Donnerstag, 25. April 2024

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Hermann Schulz zum 80. Geburtstag
In der Begegnung mit dem Fremden das Eigene entdecken

Seine Karriere als Kinder- und Jugendbuchautor begann erst mit 60 Jahren. Davor hat er mit gutem Gespür und Mut den Peter Hammer Verlag zu großem Erfolg geführt. An seinem 80. Geburtstag verrät Hermann Schulz dem Dlf, was ihn zeit seines Lebens antreibt und was das mit seiner Herkunft zu tun hat.

Hermann Schulz im Gespräch mit Ute Wegmann | 21.07.2018
    Der Wuppertaler Verleger und Schriftsteller Hermann Schulz
    Der Wuppertaler Verleger und Schriftsteller Hermann Schulz (Fritz Kohmann)
    Ute Wegmann: Geboren wurde er am 21. Juli 1938 in Tansania, Sohn eines Missionars, der bald nach seiner Geburt verstarb und so kehrte die Familie nach Deutschland zurück. Aufgewachsen zwischen Wuppertal und Wendland machte er eine Buchhändlerlehre, dann eine Weltreise und war - in der Nachfolge von Johannes Rau, dem späteren Bundespräsidenten, von 1967 bis 2001 Leiter des Peter Hammer Verlags. Danach begann er seine zweite Karriere als Schriftsteller. Sie werden wissen, wer heute mein Gast im Studio ist: Ich begrüße sehr herzlich Hermann Schulz und gratuliere zum 80. Geburtstag. Wie fühlt es sich an, 80 zu werden?
    Hermann Schulz: Mein erster Gedanken heute Morgen war, dass meine Mutter immer sagte, in unserer Familie wird mit 78 gestorben. Sie hat sich drangehalten, meine Geschwister haben sich drangehalten. Und jetzt werde ich 80 und das ist schon ein kleines Wunder und eine Freude. Und eine mindestens ebenso große Freude ist, dass alle meine Kinder und Enkelkinder da sind, aus Mexiko, aus Köln. Das ist ein wunderbares Fest für mich.
    Es begann mit einem Groschenheft
    Wegmann: Lieber Hermann Schulz, es klingt als könne man Ihre Laufbahn in vier Sätzen festhalten, aber das ist weit gefehlt. Denn ich habe keine der großen Auszeichnungen erwähnt - 1982 den Von-der-Heydt-Preis, 1998 Herman-Kesten-Medaille des Pen, 2018 die Ehrendoktorwürde der Universität Wuppertal. Aber weil mit vier Sätzen nichts gesagt ist, fangen wir noch mal von vorne an: Bei den ersten Büchern und der Buchhändlerlehre. Wie kam Hermann Schulz zum Buch?
    Schulz: Ich habe sehr spät angefangen Bücher zu lesen. Ich war schon fast 14, denn meine Geschwister lasen und diskutierten so klug über Bücher, dass ich gedacht habe, da wirst du nie mitreden können, also blamier dich nicht und lass das, es gibt spannendere Dinge. Dann fand ich auf einer alten Müllkippe in den 50er-Jahren ein zerfleddertes Groschenheft. Und aus Langeweile fing ich an zu lesen. Und diese Geschichte werd ich nie vergessen, ich hab sie später in einem meiner Bücher nacherzählt, eine Geschichte, die ein Groschenheftautor aus der französischen Literatur gestohlen und populär aufgemacht hat. Damals ist mir klar geworden: Hinter der eigentlich langweiligen und autoritären Welt gibt es noch viele andere Dinge zu entdecken. Und das war der Start, Bücher zu lesen.
    Aber da war noch nicht vorgezeichnet, dass ich den Beruf des Buchhändlers ergreifen würde. Ich hatte bei der IHK in Moers einen Berufsfindungskurs gemacht, und da riet man mir, Exportkaufmann zu werden. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen und dachte, das sei jemand, der in der Spedition arbeitet. Die erste Spedition, die ich aufsuchte, in Ruhrort (Duisburg), die wurde von drei älteren Geschwistern geleitet, und die haben gleich meine Mutter aufgesucht und gesagt: Der kann unser Nachfolger werden. Wir vererben dem den ganzen Betrieb. Ich geriet in Panik und dachte daran, ein Leben lang Frachtpapiere auszufüllen, ich hatte ja keine Ahnung, was ein Transportunternehmen macht.
    Und dann riet mir mein Bruder, Buchhändler zu werden. Ich bin in die nächste Buchhandlung gegangen, eine evangelische, am Niederrhein in Neukirchen-Vluyn, und wurde sofort genommen, als die hörten, das ich Kind eines Missionars bin. Da wollten die meine nicht so besonders guten Zeugnisse gar nicht mehr sehen. Und so wurde ich Buchhändler. Und den Beruf habe ich mit großer Leidenschaft ausgeführt, ich habe unglaublich viel gelesen während der Zeit. Ich habe ein Tagebuch über jedes einzelne Buch geführt. Also hat die erste Lektüre von der Müllkippe Spuren hinterlassen in meinem ganze Leben.
    Reise in den Orient
    Wegmann: Als junger Mann sind sie gereist, waren damals in der Türkei, in Nicaragua, wo Sie Ernesto Cardenal begegneten, dessen Bücher Sie in Deutschland herausbrachten. Was interessierte Sie an der Türkei, an Mittelamerika?
    Schulz: Zunächst, ich wuchs in sehr frommen Kreisen auf. Ich hatte zwar davon eine kurze Auszeit, als ich im Wendland auf dem Bauernhof, von dem mein Vater stammte, lebte. Da ging es mir ganz gut. Aber die Erziehung der Pietisten am linken Niederrhein, vor allem der Missionarswitwen, das war schon ein echter Härtetest. Ich habe damals gedacht: Irgendwo auf der Welt gibt es vielleicht noch etwas, das anders ist, dir neue Lichter aufsteckt. Die Literatur konnte ja nicht alles geschwindelt sein. Und als ich die Lehre zu Ende hatte, hab ich so lange im Bergbau unter Tage gearbeitet, bis ich genug Geld hatte, neue Schuhe, neue Jacke und eine neue Hose zu kaufen und eine Fahrkarte bis Istanbul. Ich hatte hundert D-Mark.
    Wegmann: In welchem Jahr war das?
    Schulz: Das war im Jahr 1960, da war ich also gerade etwas über zwanzig Jahre alt. Ich hatte keinen Reiseführer, ich wusste überhaupt nichts. Ich bin nach Istanbul gefahren, weil ich auf der Landkarte gesehen hatte, dass ich von dort zu Fuß nach Asien gehen konnte, ohne Kosten aufbringen zu müssen. Dann war ich ein dreiviertel Jahr in der Türkei, Syrien, Libanon, Jordanien, Irak, Iran. Ich wäre am liebsten ganz im Orient geblieben, denn das Leben behandelte mich gut. Ich fand fantastische Männer.
    Und ich hatte unglaublich Glück: Bei einer Busfahrt, irgendwo in Anatolien, saß plötzlich der Goethe-Übersetzer ins Türkische neben mir. Der hatte gerade den Faust abgeschlossen und wir kamen in ein wunderbares Gespräch. Der Mann hieß Sadi Irmak und wurde für kurze Zeit später mal kurz Ministerpräsident (Anm. d. Red: 1974-1975). Und ich fand eine wunderbare alte Dame, die in Deutschland sozialisiert war. Das war die Ehefrau des türkischen Botschafters in den 20er-Jahren bis Anfang der Dreißiger. Die hatte mich in ihr Herz geschlossen, wir haben Unmengen Raki miteinander getrunken, sie hat 80 bis 100 Zigaretten täglich geraucht, und es war eine wunderbare Liebe, sie war 68 und ich war Anfang 20, wir verstanden uns fantastisch. Wir redeten über Literatur, sie hatte in den 20er-Jahren die Literaten Berlins alle persönlich kennengelernt: (Kurt) Tucholsky, (Walter) Hasenclever, alle Verleger. Das war für mich auch eine Öffnung zur deutschen Literatur und Kultur hin.
    Wie man überhaupt in der Begegnung mit dem Fremdem ja das Eigene erst richtig entdeckt. Ich wäre am liebsten ganz in der Türkei geblieben, denn der Besitzer eines großen Hotels in Istanbul bot mir an, dort Empfangschef zu werden. Das entsprach meiner Vorstellung von Weltläufigkeit (lach). Aber ich musste die Arbeitserlaubnis von Deutschland aus beantragen. Telefonieren konnte ich nicht, ich musste zurückfahren. Ich hatte mir Geld geliehen, um an den Niederrhein zu fahren und da traf ich meine Familie in einem katastrophalen Zustand an. Und ich wusste, ich konnte nicht einfach wieder abhauen, sondern musste Verantwortung übernehmen. Meine Schwester lag im Krankenhaus, mein Bruder drehte durch und meine Mutter war todkrank. Ich suchte eine Arbeit.
    Und so bin ich nach Wuppertal gekommen. Ich verkaufte zuerst Zeitungsabos von Tür zu Tür. Dann begegnete mir ein früherer Arbeitskollege und der sagte: Johannes Rau sucht jemanden. Ich kannte Johannes Rau, weil der als Verlagsvertreter bei uns früher in der Buchhandlung war. Ich bin in den Landtag gegangen, traf Rau und der hat mich sofort eingestellt, verlangte aber, dass ich mich für zwei Jahre verpflichte. Das hab ich abgelehnt, denn ich hatte immer noch den Orient im Kopf.
    Aber die ganze Atmosphäre in Wuppertal, die Zusammenarbeit mit Rau, das gefiel mir sehr gut. Ich bekam schnell freie Hand und hab dann die ersten verlegerischen Abenteuer versucht, habe Bücher über russische Literatur gemacht, eine Anthologie des 19./20. Jahrhunderts, das waren 80 Prozent Erstveröffentlichungen. Es gab in dem Umfeld von Rau eine Menge sehr interessanter Leute, zum Beispiel den Russlanddeutschen Professor Hader, der mir den Weg zur russischen Literatur öffnete, der ich bis heute treu geblieben bin.
    Wegmann: Das war also damals schon der Peter Hammer Verlag? Und heißt das, Sie haben anfangs mit Johannes Rau zusammengearbeitet?
    Schulz: Es war so: Der Verlag hieß Jugenddienstverlag, gegründet von Hermann Ehlers, der war Bundestagspräsident, und der war ein sehr frommer Mann. Der starb kurze Zeit später und dann wurde Johannes Rau Verlagsleiter. Es war ein kleiner Verlag, sehr Jugend und evangelisch geprägt, und der machte durchaus fortschrittliche Schriften über Theologie, Politik, Verantwortung des Menschen. Der Verlag und sein Programm war entstanden als Antwort auf die Verführungen der deutschen Jugend im Dritten Reich. Insofern war da schon eine politische Dimension drin.
    Aber ich wollte richtige Bücher machen, nicht nur Schriften. Eine Chance bekam ich als Johannes Rau ausschied und Fraktionsvorsitzender der SPD im Landtag in Düsseldorf wurde. Ich musste mir alles selber beibringen, learning by doing, aber ich fand schnell Freunde, die mich berieten, Schriftsteller, die mir Verlagsverträge zeigten. Und alle diese Dinge hab ich von der Pike auf gelernt. Es sind ja auch im Laufe der Jahre einige erstaunliche Bücher erschienen, die nur möglich wurden, nicht weil ich ein tolles Konzept im Kopf hatte, sondern weil ich offen war für interessante Leute mit interessanten Themen.
    Diktatur in Nicaragua und Studentenrevolte 1968
    Wegmann: Einer der Autoren war Ernesto Cardenal, geboren 1925, und mit dem Sie immer noch befreundet sind. Sie engagierten sich ja damals schon sehr für die Freiheitsbewegung in Nicaragua. Wie standen Sie zu den politischen Aktionen in Deutschland? Waren Sie noch Teil der 68er-Generation?
    Schulz: Eigentlich nicht. Erst einmal war ich schon ein paar Jahre älter als die Studenten-Generation. Aber im Verlag spürte ich natürlich, dass Bücher gebraucht wurden, die eine andere Sprache, andere Themen suchten. Und das brachte es mit sich, dass wir auch im Verlagsprogramm Auseinandersetzungen mit der Dritten Welt, mit Vietnam usw. mit ins Programm nahmen. Das war keine politische Haltung, weil ich so links gewesen wäre, sondern ich war neugierig. So geriet ich an Autoren, deren Namen ich zum Teil noch nie gehört hatte, die aber sehr viel Innovation in den Verlag brachten.
    Ich war sicher kein typischer 68er, aber damals erschienen in der Sexualpädagogik bei uns Bücher, die wirklich was ganz Neues brachten. Wir waren die Ersten, die die Fotografie in die Sexualaufklärung brachten, mit dem "Lexikon der Sexualität" und dem Fotograf Will McBride. Ein wichtiger Name, von ihm erschien dann bald das Buch "Zeig mal!", ein bewusst großformatiges Buch, das dann in der ganzen Welt Verbreitung fand, das aber sehr umstritten war. Es gab wohl vier oder fünf Indizierungsanträge bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, und jeder dieser Anträge brachte den Verkauf des Buches wieder voll in Gang. Ich hatte Freude am guten Verkaufen.
    Mit Ernesto Cardenal war das so: Auf ihn bin ich durch einen Zufall gestoßen. Ein Journalist aus Berlin schickte mir einen Zeitungsausriss aus der "Züricher Tat", da war eine Neudichtung eines Psalmtextes eines Ernesto Cardenal. Der Kommentar dazu war völliger Unsinn, das stellte sich später raus. Ich hatte damals den Ehrgeiz, jeden Autor persönlich kennenzulernen. Ihn überhaupt ausfindig zu machen und einen Vertrag zu schließen, hat eineinhalb Jahre gedauert. Das war sehr abenteuerlich. Tourismus gab es noch nicht, und Nicaragua war in der Hand einer Diktatur. Ernesto Cardenal redete in den Gottesdienste, die er hielt. Er war ja katholischer Priester. Er redete von der Befreiung des Menschen auf eine Weise, wie ich es vom linken Niederrhein, von unseren Pastoren so nicht kannte.
    Damals hab ich mich ein bisschen versöhnt mit dem Christentum und vor allem mit dem Katholizismus, und gleichzeitig sprach Cardenal mit mir über Literatur. Er war ein hochgebildeter Mann, hatte in den USA studiert und in Mexiko und in Kolumbien, war dann erst Priester geworden, nach einer wilden Jugend, wie er selber sagt, mit vielen Frauengeschichten und dergleichen. Damals ist mir klargeworden, wenn du dich auf diese Literatur einlässt, dann musst du Spanisch können. Man fand ja kaum jemanden, der Englisch oder Deutsch konnte.
    Insgesamt bin ich 27 Mal in Nicaragua gewesen, im Februar zum letzten Mal, also nach fast 50 Jahren wieder. Ich traf eine Menge Freunde wieder, und was mich gewundert hat, die erinnerten sich sehr gut, dass die Solidaritätsbewegung, der Kampf gegen die Somoza-Diktatur, in Wuppertal ihren Anfang hatte. Und Ernesto Cardenal spielte dabei eine wichtige Rolle, denn er war der einzige Nicaraguaner, den man hier kannte. Und er stand für eine Befreiungsbewegung, nicht nur in der Kirche, sondern auch für die politische Befreiung. Er war ein Kind der Theologie. Und eines seines Bücher: "Das Evangelium der Bauern von Soletiname" ist, glaube ich, das erfolgreichste Werk der praktischen Theologie in deutscher Sprache.
    Die Entdeckung des Künstlers Wolf Erlbruch
    Wegmann: Zu dieser Zeit - Ende der 60er-Jahre - begann ja Ihre Verlagstätigkeit. Sie hatten eine Familie, bereits drei Kinder. Sie machten nun renommierte große Autoren dem deutschen Leser zugänglich: Eduardo Galeano ("Die offenen Adern Lateinamerikas", Cardenal haben wir schon erwähnt, später Gioconda Belli "Die Werkstatt der Schmetterlinge" mit Bildern von Wolf Erlbruch, aber auch ihre erotischen Gedichte. Fällt in die Zeit auch die Entdeckung Erlbruchs, die ja dann zu einer immensen Erfolgsgeschichte wurde?
    Schulz: Ich hatte in der afrikanischen Literatur eine Geschichte entdeckt, die hieß "Der Adler". Und ich dachte, das ist eine so schöne Geschichte, die könnte auch für Kinder spannend sein. Und ich suchte herum, wer das illustrieren könnte. Ich hab Wolf Erlbruch angerufen, und es traf sich, dass seine Frau gerade mit dem ersten Kind schwanger war. Und das war für Erlbruch ein Signal, jetzt auch mit Kinderbüchern anzufangen. Dann illustrierte er zuerst das Buch "Der Adler, der nicht fliegen konnte".
    Kurze Zeit später kam er mit dem Projekt "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hatte". Zusammen mit dem Autor Werner Holzwarth saß er in meinem Büro und sagte: Sie hätten es drei Verlagen angeboten, die hätten alle abgewinkt, ob ich es mir mal angucken könnte. Vielleicht hätte ich ja eine Idee, einen Tipp, denn wir waren ja kein ausgewiesener Kinderbuchverlag. Ich hab das angesehen, und ich muss sagen: Das war eine Sternstunde. Ich habe gesagt: Das Buch mache ich sofort. Das Buch war vom Start weg ein Erfolg und hat über 1,3 Millionen deutsche Auflage und ist in mehr als 40 Sprachen übersetzt.
    Das Buch hat auch Türen geöffnet zu anderen Illustrationen, zu anderen Kinderbuchautoren. Und Erlbruch war sehr schnell, durch die Bücher die danach kamen, eine große Hausnummer, die den Verlag erheblich schmückte. Und nicht nur wegen der Kinderbücher. Er bot mir auch an: Sag mal, deine Romane hier, die sehen nicht so toll aus. Soll ich dir mal einen Vorschlag machen, wie man die besser gestalten kann? Und dann hat er mit drei, vier Titeln angefangen, und das war hinreißend, und er hat das ganze grafische Niveau des Verlags auf eine andere Ebene gebracht. Und dafür bin ich ihm heute noch dankbar.

    Wegmann: Die Kinder- und Jugendliteratur erlebte nach einer ersten Zäsur zu Beginn der 70er-Jahre dann Anfang der 90er-Jahre einen neuen Aufschwung, mit einigen Verlagsneugründungen, großartigen Programmen, großen Künstlern in Wort und Bild. War das klar, dass Sie da mit machen wollten?
    Schulz: Ja, das war mir von Anfang an klar, nachdem Hans Joachim Gellberg begann, Kinderbücher zu machen. Da hab ich unglaublich viel gelernt, da hab ich ganz neue Impulse aufgenommen. Nicht, um ihn zu kopieren oder in Konkurrenz zu treten, sondern ich fand das wunderbar, dass etwas Neues, Frisches auf dem Markt auftauchte, ein neuer Blick auf die Kindheit. Kinder wurden ernstgenommen, mit ihren Sorgen, und das gefiel mir. Da habe ich viel gelernt und war dann auch bereit, selber Bücher zu machen, die den Markt erweitern konnten und verbessern konnten.

    Wegmann: Hermann Schulz ist heute Gast im Studio. Bibliografische Angaben zu seinen Büchern und ausführliche Informationen finden sie im Internet unter deutschlandfunk.de. Nun sind Sie schon lange selber Schriftsteller und haben den Schwerpunkt tatsächlich auch auf die Kinder- und Jugendliteratur gelegt. Ein großes Jammern durchzieht die Verlagswelt: Das Verschwinden der Lesern durch die Digitalisierung des Alltags und damit verbunden sinkende Umsatzzahlen.
    Es gibt ja sehr viele Verlage, es wird sehr viel produziert. Wäre es da nicht besser etwas mehr zu fokussieren?
    Schulz: Das ist eine schwierige Frage, denn die richtet sich an die Verlage. Da müssten Verlage, die ein wirkliches Ethos vertreten, eine neue Marketingstrategie verbreiten, denn das muss ja auch beim Publikum ankommen. Die Überflutung des Marktes, wie sie jetzt stattfindet, ist auf Dauer nicht durchzuhalten. Große Kettenbuchhandlungen und große Verlage sind nicht mehr in der Lage, dem Publikum aktiv und vital zu vermitteln, wofür sie stehen und was ein anspruchsvolles Publikum kaufen soll.
    Afrika und seine Geschichten
    Wegmann: Ihre Bücher haben ein Alleinstellungsmerkmal, da Afrika immer eine Rolle spielt. Ich möchte ein paar Buchtitel nennen: "Iskender", eine Geschichte, angesiedelt in den 60er-Jahren in der Türkei. "Die schlaue Mama Sambona", illustriert von Tobias Krejtschi. Hier geht es in erster Linie um den Tod, aber auch um die Tradition des Geschichtenerzählens, um die Fröhlichkeit des Lebens. Eins der vielen Afrika-Bücher, die Sie geschrieben haben: "Auf dem Strom", "Wenn dich ein Löwe nach der Uhrzeit fragt", "Zurück nach Kilimatinde", "Leg nieder dein Herz". Das nur eine kleine Auswahl. In vielen Details vermittelt sich Ihre Liebe zur afrikanischen Kultur und zu den Menschen.
    Wollen Sie ein Gegenbild entwerfen gegen Armut, Hunger, Kindersoldaten und alle Klischeebilder, mit denen wir in Europa unterwegs sind?
    Schulz: Leider sind die Bilder ja nicht nur Erfindung der Medien, sondern das findet tatsächlich statt. Ich habe eine Fülle von Freunden, mit denen ich ein ganz anderes Afrika erlebe. Das humorvolle Afrika, das neugierige Afrika, das humane Afrika. Ich möchte das zivile Afrika zeigen, das so viel humane Kräfte hat, dass ich zusammen mit Henning Mankell sagen würde: Wenn überhaupt ein Kontinent eine Zukunft hat, dann ist es Afrika. Das hat er kurz vor seinem Tod in einem Interview gesagt, das hat mich sehr gefreut. Afrika hat mir solche Geschichten zugespielt, wie man sie gar nicht erfinden könnte. Und wenn ich noch zwei drei Bücher fertig bringe, dann genau über diese Themen.
    Das Selbstverständnis als Schriftsteller
    Wegmann: Ihre Bilderbücher und Ihre Romane sind zwar Kinder- und Jugendbücher, werden aber sehr gern von Erwachsenen gelesen: Wie ist Ihr Selbstverständnis?
    Schulz: Wenn ich mich hinsetze und eine Geschichte schreibe, dann denk ich nicht an eine Zielgruppe, dann denk ich an die Geschichte. Und die Personen, die dort handeln, diktieren mir, ob das auch eine Geschichte für Kinder oder Jugendliche sein wird. Bei einem Bilderbuch ist das was anderes und es hat auch Gründe, warum ich erst vier Bilderbücher gemacht habe. Eine Bilderbuchgeschichte stellt ganz besondere Ansprüche: In kurzer Form muss das eine Geschichte sein, die die Menschen anrührt, die überzeugt, die ihnen etwas vermittelt. Eine Geschichte zu finden, die auf zwei oder drei Seiten zu erzählen ist, ist gar nicht so einfach.
    Wegmann: "Die schlaue Mama Sambona" ist eins dieser Bilderbücher, "Sein erster Fisch" ein anderes. Beides wundervolle Bilderbücher. Liest man Ihre Bücher, von dem türkischen Vater, der seinen Sohn entführt in "Iskender", von dem Vater, der seine Tochter rettet in "Auf dem Strom", von dem Jungen, der Tauben züchtet im Ruhrgebiet in "Sonnenebel", die Königin in "Die schlaue Mama Sambona" oder die Kinder in "Warum wir Günter umbringen wollten", so wird man das Gefühl nicht los, dass Sie alle diese Menschen kennen und bei allen Ereignissen zumindest Zaungast waren.
    Schulz: Das trifft zu. Meine Phantasie ist nicht so ausgebildet wie bei Frau Rowling, die Harry Potter Erfinderin, darum steht bei jeder Geschichte im Hintergrund ein persönliches Erlebnis oder jemand hat mir was erzählt, und das meldet sich Jahre später zu Wort. Meistens sind es eigene Erlebnisse wie in "Warum wir Günther umbringen wollten", da war ich wohl zehn Jahre alt, als das passierte. Manchmal dauert es viele viele Jahre, bis man erkennt, da steckt etwas drin, was du mit Phantasie und den Möglichkeiten zu einer Geschichte machen kannst, die Leute begeistert und ihnen was vermittelt. Insofern sind das alles autobiografische Geschichten.
    Schreiben als Erinnerungsprozess
    Wegmann: Was bedeutet für Sie das Schreiben über das Erinnern hinaus?
    Schulz: Es kommt drauf an, um welche Geschichte es geht. Als ich den ersten Roman "Auf dem Strom" schrieb, hab ich sicher viele viele Stunden darüber nachgedacht, wie spricht ein Vater mit seinem todkranken Kind. Da hab ich gemerkt, durch meinen Kopf bekam ich keine Antwort, sondern ich sagte mir: Setz dich hin und schreib das! Die Geschichte weiß schon, wie das weitergeht. So hat das Leben mir viele Geschichten geliefert. Ob das "Sein erster Fisch" ist oder "Die schlaue Mama Sambona", denn die Königin habe ich tatsächlich kennen gelernt.
    Ich schreib ja keine Reportagen, sondern Geschichten, das heißt, ich benutzte das, was das Leben mir vor die Füße legt. Wissen Sie, wenn man im Alter von 60 Jahren seinen ersten Roman veröffentlicht, dann ist man gut beraten, nicht zu versuchen, große literarische Experimente zu machen, sondern das zu erzählen, was es zu erzählen gibt. Und vielleicht ist es bei diesem oder jenem Buch auch gelungen.
    Die Neugier auf das Fremde
    Wegmann: Bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde in Wuppertal wurde immer wieder erwähnt, dass Sie aus einem kleinen evangelischen Verlag einen großen internationalen Verlag gemacht haben und somit auch die Welt nach Wuppertal brachten. Ich denke, wenn man sagt, Sie seien ein Weltenbürger, trifft das ganz gut. Sind Sie geprägt durch die Geburt in Afrika oder mehr noch durch das politische Engagement für Nicaragua, das bis heute anhält oder ist es einfach nur die Neugierde?
    Schulz: Es war Neugier und die Lust auf das Fremde, denn ich habe früh erkannt: Das Fremde ist das noch nicht entdeckte Eigene. Ich glaube, dass es eine Bereicherung ist, sich mit dem sogenannten Fremden auseinanderzusetzen und es an sich ranzulassen. Das ist bestimmt kein ganz großes Geheimnis, und dem hab ich mich immer gestellt.
    Vielleicht hat es mit meinem Vater zu tun, der als 23-jähriger nach Afrika aufgebrochen ist. Als einfacher Bauernsohn aus einer einklassigen Schule hat er drei Sprachen in zwei Jahren gelernt: Kisuaheli, Kia und Englisch. Und hat dort zwölf Jahre lang einen irren Job gemacht. Von ihm hab ich ja leider nichts mehr erfahren können, weil er früh verstorben ist. Aber später erzählten mir die Afrikaner davon, und das war viel besser als die frommen Geschichten meiner Mutter.
    Das alles prägt natürlich. Dass in dem ersten Buch ein Vater sein krankes Kind begleitet, hat natürlich viel mit mir zu tun. Das ist ein tiefliegender Wunsch, einmal fünf Tage lang mit meinem Vater alleine unterwegs zu sein. In der Geschichte hab ich daraus ein kleines Mädchen gemacht, aber das spielt keine Rolle. Das ist eine Annäherung an die Vaterfigur, und je älter ich wurde, ist sie immer stärker geworden.
    Wegmann: "Auf dem Strom" ein wunderbarer Roman, mit einem großartigen Coverbild von Wolf Erlbruch, was wir hier unbedingt als Leseempfehlung weitergegeben sollten. Hermann Schulz, ich wünsche Ihnen einen wundervollen Geburtstag heute, im Kreis ihrer Familie. Herzlichen Dank für das Gespräch.
    Hermann Schulz: "Auf dem Strom", Reihe Hanser/dtv, München
    Hermann Schulz: "Iskender", Carlsen Verlag, Hamburg
    Hermann Schulz/Tobias Krejtschi (Illustration): "Die schlaue Mama Sambona", Peter Hammer Verlag, Wuppertal
    Hermann Schulz/Wibke Oeser(Illustration): "Sein erster Fisch", Peter Hammer Verlag, Wuppertal
    Hermann Schulz: "Mandela & Nelson", Carlsen Verlag, Hamburg
    Hermann Schulz/Maria Luisa Witte (Illustration): "Warum wir Günter umbringen wollten", Aladin Verlag, Hamburg
    James Aggrey/Wolf Erlbruch (Illustration): "Der Adler, der nicht fliegen wollte", Peter Hammer Verlag, Wuppertal
    Werner Holzwarth/Wolf Erlbruch (Illustration): "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat", Peter Hammer Verlag, Wuppertal
    Gioconda Belli/Wolf Erlbruch (Illustration): "Die Werkstatt der Schmetterlinge", Peter Hammer Verlag, Wuppertal
    Ernesto Cardenal: "Das Evangelium der Bauern von Solentiname", Peter Hammer Verlag, Wuppertal