Donnerstag, 18. April 2024

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Herfried Münkler
"Europa braucht eine motivierendere Erzählung"

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hält Europa für nicht handlungsfähig, wenn die Länder stets "auf Heller und Pfennig" nachrechneten, ob sich die Gemeinschaft für sie lohne. "Wir brauchen eine Erzählung, die die Emotionalität der Menschen in Anspruch nimmt", sagte Münkler im DLF.

Herfried Münkler im Gespräch mit Jasper Barenberg | 01.07.2015
    Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler zu Gast in der ARD-Talkshow "Anne Will" am 6. Mai 2015
    Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Die Europäische Union habe sich in mancher Hinsicht überdehnt, sagte Münkler im Interview mit dem Deutschlandfunk. Durch ihre Erweiterung habe sie mehr Zentrifugalkräfte aufgebaut als sie die Fähigkeit habe, die Mitgliedsstaaten zusammenzuhalten. Kompromisse zu finden, sei kaum mehr möglich. Die alte "Europaerzählung" trage nun nicht mehr. "Europa braucht eine motivierendere Erzählung mit der Funktion, eine Perspektive aufzumachen, die größer ist als das Nachzählen von Einzahlungen auf Heller und Pfennig", so Münkler.
    Mit den Erweiterungsrunden seien in die europäische Gemeinschaft Akteure hinzugekommen, die mit Aussicht auf Prosperitätssteigerung eingetreten seien, so der Politologe. Die Europäer hätten sie mit Blick auf politische Stabilität aufgenommen. Zudem habe man das Mantra wiederholt, "Europa wird durch Krisen immer stärker". Das könne er auch derzeit wieder vernehmen, doch habe sich das "als Pfeifen im Wald" erwiesen und in diesem Sinne sei der "Euro letzten Endes naiv in die Welt gesetzt" worden.
    Den möglichen Austritt Griechenlands aus dem Euro sieht der Berliner Politikwissenschaftler nicht als ökonomisches, sondern in erster Linie als geopolitisches Problem für Europa an. "Die russische Karte" habe Griechenland bereits ins Spiel gebracht. Die Zukunft Europas und des Euros hänge nun an der Politik der Bundesregierung, sagte Münkler.

    Das Interview in voller Länge
    Jasper Barenberg: "In einer immer engeren Gemeinschaft liegt die Zukunft der Europäischen Union." So steht es in den Verträgen. Und in diesem Geist ist auch die gemeinsame Währung angelegt und gegründet worden, dass der Franc und die Deutsche Mark, dass der Peso und auch die griechische Drachme unwiderruflich aufgegeben wurden, durch den Euro ersetzt. Jetzt, wo Griechenland am Abgrund steht und am Scheideweg, steht dieses Prinzip zum ersten Mal mit Händen zu greifen zur Disposition. Wie kann Europa noch zusammengehalten werden? Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat sich auch mit dieser Frage beschäftigt. Er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen nach Berlin.
    Herfried Münkler: Guten Morgen, Herr Barenberg!
    Barenberg: Es wird sich erst noch zeigen müssen, ob es wirklich dazu kommt. Aber ein Ausscheiden Griechenlands rückt ja in greifbare Nähe. Zunächst einmal ist jetzt das Hilfsprogramm beendet, kann Griechenland seine Schulden beim IWF nicht mehr bedienen, ein Referendum steht vor der Tür und die Meinungen gehen hin und her. Wenn wir einen Augenblick mal einen Schritt zurücktreten inmitten dieser Unübersichtlichkeit, was sehen Sie da?
    Münkler: Na ja. Die Europäische Union oder die europäische Gemeinschaft hat sich in mancher Hinsicht überdehnt. Das heißt, sie ist größer geworden und sie hat dadurch mehr Zentrifugalkräfte aufgebaut, als sie umgekehrt die Fähigkeit hat, das zusammenzuhalten. In der Imperien-Theorie nennt man das imperiale Überdehnung, und in gewisser Hinsicht kann man das im Augenblick ganz gut beobachten. Griechenland ist ja nicht das einzige Problem; Großbritannien ist möglicherweise das andere Problem; Ungarn macht einem sehr große Sorge im Hinblick auf liberale Rechtsstaatlichkeit und die Unmöglichkeit, verbindliche Zahlen bei der Verteilung von Flüchtlingen, sozusagen eine organisierte Solidarität der Europäer durchzusetzen in der vergangenen Woche, ist auch ein bedenkliches Zeichen.
    Barenberg: Die Kompromissmaschine wird Brüssel ja oft genannt, weil es bisher noch immer gelungen ist, irgendeinen Weg zu finden, mit dem sich dann am Ende alle, wenn auch unter Schmerzen abfinden konnten. Dass es jetzt nicht gelingt, das kann man wohl nicht nur oder nicht ausschließlich der Linksregierung in Griechenland zuschreiben, denn wir reden ja seit fünf Jahren über Reformen und über Verhandlungen und es gibt keine Einigung. Was ist aus Ihrer Sicht der Grund dafür?
    Münkler: Man kann ja sagen, in der Vergangenheit sind Kompromisse in Brüssel auch darum möglich gewesen, weil sie schlussendlich von Deutschland finanziert worden sind. Das gehört gewissermaßen zur Gründungsgeschichte der alten EWG dazu. Das ist auch nicht jetzt schlimm gewesen. Man kann sagen umgekehrt: Sowohl die alte Bundesrepublik als auch das wiedervereinigte Deutschland ist ja auch der Hauptnutznießer dieser ursprünglich Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dann EG und EU. Insofern ist das im Prinzip in Ordnung gewesen. Nur das hat natürlich auch bestimmte Grenzen und diese Grenzen, jedenfalls was die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung anbetrifft, diese Belastungen zu tragen, sind offenbar erreicht. Jedenfalls ist eine so großzügige Finanzierung von Kompromissen, wie das früher der Fall gewesen ist im Hinblick auf die französische Agrarpolitik oder andere Fragen, also letzten Endes auch dem sogenannten Briten-Rabatt, ist das nicht mehr möglich, weil es einfach zu viele sind und weil darüber dann Präzedenzfälle mit anschließenden Lerneffekten entstehen. Also kurzum: Das ist in dieser Weise nicht mehr möglich, diese Kompromisse herzustellen und dann zu sagen, wir kriegen das alles schon hin und das wird keine negativen Folgen haben. Wir sehen zurzeit die negativen Folgen.
    "Euro letzten Endes naiv in die Welt gesetzt"
    Barenberg: Wenn man außerdem darauf schaut, in welch rüdem Ton in den vergangenen Monaten diese zermürbenden Verhandlungen geführt wurden, dass die einen die anderen da als Erpresser beschimpfen beziehungsweise als unprofessionelle Kindsköpfe und Ideologen. Muss man dann unterm Strich nicht jetzt schon zu dem Schluss kommen, dass der Euro als ökonomisches Instrument gescheitert ist, der Euro als Projekt, der Integration fördern sollte, Annäherung, Zusammenarbeit?
    Münkler: Ja, das hat alles auch ein bisschen mit der großen Europaerzählung zu tun beziehungsweise dem Umstand, dass die nicht mehr trägt. Das war eine Erzählung, die im Prinzip auf die Benelux-Staaten, Frankreich, Deutschland und eigentlich auch noch Italien bezogen war, also auf die alte EWG. Und mit den Erweiterungsrunden sind Akteure hinzugekommen, die eher eingetreten sind mit der Aussicht auf Prosperitätssteigerung, und die Europäer haben sie aufgenommen im Hinblick auf politische Stabilität. Dann hat man sozusagen auch noch das Mantra gehabt, Europa wird durch Krisen immer stärker. Das hört man ja jetzt auch wieder. Aber das erweist sich jetzt als Pfeifen im Walde und in diesem Sinne hat man den Euro letzten Endes naiv in die Welt gesetzt. Man hat ihn nicht hinreichend politisch abgesichert und man hat Länder hineingenommen wie etwa Griechenland, die von Anfang an nicht hinein gehört hätten, und wenn man genauer hingeguckt hätte, hätte man das auch gesehen. Insofern hat der Euro Spaltkräfte, Spaltungslinien innerhalb der Europäischen Union sichtbar gemacht und auch zu einer Wiederkehr von nationalistischer Sprache, die schon erstaunlich ist, und da muss man genau hingucken.
    Man muss sich nur einmal überlegen, deutsche Politiker hätten Begriffe in den Mund genommen, wie sie von der Syriza-Regierung gepflegt werden, wie "die Ehre Griechenlands", "die Knechtschaft des griechischen Volkes", "die Demütigung". Das wären bei uns Begrifflichkeiten gewesen, die knallrechts sind, die von keiner Partei, die im Bundestag vertreten ist, so je verwandt werden. Jenseits des Bündnisses mit Herrn Kammenos und seinen Rechtspopulisten sind die Linkspopulisten in Griechenland eigentlich eine nationalistische Partei.
    "Gelegentlich ist eine Verkürzung eine Stärkung"
    Barenberg: Jetzt haben Sie in einem Buch kürzlich argumentiert, dass Deutschland lange vor einer Führungsrolle in Europa zurückgeschreckt ist, dass sie ihr, der Bundesrepublik, inzwischen aber gleichsam natürlich in der Mitte Europas zufällt und dass Deutschland lernen muss, diese Rolle erst noch auszufüllen. Kann man jetzt sagen, oder würden Sie sagen, wenn man die Rettungspolitik der Kanzlerin sich anschaut, dass Angela Merkel gerade an dieser Aufgabe derzeit scheitert?
    Münkler: Das würde ich so nicht sagen, denn es gibt ja nicht nur das Problem eines Scheiterns im Sinne des Austritts Griechenlands, sondern es gäbe auch das Problem eines Zerbrechens der Europäischen Union entlang dessen, was man eine Zeit lang mal den Nordeuro und den Südeuro genannt hat, also ein nördliches Europa und ein südliches Europa. Und ich glaube, dieses größere Problem ist gelungen zu verhindern, von dem man sagen muss, darauf haben die Griechen im Prinzip ja gespielt. Sie haben ja gerechnet damit, dass sie Unterstützung in Spanien, Portugal und Italien bekommen und darüber eine Front aufmachen, an deren Spitze sich dann Frankreich stellt, sozusagen gegen die nördlichen Austeritätsländer oder wie auch immer man das genannt hat. Dieses Projekt, es hat so nicht funktioniert, sondern sie sind gewissermaßen gegen die restlichen europäischen Länder angerannt, und insofern muss man sagen, ja, die Funktion, Europa zusammenzuhalten, ist eine sehr allgemeine. Das heißt aber nicht zwingend, dass es alle sein müssen. Wenn das, was ich vorhin imperiale Überdehnung genannt habe, zutrifft, dann kann man auch sagen, gelegentlich ist dann eine Verkürzung eine Stärkung.
    "Ein Austritt Griechenlands, ein geopolitisches Problem"
    Barenberg: Gelegentlich, sagen Sie, aber nicht prinzipiell, denn Sie haben auch geschrieben, die EU wird eine Abspaltung der Gemeinschaftswährung nicht überleben.
    Münkler: Ja. Das meine ich natürlich in dem Sinne, dass der Euro zerfallen würde in großem Stil. Ein Austritt Griechenlands, das ist, glaube ich, kein ökonomisches Problem, sondern das ist ein geopolitisches Problem. Das war ja gewissermaßen dann der zweite Versuch der Griechen, Brüssel zum Einlenken oder zum Schuldenschnitt zu bringen, indem man alternative Bündnisstrukturen oder Näherungen, nämlich die russische Karte ins Spiel brachte, und da ja bekanntlich die Südostflanke der Europäischen Union eher weich ist mit Rumänien und Bulgarien, ist das in der Tat ein bedenkenswerter Punkt jenseits der Symbolik. Also halten wir fest: Ökonomisch - das hat sich ja gestern und vorgestern gezeigt - ist das eigentlich verkraftbar. Symbolisch ist es ein Rückschlag für Europa und geopolitisch ist es allerdings ein ernster Punkt, weil man dann überlegen muss, wie man diesen Bereich stabilisiert, und insofern wird vermutlich auch ein aus dem Euro ausgeschiedenes oder wie auch immer agierendes Griechenland weiterhin auf erhebliche Zuwendungen aus Brüssel und damit auch aus Deutschland angewiesen sein.
    "Wenn Europa nach Kassenlage verwaltet wird, wird es das nicht durchstehen"
    Barenberg: Ökonomisch mag ein Grexit durchaus tragbar sein. Politisch, sagen Sie, wäre es ein Rückschritt. Heißt das auch, dass Europa daran wachsen kann, dass es verkraften kann, wenn ein Staat aus der Eurozone ausscheidet, weil das dann dieser Erzählung, von der Sie gesprochen haben, natürlich auch eine neue Richtung geben würde? Es ist nicht unumkehrbar!
    Münkler: Ja. Diese Erzählung muss allerdings auch neu konturiert werden. Ich meine, es ist im Prinzip eine Erzählung, die sich dreht um die Geschichte, es wird keinen Krieg mehr in Europa geben. Das bezieht sich aber eigentlich auf den Ersten Weltkrieg und hier vor allen Dingen auf das Verhältnis Deutschland-Frankreich. Europa braucht eine weiterreichende, eine motivierender Erzählung, und diese Erzählung, also das europäische Narrativ, oder wie auch immer man das nennen will, hat die Funktion, eine Perspektive aufzumachen, die größer ist als das Nachzählen von Einzahlungen und Auszahlungen auf Heller und Pfennig. Und weil diese Erzählung zurzeit diese Stärke nicht hat beziehungsweise Teile Südeuropas und Teile Ostmitteleuropas nicht umfasst, fangen die an, auf Heller und Pfennig zu rechnen, ob sich für sie Europa lohnt. Unter diesen Umständen ist Europa im Prinzip nicht handlungsfähig. Das ist eine Überforderung der Institutionen. Sie brauchen eine Erzählung, die gewissermaßen die Emotionalität der Menschen in Anspruch nimmt, ein gemeinsames Projekt, für das man auch bereit ist, einzutreten und gelegentlich größere oder kleinere Opfer zu bringen. Wenn Europa sozusagen nach Kassenlage verwaltet wird, dann wird es das nicht durchstehen.
    Barenberg: Viele setzen da ja auf eine noch engere Zusammenarbeit, auf eine noch stärkere Konvergenz in verschiedenen Politikbereichen. Sie haben gesagt, dass für Sie diese Kraft nicht aus einer stärkeren Demokratisierung, auch nicht aus einer stärkeren EU-Kommission erwachsen kann, sondern eben aus einer Führungsrolle, die unter anderem Deutschland annimmt.
    Münkler: Ja. So wie im Augenblick die Dinge sind, muss man sagen: Wenn Demokratisierung heißt, jedes Land macht seine Referenden, dann ist das nicht ein Zusammenwachsen Europas, sondern man erhöht dadurch im Prinzip seine Verhandlungsmacht. Das gilt für Herrn Cameron, diese Karte hat jetzt Tsipras gespielt. Europa war in seinen Anfängen ein Elitenprojekt, von dem man gedacht hat, man kann es gewissermaßen kostengünstig oder kostenneutral neutralisieren. Das hat so nicht funktioniert. Und wenn man meint, man müsse jetzt unbedingt den Demokratisierungsweg weitergehen, dann ist das im Prinzip eine Einladung, permanent mit Referenden zu arbeiten. Überlegen Sie sich: Wenn in der gegenwärtigen Situation die bundesdeutsche Bevölkerung analog zur griechischen aufgefordert würde, darüber abzustimmen, was die Höchstsumme sei an Nettoeinzahlungen in den EU-Haushalt.
    Barenberg: Sahra Wagenknecht von der Linkspartei schlägt genau das gerade vor.
    Münkler: Genau. Das wäre das Ende Europas. Ich meine, Frau Wagenknecht hat an Europa ja offenbar kein besonders großes Interesse. Sie hat es aber auch nie verstanden, was dieses Projekt bedeutet. Das heißt, man muss darauf verzichten, im Prinzip auf der nationalen Ebene Demokratie aufzurufen, und wenn man Demokratie aufruft auf der europäischen Ebene, aber diese europäische Ebene gibt es in der Weise nicht, weil es auch keine europäischen Parteien gibt, sondern nur nationale Parteien, die sich im Europaparlament dann zu Fraktionen zusammenschließen, und weil es auch keine europäische Öffentlichkeit in dem Sinne gibt. In der augenblicklichen Situation, nicht auf ewig würde ich das sagen, aber in der augenblicklichen Situation hängt alles an der Politik der Bundesregierung, ob der Euro das übersteht und ob letzten Endes das Europaprojekt das übersteht und wie groß und strukturiert Europa in den nächsten Jahren sein wird. Man muss nur das Gegenbeispiel sich überlegen, die Bundesregierung wäre eine Regierung wie die rechtspopulistischen und linkspopulistischen Regierungen in Griechenland oder andere. Dann wäre klar: Dann wäre Europa morgen am Ende.
    Barenberg: ... sagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler von der Humboldt-Universität in Berlin. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen, Herr Münkler.
    Münkler: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.