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Hermann Kinder: "Die Herzen hoch und hoch den Mut"
Fragen an die Familienchronik

Hermann Kinder stellt das Familienalbum vor, das sein Vater, der Theologe Ernst Kinder, zwischen 1942 und 1949 schrieb, und geht dabei der Frage nach: Hat der Vater in seiner Chronik Krieg und Verluste schöngeredet?

Von Sabine Peters | 13.09.2018
    Buchcover: Hermann Kinder: "Die Herzen hoch und hoch den Mut. Das Familienalbum meines lutherischen Vaters 1942 – 1949"
    Historische Dokumente mit gegenwärtigen Reflexionen (Buchcover: Klöpfer & Meyer Verlag, Hintergrund: imago stock&people)
    Der lutherische Theologe Ernst Kinder verfasste zwischen 1942 und 1949 eine Familienchronik. In seinem Nachlass fanden sich außerdem eine Taufansprache und, aus der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft, diverse Notizen, Aufsatzentwürfe und schließlich einige Gedichte. Nun hat der 1944 geborene Schriftsteller Hermann Kinder in seinem neuen Buch die Dokumente des Vaters vorgestellt und mit eigenen Reflexionen verbunden.
    "Die Herzen hoch und hoch den Mut", diese beschwörende Zeile aus einem der Gedichte des Vaters ist der Titel von Hermann Kinders Buch. Auf seine Einführung folgen die Texte des Vaters. Was heutigen Lesern an dem väterlichen "Originalton" auffällt, ist das Fehlen von Originalität, also von Besonderheit und Eigenartigkeit: Ernst Kinder berichtet über seine Herkunftsfamilie, über Ausbildung, Liebe, Eheschließung und über die erste Auslandsreise, ausgerechnet in den Polenkrieg, allerdings in einem Tonfall, der zurückgenommen und fast steif wirkt. Was macht ein frischgebackenes Ehepaar? Es verbringt eine "schöne, reife Zeit" miteinander. Diese unpersönliche Art des Schreibens ist typisch für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts: Damals galt es als peinliche Selbstentblößung, wenn man allzu offen von sich gesprochen hätte.
    Natürlich kann der Theologe und Familienvater Ernst Kinder gerade in Kriegszeiten die Verletzungen und Verluste nicht "schönreden". Aber der Sohn, Hermann Kinder, stellt doch in seinem ausführlichen Nachwort ein bedenkliches "Gutreden" in der Chronik des Vaters fest: Der Krieg, der die Familie auseinanderriss und der Verlust des Zuhauses wurden wie gottgegeben dargestellt. Der Glaube gab Halt, sensibilisierte aber nicht für das Leiden anderer. Warum gilt einem Theologen wie dem Vater nur die Kapitulation, das Kriegsende, nicht aber der Völkermord als "Untergang", als "große Katastrophe"?
    Obrigkeitstreue, soldatische Mentalität
    Hermann Kinders Buch verbindet auf überzeugende Weise historische Dokumente mit gegenwärtigen Reflexionen. Das Album zeigt eine männerbündische, obrigkeitstreue, soldatische Mentalität, die nicht erst mit dem Krieg vom Himmel fiel, sondern deren Ursprünge mindestens in der Kaiserzeit lagen. So beschrieb der Vater das freundschaftliche Verhältnis zu seinem Bruder als "inneren Gleichschritt." In diesem Album wird deutlich: Das Kleine, die Familie, ist überwölbt vom großen Ganzen, dem Vaterland, der Volksgemeinschaft, und dem Christentum. Hier wird es besonders vertrackt. Die Aufzeichnungen des Vaters sind religiös getönt. So heißt es, der Haushalt seiner eigenen Eltern war "im Aufblick zu Gott begründet". Der im Krieg geborene Sohn Hermann sei ein kleiner "Gottesbote", ein Zeichen der Hoffnung.
    Hermann Kinder fragt: Sollte es nicht klare Gegensätze zwischen religiösen und völkischen Tönen geben? Oder enthält auch das Luthertum dogmatische, machtkonforme, obrigkeitshörige Elemente, die mit dem Nationalsozialismus kompatibel sind? Warum verzichtete der Vater als Mitglied der nazikritischen "bekennenden Kirche" darauf, seinen abstrakten Humanismus konkret auch auf die russischen Feinde zu beziehen? Die bekennende Kirche war allerdings wie jede Organisation kein einheitliches Gebilde. Auch hier gab es die Tauben- und die Falkenfraktion. Es gab es Mitglieder, die den Nationalsozialismus als Bollwerk gegen den Kommunismus akzeptierten. Aber nicht nur Organisationen, auch Menschen sind keine einheitlichen Gebilde. Der Theologe Ernst Kinder, ein individueller, also der der Wortbedeutung nach unteilbarer Mensch, beherbergte in seiner Brust nicht nur eine einzige Seele, da lebten oft ganz widersprüchliche Ansichten und Haltungen nebeneinander. Die Gedichte des Vaters zeigen eine Komplexität von Gefühlen, die er sich in der Familienchronik verbietet.
    Das zähe Seelenerbe der Alten
    Hermann Kinder ist mit 74 Jahren selbst ein "Alter". Altersmilde? Nein. Wer sich mit den literarischen Werken dieses Schriftstellers beschäftigt hat, wird auch hier wieder eine spezifische kritische Neugier finden, eine Fähigkeit, in alle Richtungen zu denken und auch die gegenwärtigen Positionen zu reflektieren. So fragt er, ohne damit irgendeinem Kollektiv das Wort zu reden, ob heutige Tendenzen wie Vereinzelung, Entsolidarisierung, Selbstbezogenheit das Nonplusultra sind.
    Es bleibt schwierig, ein Pendel auf seinem Weg von einem Extrem ins andere auf halbem Weg zu stoppen. Goethes traditionsbewusster Satz im "Faust", man solle das Ererbte bewahren und nutzen, fand einen Widerspruch bei Hölderlin. Im "Empedokles" hieß es, das von den Vätern überlieferte solle kühn vergessen werden. Hermann Kinder fragt nicht nach dem Sollen, er fragt, ob man das "zähe Seelenerbe" der Alten überhaupt ausschlagen könne. In Zeiten der Globalisierung lässt sich da an das Phantasma einer exklusiven, "reinen" Volksgemeinschaft denken, das bis heute nicht überwunden wurde, sondern derzeit neue Ausprägungen findet.
    Hermann Kinders Buch geht vorsätzlich nicht geradeaus, durch Nacht zum Licht. Es sind gerade die vielen Rückwege, Seitenwege, Umwege, die diesem Buch seinen herausragenden Wert geben.
    Hermann Kinder: "Die Herzen hoch und hoch den Mut. Das Familienalbum meines lutherischen Vaters 1942 - 1949"
    Klöpfer & Meyer, Tübingen. 180 Seiten, zwölf s/w-Abbildungen, 22 Euro.