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Herbert Fritsch an der Schaubühne
"Null" ist sehr viel mehr als Nichts

Vor über vierzig Jahren entwickelte der Regisseur Herbert Fritsch in Heidelberg sein spektakuläres Performance-Format "Null"-Show, das der Idee folgte, einen Theaterabend ganz ohne jede Vorbereitung zu gestalten. Sein neues "Null"-Stück ist ein kongeniales Selbstzitat.

Von Michael Laages | 25.03.2018
    Eine Reihe Schauspieler an Seilen hängend
    Szene aus dem Theaterstück "Null", inszeniert von Herbert Fritsch an der Berliner Schaubühne, März 2018 (Schaubühne / Foto: Thomas Aurin)
    Ein bisschen Mogeln gehört ja zum Handwerk. Denn zwar mag das Ensemble um Herbert Fritsch für "Null" ja tatsächlich bei Null angefangen haben, also mit nichts in der Hand und nur dem Plan im Kopf, keinem Plan zu folgen - aber natürlich steht am Ende der Arbeit nicht etwa nichts, sondern ein unbedingt repertoirefähiges Spektakel, auf dessen Publikumswirksamkeit sich die Schaubühne verlassen kann.
    Das eben unterscheidet diese "Null"-Show von der "Null"-Show damals - die, das wissen Zeugen, wirklich jeden Abend anders und völlig unvorhersehbar war. Manchmal habe der entfesselte Performer das Publikum auch mit dem Feuerlöscher angegriffen. Und auch von einer anderen rabiaten Kunst-Behauptung hält Fritsch sich tunlichst fern: von fundamentaler Verweigerung wie in "4'33", der berühmten Komposition von John Cage, die aus vier Minuten und 33 Sekunden Stille besteht, plus Notenumblättern. Die "Null" bei Fritsch markiert demgegenüber ein ziemlich positives und sehr präsentes Nichts.
    Immerhin: Fast eine Null ist der Raum, den Fritsch ja meist selbst entwirft. Der nackte Waschbeton des Bühnenraums mit Türen hinten und großem Kulissentor rechts wird verziert durch eine sparsam für Schattenspiele genutzte Leinwand links sowie überwiegend rote Punkte und Quadrate, die aber nur aus den höheren Reihen zu sehen sind. Funktion kommt ihnen erst im Schlussbeifall zu. Das Ensemble, fünf Stück Mann, drei Stück Frau zuzüglich des musikalischen Leiters, kommt herein karriolt wie zur Probe und tatsächlich ist der Text, wie er nun knapp eine Viertelstunde durcheinander geplappert wird, den Regieanweisungen und Debatten des Ensembles abgelauscht. Vielleicht lief irgendwann mal ein Tonband mit. Inhalt? Fehlanzeige. Am Ende dieser Etappe steht geformtes Gebrabbel.
    Wie Marionetten an Schnüren
    Dann haken sich alle in Tragseile aus der Obermaschinerie ein und die lässt sie zu Marionetten werden, zu Puppen, zu Kipp-Figuren, die nach vorne und nach hinten fallen, in der Luft sitzen und fliegen können. Dann ist Pause, pünktlich zur Welt-Verdunkelung um halb neun gestern Abend - macht die Schaubühne etwa da mit und zieht - ökologisch korrekt - den Stromstecker?
    Das dann doch nicht. Die Techniker montieren jetzt eine monströse, in jedem Fingerglied hydraulisch bewegliche Hand unter die Bühnendecke - grandiose Arbeit, aber auch sie ziemlich sinnfrei. Einmal, kurz nach der Pause, versucht die göttliche Hand das wiedergekehrte Ensemble quasi in den Boden zu drücken, sonst bewegt sie sich, tut aber eher nichts. Oder eben "null". Aber die Fritsch-Truppe zelebriert jetzt ulkige Renn- und Schreit- und Kreis-Choreographien bis einer sich nach hinten hinausstiehlt, und mit einem Gabelstapler zurückkehrt. Der hebt nun einen Akteur an die bis dahin nutzlose Disco-Stange ziemlich weit vorne. Später fahren Stapler und Ensemble komplett in den Keller und kommen mit Blasinstrumenten zurück. Alle blasen vor allem Luft durch die Instrumente und klappern mit den Ventilen bis zum donnernden Finale.
    Sehnsucht nach einem richtigen Stück
    Danach streiten Hand und Gabelstapler noch ein wenig miteinander, wer das letzte Wort behalten darf, die Menschen sind längst weg. Natürlich verbreitet dieses grandiose Ensemble unendlichen Spaß: Ruth Rosenfeld, Jule Böwe und Carol Schuler, Bastian Reiber und Florian Anderer, Axel Wandtke und Bernardo Arias Porras, Werner Eng und Musikchef Ingo Günther. Alle nutzen die Chance, sich für fast jeden Augenblick fast neu zu erfinden mit den eigenen Talenten. Sicher ist genau das schon der Sinn, in jedem Fall Ziel und Zweck der "Null".
    Und doch gibt’s auf die Dauer immer öfter Momente, in denen das Fehlen eines irgendwie ernsthaften Materials auffällt, in denen das "Etwas" vermisst wird, um das es gehen könnte. Wie, wenn der Regisseur sich wieder mal ein Stück vornehmen würde, ein richtiges Stück? Denn vielleicht steht Herbert Fritsch ja doch haarscharf am Rande der "4'33"-Falle. Und auch treuere Gefolgsleute beginnen zu spüren, dass mehr als "Null" und nichts nicht geht, immer nur weniger.