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Heroismus in postheroischen Zeiten
Gibt es ein Comeback des Helden?

Der Held - eine Gestalt, die noch jede überlieferte Kultur kannte - steht wieder im Rampenlicht. Der scheinbare Konsens, wir lebten in einem postheroischen Zeitalter, scheint sich aufzulösen.

Von Judith Leister | 08.03.2020
Greta Thunberg läuft umringt von Journalisten und Medientechnikern durch einen Flur und trägt ihre Jacke über den Arm geschlagen.
Die Klimaaktivistin Greta Thunberg beim 50. Weltwirtschaftsforum in Davos. (picture-alliance/Keystone/Gian Ehrenzeller)
Lange Zeit wurde Heldentum in Deutschland allenfalls ironisch bemüht, etwa im Namen der Band "Wir sind Helden". Inzwischen jedoch gibt es einen öffentlichen Diskurs darüber, ob Aktivistinnen wie Carola Rackete oder Greta Thunberg Heldinnen sind. Auch unter populistischen Politikern erfreut sich der Held großer Beliebtheit. Donald Trump bezog sich während seines letzten Wahlkampfs auf "Batman", Boris Johnson verglich sich jüngst mit "The Incredible Hulk".
Was bedeutet es, wenn Einzelne sich selbst ermächtigen und gegen den "Mainstream" antreten? Was sagt die Kulturgeschichte? Welche Folie hat die wachsende Zahl der Hollywood-Superhelden geliefert? Wozu brauchen wir Heldinnen und Helden - oder glauben sie zu brauchen?
Judith Leister ist Literaturwissenschaftlerin und freie Journalistin. Sie lebt in München, arbeitet unter anderem für die "Neue Zürcher Zeitung", den Berliner "Tagesspiegel" und den Rundfunk. In den letzten Jahren hat sie sich vor allem mit Geschichtsthemen, speziell mit Erinnerungskulturen in Ost und West beschäftigt.

Im Sommer 2018 setzte sich ein 15-jähriges Mädchen mit blonden Zöpfen und einem Schild aus Pappe vor das schwedische Parlamentsgebäude und protestierte. Es protestierte gegen die Politiker, die seiner Ansicht nach nicht handeln und nur zuschauen würden, wie die Welt zerstört wird, wie die Meeresspiegel steigen, Stürme und Feuersbrünste toben und man Angst haben muss, dass die Erde bald nicht mehr bewohnbar ist. Innerhalb kürzester Zeit wurde aus dem stummen Protest eine weltweite Bewegung und aus der Schulschwänzerin eine Heldin. Die Heldin der Klimabewegung.
Auch in Deutschland stürzten sich die Menschen auf die Heldin Greta Thunberg wie rückfällige Alkoholiker auf den Schnaps. Und das, wo die Deutschen doch so lange heroismusabstinent waren. Aus guten historischen Gründen. Vor 75 Jahren hatte deutsches Heldendenken direkt in den Untergang geführt. Selbsternannte "Herrenmenschen" hatten Millionen sogenannter "Untermenschen" ausgelöscht. Deutsche Soldaten waren, ob sie wollten oder nicht, an der Front den "Heldentod" gestorben.
Keine Helden in der jungen Bundesrepublik
Daher waren Helden rar in der bundesrepublikanischen Gegenwart. Am ehesten ließ man noch Widerstandskämpfer gegen den NS-Staat oder unpolitische Größen wie Sportler als Helden gelten. Auch auf Pathos, den Heroismus der Sprache, verzichtete man lieber. Bundeskanzler Helmut Kohl wurde belächelt, als er vom "Wind der Geschichte" und "der geistig-moralischen Wende" sprach. Im Grunde lautete der Tenor schon in den 1980er-Jahren: "Helden, nein danke!"
Noch im nicht-konfrontativen Politikstil von Bundeskanzlerin Merkel schien sich bis zuletzt die Enthaltsamkeit vom Heroismus auszudrücken. Betonte Nüchternheit gehörte von Anfang an dazu. Und ein Schweigen, das viele Möglichkeiten der Interpretation miteinschloss. Keine Helden in Sicht, weit und breit, als 2015 der Philosoph Holger Zaborowski in einem Essayband etwas bange schrieb:
"'Helden' – allein das Wort macht verlegen, lässt ein wenig verschämt nach unten oder zur Seite schauen. Wer wollte noch von 'Helden' sprechen, sie gar preisen oder besingen? Ob Helden überhaupt noch einen Ort in der Gegenwart haben?"
Und es stimmte ja auch: War der Held überhaupt noch zu retten? Lebten wir nicht sowieso in postheroischen Zeiten?
Postheroismus als Mangel an Opfermut
Der Begriff "Postheroismus" ist ähnlich schwer bestimmbar wie "Postkommunismus", "Postmoderne" oder "Posthistoire" – Wer über den Postheroismus sprechen will, muss über den Krieg sprechen. In den Neunziger Jahren stellten Militärstrategen fest, dass der Krieg in den westlichen Gesellschaften unattraktiv geworden war. Es fanden sich immer weniger Menschen, die im Krieg ihr Leben riskieren wollten.
Der deutsche Wissenschaftler, der sich über den Postheroismus am meisten Gedanken gemacht hat, ist Herfried Münkler. Der Politologe stellte fest, dass es ein Charakteristikum postheroischer Gesellschaften sei, der menschlichen Opfer- und Leidensbereitschaft eine Absage zu erteilen. Einfach, weil in den liberalen Demokratien nichts über das individuelle Leben gehe. Überdies sei es im Zeitalter der Atombombe absurd geworden, in einem Krieg so etwas wie Heroismus an den Tag legen zu wollen. Die Helden auf dem Schlachtfeld, mit ihren Wimpeln, ihren Uniformen und ihrem Mut, würden in Millisekunden pulverisiert werden.
Nüchtern analysierte Münkler, der Westen versuche, seinen Mangel an Opfermut durch überlegene Waffensysteme auszugleichen. Systeme, die für den Angreifer risikolos sind, beim Angegriffenen aber Tod und Verwüstung hervorrufen. Und noch etwas komme hinzu: die demografische Entwicklung. Aufgrund der heutigen Bevölkerungsstruktur im Westen mit ihrer geringen Kinderzahl könne man sich menschliche Verluste heute weder leisten, noch würde man sie emotional noch hinnehmen wollen. Aus diesem Grund sei die Kampfdrohne, bei der der Angreifer aus sicherer Distanz agiert, und die das Opfer völlig überraschend trifft, so Münkler, die Ikone des Postheroismus.
Heroische und postheroische Gesellschaften
Nicht überall sei das Leben das höchste gesellschaftliche Gut – etwa in kinderreichen heroischen Gesellschaften. Dort würden Extremisten mit Begeisterung bei Terroranschlägen den "Märtyrertod" sterben. Dieses Missverhältnis der Mittel und Mentalitäten in modernen Kriegen, das zuletzt wieder bei der Ermordung des iranischen Generals Soleimani sichtbar wurde, führe zu "asymmetrischer Kriegsführung".
In den USA erblickt Münkler eine "postheroische Gesellschaft", aber mit "heroischem Kern". Er sagt:
"Sie sind in der Lage, unter Stress heroische Gemeinschaften hervorzubringen – etwa die Feuerwehrleute von Ground Zero."
Über Deutschland sagt er dagegen:
"Die Deutschen haben, im Gegensatz zu den Franzosen oder den Amerikanern, keinen heroischen Gründungsmythos, beziehungsweise die heroischen Gründungsmythen, die wir haben, sind nicht republikanisch-demokratischer Art oder haben in der Tradition der Demokratie keinen Eingang gefunden."
In Deutschland habe man die Demokratie nicht erkämpft, sondern von den Amerikanern als Geschenk bekommen – und für dieses Geschenk sei man dankbar.
Am stärksten vom Postheroismus durchdrungen seien die ehemaligen Angreifer- und Verliererstaaten des Zweiten Weltkriegs. Hier gab es nach dem Krieg die politische Notwendigkeit, sich von den heroischen Traditionen loszusagen, die ins Monströse geführt hatten.
Wunsch nach Neuorientierung
So oder so ähnlich funktionierte es über Jahrzehnte eigentlich ganz gut für West‑Deutschland. Man ging alle vier Jahre zu Wahl, ansonsten brav zur Arbeit und seinen privaten Angelegenheiten nach. Da war es einfach nur praktisch, dass 2011, unter Verteidigungsminister zu Guttenberg, die Wehrpflicht ausgesetzt wurde und der Bürger in Uniform erst einmal nicht mehr gefragt war.
Doch etwas hat sich in den letzten Jahren verändert. Die USA haben unter Trump keine Lust mehr, Weltpolizist zu sein und ihre deutschen Bündnispartner zu beschützen. Nicht nur der Brexit wirft Zweifel an der Zukunft der EU auf. Der Aufstieg von Populisten stellt die viel beschworene "Wehrhaftigkeit" der Demokratie in Frage. Deren langsam arbeitende und mehrheitsgebundene Prozesse werden als ineffizient, die früher verbreiteten Konsensformeln vom "Rechtsstaat" und vom "Verfassungspatriotismus" als zu dürr empfunden. Nicht zuletzt Flüchtlings- und Klimakrise haben viel überschießende Sorge produziert. Es liegt der Wunsch nach Neuorientierung in der Luft. Man sucht nach Helden, nach Menschen, die handeln und für ihre Sache kämpfen. Und vor deren Verherrlichung scheut man nicht mehr zurück.
Am Helden werden Normen und Werte ausgehandelt
Aber was ist überhaupt ein Held? Obwohl sich der Heldenbegriff vor allem an Krieg und Kampf entwickelt hat, operieren wir an dieser Stelle mit einer breiteren Auffassung vom Helden: Ein Held ist jemand, der eine außerordentliche Tat vollbringt und dabei besonderen Opfermut an den Tag legt. Im Rahmen seines Kampfes setzt sich der Held für ein übergeordnetes Ziel ein.
Obwohl die Figur des Helden in nahezu allen überlieferten Kulturen bekannt ist, ist sie immer auch ambivalent. Der Held hat das Potenzial, Gemeinschaft zu stiften. Ebenso gut kann er polarisieren: Was für den einen ein Held, ist für den anderen ein Terrorist. Am Helden werden Normen und Werte einer Gesellschaft ausgehandelt, weil er die landläufigen gesellschaftlichen Grenzen überschreitet. Weil der Held per se eine Figur der Transgression ist, fordert er zur Positionierung heraus. Helden tauchen auf, oft in Krisen, können aber auch wieder verschwinden, wenn das, wofür sie stehen, sozial nicht mehr valide ist. Und schon Hegel spricht davon, dass von einem Helden auch erzählt werden muss. Den Heldenstatus kann man sich nicht selbst verleihen. Erst durch das Narrativ, früher am echten Lagerfeuer, heute am Lagerfeuer des Flachbildfernsehers, wird der Held zum Helden.
Greta Thunberg – Heldin, Prophetin, Erlöserin?
So ist es auch im Fall von Greta Thunberg, der Klimaheldin, die weltweit auf eine Welle der Begeisterung stieß. Anhänger der nunmehr 17-jährigen Schwedin entdeckten ihre heroischen Neigungen, lobten Thunbergs Entschlossenheit und ihre Bereitschaft, sich bis zur Selbstaufgabe in den Dienst der Klimabewegung zu stellen. Sie bewunderten ihren kämpferischen Auftritt beim UN-Klimagipfel, bei dem sie den Politikern dramatisch entgegenschleuderte: "Ihr habt mir meine Träume und meine Kindheit gestohlen!" Der Zukunftsforscher Matthias Horx fühlte sich durch Thunberg an Jeanne d‘Arc erinnert, die französische Nationalheldin. Fast griesgrämig räumte dagegen die Klima- und gretaskeptische Zeitung "Die Welt" ein:
"Egal, wie sehr man Greta Thunberg für Panik und rhetorischen Minimalismus kritisieren will: Sie ist eine Heldin unserer Zeit."
Andere bemühten die Bibel als Vergleichsgröße. Mehrere katholische Kirchenmänner und die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, bis 2013 auch Präses der Synode der evangelischen Kirche in Deutschland, wollten in Thunberg eine Prophetin erkennen.
"Mich erinnert Greta an die Stelle aus dem Prophetenbuch Amos, wo es heißt: 'Sie hassen den, der im Tor Recht spricht, und verabscheuen den, der die Wahrheit sagt'",
so Göring-Eckardt letztes Jahr über die Klimaaktivistin. Berlins Erzbischof Heiner Koch verglich Gretas Wirkung sogar mit der von Jesus:
"Mich erinnern die Freitagsdemos ein wenig an die biblische Szene vom Einzug Jesu in Jerusalem",
sagte Koch 2019 mit Blick auf die Karwoche.
Greta Thunberg – also nicht nur eine Heldin, sondern auch eine Prophetin, gar eine Erlöserin?
Greta-Hype offenbart überwältigende Sehnsucht nach Erlösung
Helden sind mit Propheten, Heiligen oder Märtyrern nicht identisch, haben aber viel mit ihnen gemeinsam. In jedem Typus dieser Reihe steckt der Gedanke des Opfers, der Hingabe für einen höheren Zweck. Deshalb besitzen Propheten, Heilige und Märtyrer immer heroische Züge. Umgekehrt sind viele Helden sakral konnotiert. Das liegt auch daran, dass die alten, sagenhaften Heroen oft zur sakralen Sphäre gehörten und als solche rituell verehrt wurden.
Die Zuschreibungen, die der Greta-Hype hervorgebracht hat, sagen jedoch weniger über Thunberg aus als über die Bedürfnisse ihrer Bewunderer. Dadurch, dass man die 17-Jährige zur Prophetin und Erlöserin überhöht, kann man einen Teil der Verantwortung an eine "höhere Instanz" abgeben, sich selbst entlasten. Zutage treten ein empfundener Mangel an der modernen Gesellschaft, ein Bedürfnis nach Orientierung – und eine überwältigende Sehnsucht nach Erlösung.
Über Thunberg wird nicht nur gesprochen; es gibt längst Bücher über sie. Wie gesagt: Von Helden muss berichtet werden, um ihre Taten gesellschaftlich zu beglaubigen. Gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich dienen Helden als Role‑Models. Im Kinderbuch "Greta – wie ein kleines Mädchen zu einer großen Heldin wurde" wird Thunbergs Weg vom einsamen Schulkind zur Klimaaktivistin nachgezeichnet. In dem Buch "Szenen aus dem Herzen" erzählt die Familie Thunberg selbst ihre Geschichte. Meistens spricht Gretas Mutter. Im Mittelpunkt steht der bis zur Verzweiflung geführte Kampf der Familie mit Gretas Diagnose, nämlich "Asperger, hochfunktionaler Autismus und Zwangsstörungen", wie es heißt. Wie sehr Familien- und Klimakrise ineinander übergehen, wird erstaunlich offen verhandelt.
Manchmal erinnert die Form der Aufzeichnung aber auch an ein Evangelium. Was Greta sagt, wird "überliefert". Dann sagt ihr Vater: "Wiederhol‘ das nochmal, ich schreib‘ das auf." Zu Überhöhungen neigt auch die Mutter, wenn sie vom Asperger‑Syndrom ihrer Tochter wie von einer 'Superkraft' spricht. Sie schreibt:
"Greta gehört zu den wenigen, die unsere Kohlendioxide mit bloßem Auge erkennen können. Sie ist das Kind, wir sind der Kaiser. Und wir sind alle nackt."
"Sie ist das Kind, wir sind der Kaiser." In diesen Worten steckt etwas Wahres. In Greta Thunberg hat sich die westliche Gesellschaft eine Heldin erkoren, die vor allem durch ihre kindliche Ausstrahlung wirkt, ihre Unschuld. Im Gegensatz zu jedem erwachsenen Repräsentanten zeichnet sich die Schülerin durch ihr Nicht‑Involvement aus, ihre Nicht-Verstricktheit in das System. Sie hat keine "schmutzigen Hände": Thunberg ist die Heldin, in der sich die westliche Gesellschaft ihre Unschuld zurechtträumt.
Carola Rackete - heroisiert und sakralisiert
Noch an einer weiteren Person entzündete sich letztes Jahr die Heldendiskussion: Carola Rackete, die im Juni 2019 mit geretteten Bootsflüchtlingen an Bord der Sea‑Watch 3 gegen den Widerstand der italienischen Behörden in den Hafen von Lampedusa einfuhr. Jedoch ist das Flüchtlingsthema noch weitaus weniger konsensfähig als die Klimafrage. Daher titelten viele Medien "Heldin oder Kriminelle?", als es um die 31-jährige Seenotretterin ging.
Aber auch Rackete wird heroisiert und sakralisiert: als Jeanne d'Arc, als Freiheitsstatue oder Heilige. Die Publizistin Jagoda Marinić wertete dies im Deutschlandfunk als Beleg für einen aktuellen Heldenbedarf. Sie sagte:
"Die Reaktion auf Carola Rackete beweist vor allem, dass wir nicht ganz im postheroischen Zeitalter angekommen sind und selbst wenn, dass wir tatsächlich wieder dorthin gehen, dass wir Heldenbilder brauchen."
Nicht nur in Deutschland, auch im Mutterland der katholischen Kirche geizte man nicht mit Lobpreisungen. Auf Sizilien malte ein Künstler ein Bild von Carola Rackete mit Heiligenschein an ein Haus und nannte es "Heilige Carola". Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare bezeichnete Rackete als "Antigone unserer Zeit". Zur Erinnerung: In der Tragödie des Sophokles setzt sich die Königstochter Antigone gegen das Verbot des Kreon, ihren Bruder zu bestatten, zur Wehr. Der Tod Antigones wird in modernen Bearbeitungen des Stoffs gern zum heroischen Selbstopfer stilisiert.
Und auch Carola Rackete ist bereits in den Kinderzimmern angekommen. Im Kinderbuch "Käpt*in Rackete" rettet ein kleines Mädchen mit braunen Haarmassen und Totenkopf-T-Shirt Plüschbär, Hund, Wurm und Spinne vor einem Gewitter. In den Weg stellt sich ihr der miesepetrige Hauskater mit dem anspielungsreichen Namen Saltini. Der Refrain in dem Buch für Kinder ab vier Jahre lautet:
"Unsre Käpt*in heißt Rackete. Alles and’re als aus Knete. Sie hält stets stand, ob heiß, ob nass. Wenn sie's nicht schafft, schafft niemand das."
Handlungsanweisung für Helden: Handeln duldet keinen Aufschub mehr
Daneben hat Rackete, die sich auch für die Umweltbewegung Extinction Rebellion engagiert, ihre Forderungen in einem Buch formuliert, das schon mit seinem Titel "Handeln statt hoffen. Aufruf an die letzte Generation" darauf abzielt, Handlungsdruck zu erzeugen.
In solcher Notstandsrhetorik liegt ein Problem. Wenn der ökologische Kollaps schon in wenigen Jahren droht, wenn man zur "letzten Generation" vor der Auslöschung gehört, so die Argumentation mancher Aktivisten von Extinction Rebellion, dann könne man heute nicht mehr abwägen, aushandeln, Kompromisse schließen. Dann müsse man die Demokratie durch eine Rebellion außer Kraft setzen und quasi in Notwehr sein Programm exekutieren.
So sagte der Mitbegründer von Extinction Rebellion, Roger Hallam, im September 2019 im "Spiegel":
"Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant. Dann kann es nur noch direkte Aktionen geben, um das zu stoppen."
Das liest sich wie eine Handlungsanweisung für Helden: Der Feind ist identifiziert, das Handeln duldet keinen Aufschub mehr, die Stunde des Kampfes ist gekommen. Erst als Hallam im November 2019 eine rote Linie überschritt und den Holocaust "nur einen weiteren Scheiß in der Menschheitsgeschichte" nannte, distanzierte sich die deutsche Abteilung von Extinction Rebellion von ihm.
Nirgends mehr Helden als im Kino
Das neue Bedürfnis nach Heroen erschöpft sich nicht in der Heroisierung von Umweltaktivistinnen. Der Ruf nach Heldinnen und Helden kommt von vielen Seiten. Letztes Jahr richtete Außenminister Heiko Maas – analog zu "Fridays for Future" – einen Hashtag #donnerstagderdemokratie ein und suchte nach "demokratischen Alltagsheld*innen". Dass Helden in aller Munde sind, belegen Bücher und Medienproduktionen. Typische Titel der Saison in Belletristik oder Sachbuch lauten "Held, Heldin, Superhelden", "Annette, ein Superheldinnenepos", "Warum Demokratien Helden brauchen", "Der postheroische Held" oder "Sheroes" – also das englische "Heroes" mit vorangestelltem "s".
Zeitschriften und TV-Sender präsentieren "Superhelden der Geschichte: Von Odysseus bis Nelson Mandela", "Helden der Bibel", natürlich "Klimahelden" – und rufen eine "Zeit für Helden" aus.
Schon Hegel sah den eigentlichen Platz des Helden in der Fiktion – er selbst sprach von der Kunst. Anders als in den abstrakten Feldern von Religion und Philosophie könne dort eine allgemeine Tugend durch den Helden sinnlich konkret werden.
Nirgends gibt es derzeit mehr Helden als im Kino. Nach der Jahrtausendwende erfolgte eine wahre Invasion der Superhelden. In den Marvel- und DC-Universen, den wichtigsten amerikanischen Superhelden-Schmieden, werden unermüdlich längst vergessene Comic-Recken aus dem 20. Jahrhundert reanimiert und neben bewährten Kämpfern wie Superman & Co. in den Kampf gegen das Böse geschickt.
Wie in der Systemgastronomie kombinieren die Studios Charaktere und Superkräfte zu immer neuen Sequels und Prequels, die in nicht enden wollenden Feuerwerken aus 3D-Animationen und Spezialeffekten auf das Publikum hinunterregnen. Und das kriegt offenbar nicht genug davon. Letztes Jahr löste Marvels "Avengers: The Endgame", der ein Dutzend US-Starschauspieler zu einer Superheldenriege vereinte, nach zehn Jahren "Avatar" als erfolgreichsten Film aller Zeiten ab.
Die Superhelden mit ihren fast grenzenlosen Fähigkeiten eröffnen unendliche Möglichkeiten für Spiel und Unterhaltung. In der Black Box des Kinosaals oder an der heimischen Konsole kann sich jeder mit dem Superhelden seiner Wahl identifizieren und aus dem grauen Alltag wegträumen.
Populistische Politiker nutzen Superhelden-Boom
Auch populistische Politiker diesseits und jenseits des Atlantiks versuchen aktuell, von dem Superhelden-Boom zu profitieren. Während des Gerangels um den Brexit verglich der heutige britische Premierminister Boris Johnson sich und sein Land mit der Comic-Figur "The Incredible Hulk". Hulk ist eine Dr.‑Jekyll‑and‑Mr.‑Hyde‑Variante: Bei Wutausbrüchen verwandelt sich der Wissenschaftler Bruce Banner in einen grünen Hooligan namens Hulk. Boris Johnson sagte also:
"Je wütender Hulk wird, desto stärker wird Hulk. Banner mag Handschellen tragen, aber wenn man ihn provoziert, sprengt er sie. Hulk ist immer entkommen, egal, wie eng gefesselt er war."
Jüngst hat Johnson mit Blick auf den freien Welthandel noch einmal nachgelegt. Da sich in Zeiten des Coronavirus Märkte voneinander abschotteten, so Johnson im Superhelden-Sprech, brauche es – Zitat – "ein Land, das bereit ist, seine Clark‑Kent‑Brille abzunehmen". Großbritannien solle seine bürgerliche Identität hinter sich lassen, um sich, so wörtlich, "mit wehendem Mantel und Superkräften" für das Recht auf freien Welthandel einzusetzen.
Noch ärger trieb es Donald Trump. Schon während des Wahlkampfs 2016 hatte sich der spätere US-Präsident auf Batman bezogen, den Rächer mit der Fledermausmaske, ein Nachfahre Graf Draculas. Im laufenden Wahlkampf steigerte Trump sich noch einmal. Da der Präsident seit Längerem von einem Twitter-Account namens "President Supervillain" parodiert wird, der Trump-Zitate dem Bösewicht Red Skull aus dem Comic "Captain America" in den Mund legt, holte er zum Gegenschlag aus. Er ließ in einem Clip sein Konterfei über das Gesicht von Thanos, dem Superschurken im Comic "Avengers", montieren, der mit seinem "Unendlichkeitshandschuh" die halbe Menschheit liquidiert. Thanos-Trump löscht darin mit einem Fingerschnippen seine Gegner Nancy Pelosi und Adam Schiff aus – was im demokratischen Lager natürlich für helle Aufregung sorgte.
Narzisstische Vergrößerung ihrer Egos
Mit ihren Vergleichen zeigen Johnson und Trump, dass sie zivile Tugenden wie Vernunft, Mäßigung, Höflichkeit, die eigentlich zum Rüstzeug von Politikern westlicher Demokratien gehören, für überholt halten. Im pubertären Gestus der Übertrumpfung – Hulk-Johnson gegen die EU, Thanos-Trump gegen die US‑Demokraten – wird sichtbar, dass diese Männer Politik als persönlichen Kampf, wenn nicht als Krieg betrachten.
Beide berufen sich auf ein Konzept der Selbsterschaffung, wie es Nietzsche in "Also sprach Zarathustra" formulierte:
"Und Zarathustra sprach also zum Volke: Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll."
Nietzsche wollte seinen heroischen Übermenschen an die Stelle Gottes setzen. Ohne nun Johnson und Trump ein weiteres Mal dämonisieren oder die komplexe Philosophie Nietzsches simplifizieren zu wollen – damit ist eine Richtung vorgegeben: Johnson und Trump nutzen den Helden zur narzisstischen Vergrößerung ihrer Egos.
Mit Superhelden das Gefühl einer tiefen Ohnmacht kompensieren
"Superman" ist die direkte Übersetzung von "Übermensch" – das ist der Name des ersten erfolgreichen Comic-Superhelden. Erfunden wurde der fliegende Retter mit dem roten Cape 1938 von zwei jüdisch-amerikanischen Immigrantensöhnen, Jerry Siegel und Joseph Shuster. Bevor die "gute" Version des Superman das Licht der Welt erblickte, hatten Siegel und Shuster 1933 einen glatzköpfigen Negativhelden gleichen Namens mit zerstörerischen geistigen Kräfte erfunden, der sich an Nietzsche orientierte, welcher nach seinem Tod von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden war. Aber erst der tugendhafte Superman wurde ein kommerzieller Erfolg. Später erdachten jüdische Zeichner auch Captain America, Batman und Hulk, Spiderman, Iron Man, Thor, die Fantastic Four oder X-Men.
Was die wenigsten wissen: An der Wiege dieser amerikanischen Superhelden stand der Wunsch, das Gefühl einer tiefen Ohnmacht zu kompensieren. Die jungen jüdischen Erfinder, Außenseiter der amerikanischen Gesellschaft, fürchteten den aufsteigenden Nationalsozialismus. Daher schufen sie mit Superman einen überlegenen Charakter, der vom Planeten Krypton stammt, ein Kostüm aus unzerstörbarem Material trägt und durch Mauern sehen kann. In seiner Kriegsversion kämpfte Superman gegen Nazis und Japaner. Im Alltag führt er eine unauffällige Existenz als Reporter Clark Kent.
Das Doppelleben hat Superman mit Dutzenden anderer Superhelden gemeinsam. Batman ist im "normalen Leben" Bruce Wayne, Spiderman Peter Parker und Hulk, wie gesagt, Bruce Banner.
"Superman war die ultimative Phantasie der Assimilierten",
schrieb der Comic-Zeichner Jules Feiffer 1996 in der "New York Times" über die ostjüdischen Einwanderersöhne, die in den USA oftmals neue Namen annahmen, um ihre wahre Herkunft zu verbergen.
"Superman kam nicht von Krypton, er kam vom Planeten Minsk oder Lodz oder Warschau."
Weiblichhe Heldinnen im Superheldengeschäft
Den Trend zu weiblichen Helden gibt es nicht nur bei den Klimaaktivisten, sondern auch im Superheldengeschäft. Nachdem man bei den beiden letzten "Star Wars"‑Filmen schon eine Frau in den Mittelpunkt gestellt hatte, feierte auch die bislang größte Comic-Superheldin "Wonder Woman" 2017 mit der Israelin Gal Gadot in der Hauptrolle in einem ersten, nur ihr gewidmeten Film Wiederauferstehung. Die Amazonen-Prinzessin aus dem DC-Universum stammt aus den 1940er-Jahren, wo sie nach einer Befragung von Frauen entwickelt wurde. Feministinnen schätzen an ihr, dass sie ihre Ziele ohne Gewalt zu erreichen versucht.
2019 hielt das Marvel-Universum mit seinem ersten Superheldinnen-Film dagegen. In "Captain Marvel" spielt die Amerikanerin Brie Larson die Supersoldatin Carol Danvers und ihr außerirdisches Alter Ego, das seine Superkräfte entdeckt. Der US‑Start erfolgte am Weltfrauentag.
Und Marvel hat schon den nächsten Coup in der Pipeline. Noch in diesem Frühjahr soll mit Scarlett Johansson als "Black Widow" die erste queere Heldin im Zentrum eines Superheldenfilms stehen.
Bedürfnis nach Helden ist ein Krisensymptom
Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen den jungen Klimaaktivistinnen von heute und den alten Heroen, die bedenkenlos in den Krieg zogen. Doch auch nach dem Ende des militärisch geprägten Heroismus gibt es eine Gegenläufigkeit von Demokratie und Heldentum. Die Demokratie ist egalitär; der Held dagegen ist exzeptionell – und folgt eigenen Regeln. Dabei ist allerdings festzuhalten, dass die jungen Klimaaktivistinnen sich selbst nicht als Heldinnen bezeichnen, sondern solchen Zuschreibungen, die oft mit apokalyptischen und messianischen Vorstellungen gekoppelt sind, distanziert begegnen.
Doch die Vertreter der aktuellen Klimabewegung, der das Verdienst zukommt, den Klimawandel ganz oben auf die politische Agenda gebracht zu haben, neigen in ihrer Unbedingtheit zu plakativen Botschaften, zu affektgeladener Konfrontation und zur Behauptung alternativloser Handlungszwänge. Die Demokratie aber lebt davon, dass Interessen ausgeglichen und Kompromisse ausgehandelt werden.
Für die Wirklichkeit ist der Superheld ein fatales Handlungsmodell. Politiker, die sich an Superhelden messen, kommen ihrem demokratischen Auftrag nicht nach. Das Prinzip des Kampfes gefährdet die Demokratie. Und das Publikum? Im Erfolg der Superheldenfilme kann man auch eine wachsende Tendenz zur Flucht aus einer immer komplexeren Welt sehen. Ein ums andere Mal werden kollektive Ängste aktiviert, da stets nicht weniger als der Weltuntergang und das Ende der Menschheit auf dem Spiel stehen.
Das Bedürfnis nach Helden in einer Demokratie, die bislang ihrem Selbstverständnis nach postheroisch gewesen ist, ist ein Krisensymptom. Befürworter des Heldentums argumentieren, dass der Held gerade dazu da sei, durch Regelverletzung den Status-quo zu transzendieren und so eine Gesellschaft aus der Krise zu führen.
Dahinter steht die Vorstellung, ein großer Einzelner könnte die Geschicke der Welt verändern. Doch das hat sich bis jetzt immer als illusionär erwiesen – zu sehr reduziert die Heldengeschichte die Komplexität der Welt auf eine vermeintlich selbstmächtige Person. Nein, der Held ist nicht tot. Er kann auf Probleme aufmerksam machen. Aber je komplexer diese Probleme sind, desto weniger wird ein Einzelner in der Lage sein, sie zu lösen.