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Henryk Grynberg: "Der Sieg"
Flucht, Vernichtung und Verstellung

Jüdische Polen durchlitten zur Zeit des Zweiten Weltkriegs - und auch danach - Angst und Verfolgung. Die drei Erzählungen des polnisch-jüdischen Schriftstellers Henryk Grynberg, unter dem Titel "Der Sieg" erschienen, geben davon ein eindrückliches Zeugnis ab. Grynberg hinterfragt auch das Selbstbild Polens als tolerante Nation.

Von Martin Sander | 24.11.2016
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    In seinen Erzählungen beschreibt Henryk Grynberg den jüdischen Alltag in Polen vor und nach 1945. (imago / Reinhard )
    Wenn es um das Bild ihres Landes geht, stehen Polens Schriftsteller oft in unmittelbarer Konkurrenz zu den Historikern. Geschichte, zumal solche, über die nicht gern gesprochen wird, ist die Domäne der besten Autoren des Landes. Das gilt für den Nationaldichter Adam Mickiewicz wie für den emigrierten Nobelpreisträger Czesław Miłosz. Es gilt auch für den am 4. Juli 1936 in Warschau geborenen Henryk Grynberg.
    "Das ist eine polnische Tradition. Geschichte war vor allem Gegenstand der Literatur, als es keine unabhängigen Universitäten gab, also zur Zeit der Teilungen Polens im 19. Jahrhundert oder auch im Kommunismus. Durch ein literarisches Werk konnte man historische Wahrheiten schmuggeln, an der Zensur vorbei, in historischen Handbüchern ging das nicht."
    Autoren als Historiker
    Henryk Grynberg hat für sich eine eigene Form des dokumentarischen Erzählens gefunden. In Polen erschien 1965 gegen Widerstände der Zensur seine Erzählung "Der Jüdische Krieg". Die Kritik ließ den Autor abblitzen, aber auch die erste deutsche Ausgabe bei Suhrkamp 1972 fand nur eine (wenig begeisterte) Kritikernotiz.
    Grynberg schreibt im "Jüdischen Krieg" über seine Lage als Jude im Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive des Kindes. Die Familie flieht vor den deutschen Häschern und Verrätern aus der Nachbarschaft von Ort zu Ort in einer Dorfgegend östlich von Warschau. Der Erzähler bleibt lakonisch, das Unheil vermittelt sich in knappen Alltagsszenen und durch scheinbar harmlose Dialoge. Alles ist doppelbödig. Das Unausgesprochene prägt den Grundton.
    "'Und was ist das?', sagte der Förster. 'Spazierengehen? Am helllichten Tag?'… - 'Ach nur so … bisschen Luft schnappen …' - 'Mit dem Kind? Wird sich das Kind nicht erkälten? …' - 'Ach wo, erkälten… Das Kind ist abgehärtet.' - 'Das ist gut', sagte der Förster bedächtig. 'Das ist sehr gut', sagte er und sah mich an, und ich versuchte mich zu verstecken, und drückte den Kopf in Mamas Schoß, und Vaters Hände zitterten und konnten den Weg in die Tasche nicht finden… 'Ach, das ist nicht nötig, suchen Sie nicht…', sagte der Förster freundlich. 'Ich bin nicht grapschig, ich will nichts von anderen haben…' Vaters Hände bebten immer noch. 'Sie sind ein guter Mensch, Herr Förster', versuchte Mama ein Lächeln, aber ihr Gesicht zuckte so, dass sie es lieber ließ.
    Zwang zur Verstellung
    Dennoch muss die Familie zahlen, beim Förster und immer wieder. Es überleben nur wenige – der Erzähler und seine Mutter, weil sie auf der "arischen" Seite unterschlüpfen. Sie erleben das Kriegsende in einem abgelegenen Dorf, in dem sie niemand kennt. Die Mutter gibt sich als Witwe eines gefallenen polnisch-katholischen Offiziers aus. Im Leben des Kindes hinterlässt der Zwang zur Verstellung tiefe Spuren.
    "Und wir bekamen Schuldgefühle, weil wir verbotene Spiele spielten. Doch am schlimmsten war es mit der Unwahrheit, ganz besonders, wenn einer, so wie ich, eine Wahrheit hatte, die niemand erfahren durfte, und wenn er schon seit Anbeginn Tag für Tag lügen musste."
    Um Flucht, Vernichtung und Verstellung geht es auch in der zweiten Geschichte des Bandes – "Der Sieg". Hier knüpft Henryk Grynberg direkt an den "Jüdischen Krieg an". Das Jahr 1945 markiert in dieser Titelerzählung kein Ende aller Verfolgung. Für den Achtjährigen bedeutet es vor allem den Beginn eines weiteren schmerzhaften Rollenwechsels.
    "Ich hatte das Gefühl, dass ich schon ein Katholik geworden war und ich konnte mich nicht leicht damit abfinden, dass ich das alles nach Kriegsende wieder ablegen sollte. Eine Weile lang versuchte ich noch zur Kirche zu gehen und das Vaterunser aufzusagen. Es ging schrittweise. Dann war ich plötzlich unter anderen jüdischen Kindern. Und so wie ich mich den katholischen Kindern angepasst hatte, so fühlte ich nun, dass es ganz in Ordnung war, ein jüdisches Kind zu sein, kein katholisches. Später brachte ich eine Zeit in einem jüdischen Kinderheim zu, in Sanatorien, schließlich kam ich auf eine jüdische Schule, wo ich mich ganz und gar mit den Juden identifizierte."
    Überlebende unerwünscht
    Mutter, Sohn und ein paar Überlebende aus der Nachbarschaft ziehen nach dem Krieg ins zentralpolnische Lodz. In der Industriemetropole gibt es den Schutz der Anonymität und freie Wohnungen. In der jüdisch-polnischen Provinz, aus der sie stammen, in Dobre und den umliegenden Dörfern, sind Überlebende unerwünscht. Wer dort sein Eigentum zurückfordert, setzt sein Leben aufs Spiel.
    "Es waren andere Menschen. Diejenigen, die hier gelebt hatten, waren fort. Als wären wir tatsächlich nicht nach zwei, sondern nach zweihundert Jahren zurückgekehrt. Die Menschen umringten uns, betrachteten uns, immer mehr liefen herbei, um uns zu mustern, und alle wunderten sich laut und vernehmlich, dass wir lebten, bis wir selbst uns zu wundern begannen und ein Gefühl uns beschlich, als zögen wir unser Leben über Gebühr in die Länge."
    Die Erzählung "Der Sieg", die Grynbergs Leben in der unmittelbaren Nachkriegszeit im kommunistischen Polen schildert, erschien 1969 in Paris. "Der Sieg" stellt das Selbstbild Polens als toleranter, opferbereiter Nation radikal infrage. Während der Erzähler den "Jüdischen Krieg" knapp und kommentarlos darstellt, dabei stets nah am Geschehen wirkt, spürt man in "Der Sieg" eine stärkere Distanz, die Grynberg zu Reflexionen nutzt.
    "Unsere Erzieher waren erwachsen, und als Erwachsene hatten sie den Krieg erlebt. Doch wäre es nicht richtig zu sagen, dass sie uns hinters Licht geführt hätten. Sie wussten damals noch nicht, wie wenig sich der Frieden vom Krieg unterscheidet. Der im Grunde nie zu Ende geht, sich nur versteckt unter der Oberfläche des Lebens, um im Verborgenen fortzudauern. Wir spüren das und haben deshalb ständig Angst. In einer Hinsicht nur ist der Krieg vielleicht besser: Solange Krieg ist, wartet man auf den Frieden. Und glaubt tatsächlich, dass es ihn gibt."
    Krieg unter der Oberfläche
    Der Krieg gegen die Juden tobt 1945 weiter – nur weitgehend unter der Oberfläche. Um diesen Gedanken kreist auch "Vaterland", die dritte Erzählung, in der der Ich-Erzähler als junger Mann in Warschau lebt, Journalismus studiert, zu schreiben beginnt und als Schauspieler am Jüdischen Theater auftritt. Mit feinem Gespür geht Grynberg den Wandlungen des Zeitgeistes nach. Wenn es um die grotesken Seiten des kommunistischen Alltags geht, kann der Erzähler sogar witzig sein.
    Doch insgesamt prägt auch "Vaterland" ein Grundton von Bedrückung und Angst. Gewisse Freiheiten, die sich Polen nach Stalins Tod nehmen kann, entpuppen sich als Freiheiten der Mehrheitsgesellschaft. Deren Protagonisten nutzen sie dann als Schikane gegen Minderheiten. Für einen Holocaustüberlebenden heißt das: Benachteiligung im Beruf, Pöbeleien, Prügeleien, Ausgrenzung. Die große antisemitische Kampagne, mit der 1968 Zehntausende aus dem Land vertrieben werden, erscheint als Szenario, das sich über Jahre aufbaut.
    "Am unangenehmsten wurde es dann, als Radio und Presse immer öfter Meldungen verbreiteten, dass diesem oder jenem Bürger aus diesem oder jenem Dorf eine Auszeichnung verliehen worden war für seine besondere Hilfe, die er Menschen jüdischer Herkunft geleistet hatte, die sich während der Besatzung versteckt hielten – bis am Ende die Bauern dachten, die Juden verliehen jetzt Orden. Nur eines schätzten sie nicht richtig ein. Ihrer Meinung nach standen die jüdischen Aktien gut. Sie hörten nicht, dass im Radio der Ton die Musik macht und sie begriffen nicht, was zwischen den Zeilen stand."
    Denkmalkult um polnische Judenretter
    Zwischen den Zeilen und bald ganz offen heißt es: Wir Polen haben Juden vor den Deutschen gerettet, und sie sind uns auch noch undankbar. Dieser Atmosphäre ist Henryk Grynberg bereits 1967 entflohen. Während einer Tournee des Jüdischen Theaters setzte er sich in die USA ab. Auch nach der Wende, in den Zeiten der liberalen polnischen Demokratie, blieb er in den USA. Die jüngsten Entwicklungen in der alten Heimat schrecken ihn ab: der politische Druck der Nationalkonservativen auf Antisemitismusforscher oder der neue Denkmalkult um polnische Judenretter:
    "Das erinnert mich sehr an diese antisemitische Kampagne damals, als man sich auf diese polnischen Judenretter berief, um Juden zu verfolgen. Zu solchen Verfolgungen ist es im Augenblick noch nicht gekommen. Aber man ist auf dem Weg dahin."
    Henryk Grynbergs Erzählungen, vor einem halben Jahrhundert entstanden, sind also hochaktuell. Diese literarische, autobiografisch verbürgte Chronik jüdischen Alltags auf polnischem Boden zwischen 1942 und 1967 liest sich mitunter so, als wäre es Gegenwart.
    Die erste Erzählung "Der jüdische Krieg" erscheint in der alten, gut lesbaren und minimal veränderten Übertragung von Vera Cerny aus der Suhrkamp-Ausgabe von 1972. Die demgegenüber erstmals auf Deutsch vorliegenden Erzählungen "Der Sieg" und "Vaterland" hat Lothar Quinkenstein kongenial übersetzt und dazu ein lesenswertes Nachwort verfasst.
    Henryk Grynberg: "Der Sieg". Drei Erzählungen.
    Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2016, 333 Seiten, 22,00 Euro.