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Hermann Kinder: "Der Weg allen Fleisches"
Schonungsloser Blick auf die menschliche Endlichkeit

Der Protagonist in "Der Weg allen Fleisches" wird schwer krank und lebt unter ständigen Schmerzen. Autor Hermann Kinder zeichnet die körperliche Ohnmacht eines älter werdenden Mannes nicht weich, sondern beschreibt sie radikal und offen.

Von Sabine Peters | 15.05.2014
    Zwei Senioren sitzen an einem kleinen Teich.
    Hermann Kinder erinnert mit seinem Buch an die Endlichkeit des Lebens. (picture alliance / dpa-ZB / Soeren Stache)
    Hermann Kinders neue Erzählung trägt den lakonischen Titel "Der Weg allen Fleisches" - eine Erinnerung an unsere Endlichkeit. Dieses Motiv hat den 1944 geborenen Autor schon in vorausgegangenen Romanen beschäftigt, und das neue Buch ist eine staunenswerte literarische Weiterentwicklung, eine virtuose Variation des Themas.
    "Der Weg allen Fleisches": Es geht um einen Mann, der leichten Herzens auf dem Rad durch die Landschaft flitzt, alle Zeit auf Erden scheint ihm zu gehören. Aber dann wird es unerwartet schwer mit dem Atmen. Schließlich heißt die Diagnose "Lungenemphysem" - und als reiche diese unheilbare Krankheit nicht, fängt er sich nach und nach allerhand anderes ein: Herzinfarkt, Morbus Wegener, Netzhautablösung, Rippenbruch, Aneurysmen und Embolien, wegen denen schließlich ein Vorfuß amputiert wird. Dieser ganze körperliche Verfall kann immer noch weitergehen - er lebt unter einem Damoklesschwert, und er weiß es. Dabei geht diese Erzählung nicht schematisch Schritt für Schritt bergab, es gibt unverhoffte Aufschwünge und Freudenblitze.
    Farbige Zeichnungen ergänzen Text
    Hermann Kinder hat seinem Text einige farbige Zeichnungen beigefügt, die viel mehr als bloße Illustrationen sind, sie haben ihre eigene Sprache, ihre eigenwillige Ausstrahlung. Eins seiner Bilder zeigt einen unförmigen Alten mit übergroßen Ohren, aufgedunsenem Gesicht und aufgeblähtem Bauch, nackt bis auf die langen Thrombosestrümpfe; er macht Gehversuche mit einer Krücke, und das ist ein Fortschritt. Denn dieser Mann liegt auf einem anderen Bild einige Seiten vorher noch fest im Krankenhausbett, das Gesicht maskenhaft starr, der ganze Mensch scheint allenfalls noch von Beatmungs- und anderen Schläuchen zusammengehalten zu werden. Viele Seiten später eine weitere Zeichnung: An einer schweren Maschine baumelt ein klobiges Männchen, bemüht und dabei lachhaft wie ein Hampelmann, - oder zieht die Maschine das Männchen vom Stuhl? Jedenfalls geht es in der Reha offensichtlich "aufwärts".
    Dem Freudschen Satz "das Ich ist nicht Herr seiner selbst" kann man abstrakt leicht zustimmen und über die große Macht des Unbewussten sinnieren. Aber was, wenn sich der Körper in zunehmender Ohnmacht mächtig meldet? Der beeinträchtigte Körper zwingt den Menschen ganz konkret, auf einen Teil seiner Autonomie zu verzichten, etwa so: Man geht nicht, man wird geschoben. Dieser demütigende Verlust an Unabhängigkeit hat unendlich viele Gesichter, so wie auch die Maßstäbe für das Gelingen eines Tages unendlich vielfältig sind. In seiner Rollstuhlphase scheitert Kinders Held häufig schon daran, ein Gewürztütchen aus dem Küchenregal zu angeln. Aber was ist es für ein großer Tag gewesen, als er es im Krankenhaus erstmals wieder allein ins Bad schaffte und sich am Waschbecken Wasser über die Hände fließen lassen konnte. Das Auf und Ab von Gelingen und Scheitern spannt diese Erzählung bis zum Zerreißen, verleiht ihr eine außerordentliche Dichte. Eine Intensität, die den Leser dabei nicht erschlägt, nicht überwältigt.
    Mit "Sinn", mit "Bedeutung" kann man Leser erschlagen. Aber Hermann Kinder will Schmerzen nicht mit den höheren Weihen einer Bedeutung, gar einer Lehre versehen. Gerade aus dem Kollabieren von Sinn entsteht bei ihm eine federnde Komik; sie reicht mal ans Groteske, dann wieder wirkt diese Komik herzstärkend, weil sie nicht über Not lacht, sondern aus ihr raus.
    Autobiografische Züge
    Kinders neues Buch hat autobiografische Züge, und doch ist es weit entfernt von allem, was man mit "Nabelschau" oder mit "Bekenntnisliteratur" verbindet. Das hat mit einer Struktur zu tun, die Schriftsteller in allen Zeiten interessiert hat und die auf das Buch Hiob zurückgeht: Man stellt sich zwei Personen in einer vor; die eine geht unter, die andere bleibt, um von ihr Zeugnis zu geben. Hermann Kinders dreiteilige Erzählung spricht im ersten und letzten Kapitel aus einer gewissen Distanz von der dritten Person, von dem, was "ihm" und seiner Frau, aber auch seinen Leidensgenossen, den vielen anderen Kranken und Alten da und dort so widerfährt - da wird "er" schon durch das Netz verschiedener anderer Figuren relativiert. Im Mittelteil spricht ein "ich". Da entsteht aus lauter Traumstücken ein anrührendes, schräges Selbstporträt. Verschiedene Lebensphasen und Orte schweben durcheinander, Unglaubliches und Logisches sind miteinander vermengt. Individuelles und Exemplarisches fließen auch in den Träumen des Mittelteiles ineinander, etwa so: "Ich" bin nicht ordentlich für eine Arbeit vorbereitet, hab´ mich verlaufen, komm zu spät, die anderen sind weg. "Ich" tanze vor Glück mit dem nächsten Menschen zusammen, fliege hoch über einer Lieblingslandschaft - in den Träumen ist alles verkehrt, und doch stimmt alles.
    Hermann Kinder ist ein beglückend vielstimmiger Schriftsteller. Er ist erfinderisch in seinen Wortbildungen; das Tempo wechselt je nach Situation nachvollziehbar zwischen halsbrecherischer Geschwindigkeit und geruhsamem Schweifen. Seine Sätze können durchdringend, schneidend sein, ans Schonungslose grenzend; dann wieder gibt es einen einfachen, innigen Tonfall - und man denkt beim Lesen: Wenn so etwas wie "Versöhnung" in Literatur je gelingt, dann nur, weil lauter Widersprüche wie Schmerzen und Spott, Schrecken und Hoffnung, Zorn und Liebe, Schreien und Stille nicht gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander in Bewegung gesetzt werden. So ist es hier.
    Und das alles wird dann zum klassisch Schönen, Guten und Wahren? Eben nicht, dieses Buch bleibt in seinem Wesen subversiv. Als "schön" und damit "gut" gilt ja gemeinhin das Harmonische, Wohlproportionierte, Ausgewogene. "Schön" sind die öffentlichen Bilder idealer Models - und wo bleibt der private, hässliche, fremde Andere, der einem eines Tages im Spiegel anstarrt? Was wird aus dem leidlich positiven Selbstbild- und Selbstverständnis, wenn ihm seine blanke Negation entgegengrinst? Ganz unter der Hand fragt die Erzählung, was wir unter Normalität verstehen. Es kann "normal" werden, wenn kaum was gut und schön ist.
    Endlichkeit ist normal
    Wenn einer ständig Schmerzen hat und den beschwerlichen Tagesablauf mit ewigen Arztbesuchen und gefährlichen Wegen durch die Stadt gerade eben meistert und dann abends, statt noch einmal etwas gegen die Schmerzen einzunehmen, irgendetwas Einfaches im Fernseher anschaut. "Normal" ist die Endlichkeit, die, so heißt es einmal sinngemäß, aus dem Bereich des Gedankens langsam in die Praxis eintritt. Und dabei, so liest man an anderer Stelle, reicht doch kein einziges Leben aus, um die Melodien der Amseln zu verstehen. Auch aus so einer Empfindung heraus ist Hermann Kinders Held gerne ein Teil der Welt.
    Dessen intellektuelle und emotionale Arbeit, das Auf und Ab des Lebens wahrzunehmen, gibt noch etwas zu bedenken: Vielleicht ist dieses Buch eine Erzählung von der Ästhetik. Ursprünglich bedeutet das Wort einfach "Empfindung, Wahrnehmung". Ästhetisch ist alles, was unsere Sinne bewegt. Hermann Kinders Text artikuliert das fortgesetzte Staunen über die Fülle dessen, was wir im Leben wahrnehmen müssen und dürfen: Hässliches und Schönes, Schmerzen und Freuden - so lange es noch geht.
    Dieses Buch über ein schweres Thema ist radikal und offen, unsentimental und zart. Es ist Literatur im emphatischen Sinn.
    Hermann Kinder: "Der Weg allen Fleisches". Erzählung. Mit farbigen Zeichnungen des Autors, Weissbooks, 140 Seiten, 18 Euro.