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Hermetisch und vieldeutig

1934 veröffentlichte Max Ernst in Paris seinen Collageroman "Une semaine de bonté". Nach über siebzig Jahren ist das Werk nun komplett in einem hervorragenden Band des Dumont Verlages zu bestaunen. Sowohl das Buch als auch eine sorgfältig kuratierte Ausstellung hat der Max-Ernst-Kenner und -Freund Werner Spies auf den Weg gebracht. Die Schau zog in der Wiener Albertina binnen neun Wochen 150.000 Besucher an. Sie ging dann nach Brühl ins Max-Ernst-Museum und läuft vom 19. September bis zum 11. Januar 2009 in der Hamburger Kunsthalle.

Von Martina Wehlte | 27.10.2008
    Das Projekt ist aufsehenerregend, denn es gleicht der Ausgrabung eines der letzten fast vergessenen Schätze des zwanzigsten Jahrhunderts. Erstmals werden alle 184 Blätter von Max Ernsts berühmten Collageroman "Une semaine de bonté" der Öffentlichkeit präsentiert. In einem opulent ausgestatteten über dreihundert Seiten starken Band des Dumont Verlages entfaltet sich eine Welt überquellender Phantasie, ein Traumreich voller Sehnsüchte, Wünsche und Ängste. Genussvolle Wollust, triebhafte Abgründe, Macht und Gewalt, Chaos und Anarchie, Hingabe und Unterwerfung, Urkräfte der Natur und sogar Blasphemisches begegnen dem Betrachter.

    Im matt gelblichen Ton der Originale sind die fünf thematisch und nach Wochentagen geordneten Hefte in ganzseitigen Abbildungen ausgebreitet; beginnend nicht mit dem Montag, sondern mit Sonntag, dem als Element der Urschlamm beigegeben ist und exemplarisch der Löwe von Belfort, ein Mischwesen, halb Mensch, halb Tier, dessen vogelköpfige Verwandtschaft von Heft zu Heft zieht. Zwischen Mythos und Religion bewegen sich die Themen, zwischen Himmel und Hölle die Szenerien, doch nicht etwa in der Wirklichkeit, sondern im Surrealen.

    Gehoben hat diesen künstlerischen Schatz Werner Spies, der nicht nur das Oeuvre Max Ernsts kennt wie kein zweiter, sondern der dank seiner Kontakte, namentlich zu dem Leihgeber Daniel Filipacchi und zu dem Mitfinancier Caspar Schübbe, nun der Öffentlichkeit dieses bedeutende Werk zugänglich machen konnte. Es wird im Vorwort der Ausgabe als "visuelle Keimzelle des Surrealismus" bezeichnet. Max Ernst hatte es 1933 in Angriff genommen und gegenüber meinem Gesprächspartner Werner Spies geäußert, aus den Blättern spreche seine Vorahnung des Desasters von Hitler-Deutschland und dem, was über Europa kommen würde.

    Was wollte der Surrealismus, als einer dessen Hauptvertreter Max Ernst zweifellos gilt?


    Werner Spies: "Der Surrealismus wollte mit dem Positivismus und mit der bürgerlichen Sicherheit der Zeit brechen. Das geht auf Dada zurück, auf die Erfahrung, die eine ganze Generation im Ersten Weltkrieg machte, und zwar international; die feststellte, dass die Chauvinismen und die persönlichen Kriege von Nation zu Nation irgendwie nur ins Desaster führen konnten. Und es waren die großen Geister wie Max Ernst, wie Breton, wie Picasso, wie Picabia, wie Miró, wie Dalí und die Literaten wie André Breton, die sich dagegen wehrten und nach dem Surrealismus griffen, nach einer Kunst, die davon ausgeht, dass jenseits der Wirklichkeit, jenseits dessen, was wir sehen und was banal ist, noch eine andere, höhere, geistige, poetische Wirklichkeit liegt."

    Welche Bedeutung hat nun Max Ernsts Roman als "Keimzelle des Surrealismus"?

    "Die Keimzelle von Max Ernst ist die Collage, sind die Collageromane, die nicht erst 1933 einsetzen, sondern die auf die frühen Collagen von Max Ernst aus der Dada-Zeit in Köln zurückgehen und die erst einmal kulminieren in Büchern wie "La femme sans tete" aus den späten zwanziger Jahren. Und das waren nun Bücher, die einen unerhörten Einfluss ausübten. Charlie Chaplin, der damals 1929 auf eine Weltreise ging, auf die Frage, welches Buch oder welche Bücher nehmen Sie mit auf die Reise, sagte: Nur eines, das Buch von Max Ernst "Die kopflose Frau", weil das so reich an Imagination und Möglichkeiten ist."

    "La femme sans tete" bedeutet mehreres: Die Frau ohne Kopf, die kopflose Frau, aber auch - gesprochen: cent - die hundertköpfige Frau, d.h. die Frau, die immer wieder neue Imagination entfaltet, die nicht greifbar ist.

    "Max Ernst spielt im Grunde mit den Worten, mit den Ausdrücken und auch "Semaine de bonté" dürfen wir nicht wörtlich nehmen. Es ist die Darstellung einer Woche, die im Grunde mit allen poetischen Momenten, mit allen schrecklichen Momenten mehr als eine Woche ist. Sie ist im Grunde eine Art Schöpfungsgeschichte. Es sind die sieben Tage der Schöpfungsgeschichte, der Genesis. Nur fängt Max Ernst nicht mit dem Montag an, sondern mit dem Sonntag, im Grunde mit dem Ruhetag."

    Ursprünglich war das Werk auf sieben Hefte angelegt, konzipiert nach den sieben Wochentagen, die farblich unterschieden publiziert werden sollten. Grün für das Meer, Rot für die Ödipus-Sage. Der Dumont Verlag hat dieser Idee durch entsprechende Einlegeblätter Rechnung getragen. Und im letzten, dem gelben Heft geht es um eine innere Sicht, ein romantisches Sehen, das für Max Ernst im Rückbezug auf C.D.Friedrich sehr wichtig war.

    Sagenhaftes, Mythologisches vermischt sich mit Religiösem. Der erste Tag mit seinem antiklerikalen Impetus zielt auf die Gotteserscheinung, die Scheidung in Land und Wasser. Wie aber passt nun beispielsweise der Mittwoch, die Geschichte um Ödipus, hier hinein? Es handelt sich um eine der Lesefrüchte Max Ernsts, der sich auch intensiv mit Siegmund Freud beschäftigte und sich schon 1921 mit dem Thema Ödipus befasst hatte. Warum ist es für den Künstler von so zentraler Bedeutung?

    "Es ist die Auflehnung gegen den Vater, gegen die Autorität, gegen die staatliche Autorität, gegen jegliche Autorität, es ist eine symbolische Auflehnung, die bei allen Surrealisten spürbar ist."

    Werner Spies hat den Collageroman in die Nähe von Franz Kafkas Literatur gerückt, spricht vom hermeneutischen Zwang für den Betrachter und erklärt das so:

    "Es ist ein Roman, in dem keine schriftliche Geschichte erzählt wird, in der sich alles durch Bilder ausdrückt und diese Bilder sind letztlich unverständlich, sie haben etwas Zwanghaftes; wir treten in die innere Logik dieser Blätter ein, wir verlieren uns in der inneren Logik dieser Blätter. Diese Offenheit der Blätter, diese Fragen, die diese Blätter an uns stellen, sind wichtiger – auch in den Augen von Max Ernst – als alle Antworten, die wir auf diese Blätter finden können."

    Warum hielt Max Ernst seine Blätter so lange unter Verschluss? Das Publikum kann an den Reproduktionen nicht die Schnittstellen der Originalcollagen erkennen. Max Ernst legte aber auf die Sichtbarkeit dieses Arbeitsprinzips großen Wert.

    Außerdem war das Publikumsinteresse für die Collagetechnik damals minimal. Es gab nicht die Sensibilität für die künstlerische Intention, die hinter dem unmittelbar Sichtbaren steht, wie es sie heute gibt. Max Ernsts Quellen waren übrigens banale, kaum noch wahrgenommene Reproduktionen der Unterhaltungsliteratur, der Dienstmädchenromane und anderer populärer Romane des neunzehnten Jahrhunderts. Sie erschienen in riesigen Auflagen und bedienten sich eines Holzstichverfahrens, das von Band zu Band ziemlich identisch war.

    Aus wie vielen Collageteilen besteht durchschnittlich ein Blatt in "Une semaine de bonté"?

    "Es gibt Collagen, ich würde sagen, des Minimums, so zwei, drei Schritte, d.h. drei, vier Elemente, und es gibt Collagen, in denen Sie bis zu siebzehn verschiedene Elemente finden."

    Auffallend ist die serielle Verwendung von Motiven, die – so Werner Spies - das Unverständliche zur Norm macht. Dadurch wird innerhalb eines Kapitels eine gewisse Kontinuität erzielt, z.B. im Kapitel Ödipus: ein Kopf, den wir als Ödipus lesen.

    Und welche Bedeutung haben schließlich die Mischwesen, halb Mensch, halb Tier? Was bedeutet der Löwenkopf oder der Adlerkopf?

    "Löwe ist sicher Ausdruck der Macht, auch Ausdruck eines Über-Ichs, es ist eine Mischung von Tier und Mensch, wie wir sie auch bei Kafka finden. Es gehört zu den Tierfantasien, die in jeder Kultur und in jeder Kunst auftreten. Bei Picasso auch, denken Sie an den Minotaurus in der Minotauromagie, den Stiermenschen; das ist, glaube ich, etwas, was grundsätzlich zur Beschäftigung mit Mythologie im zwanzigsten Jahrhundert zählt."

    Das Werk bleibt hermetisch und vieldeutig. Doch mit seinem Erscheinen ist eines der bestgehüteten Geheimnisse des 20. Jahrhunderts gelüftet.

    Spies, Werner (Hg.): Max Ernst. Une semaine de bonté. Die Originalcollagen. Mit Texten von Werner Spies und Jürgen Pech.
    Als Katalogbuch zu den Ausstellungen in der Albertina, Wien, im Max Ernst Museum Brühl / LVR und in der Hamburger Kunsthalle. 319 S., 182 Farbabbildungen. Preis: 39,90 €. Dumont Verlag Köln.