevölkerungsschichten, denen es eindeutig schlechter gehen wird.

    Remme: Der Kanzler hat ja von Opfern für alle gesprochen, und er hat versprochen, es werde gerecht zugehen. Auch wenn Sie jetzt die Schwachen in dieser Gesellschaft ansprechen, sehen Sie das Versprechen bisher gehalten?

    Hengsbach: Gar nicht. Es ist wirklich der Versuch einer parteipolitischen Gruppe oder auch einer Bevölkerungsgruppe, die praktisch vom Risiko der Arbeitslosigkeit und des Sozialhilfebezugs weit entfernt ist, die Situation derer zu verändern, für die der Kündigungsschutz interessant ist, die die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt bekommen, die Arbeiten erledigen sollen, die bisher ihnen als nicht zumutbar galten, den Rentnern, den Kranken, den Versicherten, den Kommunen und den Erwerbstätigen praktisch, denen jetzt Bundesvermögen entnommen, entzogen und in private Kassen von Anlegern übertragen wird. Also ich denke, da gibt es eine ganze Gruppe, und zwar am unteren Rand der Gesellschaft, die schon jetzt riskant leben, deren Situation sich verschlechtert hat. Auf der anderen Seite will ich sagen, es ist überhaupt nicht sicher, dass durch diese Einschnitte mehr Beschäftigung entsteht und Wachstum erreicht wird.

    Remme: Wie könnte denn ein möglicher Gegenentwurf aussehen, der die ökonomischen Erfordernisse dennoch berücksichtigt?

    Hengsbach: Ich denke, man darf nicht vom äußersten Ende des Arbeitsmarkts ausgehen. Das ist, glaube ich, das große Fehlurteil, als sei der Arbeitsmarkt die Schlüsselgröße für Wachstum und Beschäftigung. Es ist auch jetzt wieder sichtbar, dass die Exportnachfrage anzieht, weil von außen ein Sog entsteht durch die Nachfrage nach Gütern, und wenn diese Nachfrage nach Gütern stark genug ist, dann wird auch der Arbeitsmarkt entlastet. Also müsste dafür gesorgt werden – und ich meine, das müsste in der Europäischen Union geschehen -, dass Wachstums-, Beschäftigungs- und Einkommenspolitik harmonisiert, koordiniert und gemeinsam angestoßen wird, damit also wirklich die noch nicht befriedigten Bedürfnisse und unerledigten Aufgaben der Öffentlichkeit erledigt werden, dass zum Beispiel das Arbeitsvermögen nicht dequalifiziert wird wie jetzt durch den Niedriglohnsektor, sondern aufgebaut wird, dass die Gleichstellung zwischen Männern und Frauen verbessert wird, dass die ökologische Umsteuerung praktisch auch beschleunigt wird und dass eine andere Einkommensverteilung, sowohl im privaten Bereich als auch im öffentlichen Bereich zwischen Bund, Ländern und Kommunen dafür sorgt, dass diejenigen, die Aufgaben zu erfüllen haben, auch das Geld dafür bekommen.

    Remme: Ich hatte eingangs gesagt, dass wir, die Bürger, diesen Prozess in Berlin beobachten konnten, durften, mussten. Wir sind aber ja auch schließlich Teil dieses Umbaus, und die SPD, die diesen vorantreibt, hat einen hohen Preis in den Umfragen in diesem Jahr bezahlt. Gerhard Schröder sah sich mehrfach mit dem Machtverlust konfrontiert. Kann die SPD diesen Umbau in Regierungsverantwortung überleben?

    Hengsbach: Wenn das Verfahren so fortgesetzt wird, wie es jetzt angefangen hat, dann nicht. Das war keine Reform, sondern ein Reformspektakel. Der Bundeskanzler hat vollmundig und ellenbogenstark gesagt, wir werden das jetzt durchziehen. Er hat seine Partei, seine Fraktion genötigt. Es hieß immer, es gibt keine Alternative. Die SPD hat Einschnitte vollzogen, die Bundeskanzler Kohl nicht vollzogen hätte, und die Opposition hat gleichsam das noch überbieten wollen, und das billige Dorftheater ist ja dann in diesem Rechenfehler offenbar geworden. Also insofern ist diese Szenerie, diese Dramaturgie, die Sie am Anfang beschrieben, auch wirklich ein billiges Schmierenstück am Ende geworden, und ich denke, wenn das so weitergeht, wird die SPD ihre Macht nicht behalten, und ich denke, es wird ein Wechsel der Regierung kommen, und dann mit klaren Verhältnissen, welche Partei den Sozialstaat aufbaut oder welche Partei den Sozialstaat zerstören wird.

    Remme: Vielen Dank für das Gespräch.