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Herr der Reiseführer

Sein Name stand einst für wichtige und richtige Information, für Verlässlichkeit und Genauigkeit: Karl Baedeker schuf die moderne Variante des Reiseführers. Vor 150 Jahren starb der Verleger und Buchhändler.

Von Günther Wessel | 04.10.2009
    Die Stufen des Mailänder Doms zählt man so: Man nimmt getrocknete Erbsen und steckt alle 20 Stufen eine von der Westen- in die Hosentasche, Oben angekommen zählt man die kleinen Kugeln, multipliziert sie mit 20 und addiert die Reststufen. Beim Runtergehen macht man die Gegenprobe. Kompliziert?

    Jedenfalls soll es so Karl Baedeker 1847 gemacht haben. Das Ergebnis: 165 Stufen und ein Neueintrag ins Wörterbuch: Erbsenzähler als Bezeichnung für einen peniblen Menschen.

    Der Erbsenzähler Karl Baedeker stammte aus einer alteingesessenen Buchdrucker- und Verlegerfamilie und wurde 1801 in Essen geboren. Er besuchte das Gymnasium, lernte den Beruf eines Buchhändlers, studierte Geisteswissenschaften und arbeitete zunächst als Hilfskraft des Berliner Verlagsbuchhändlers Georg Andreas Reimer.

    Am 1. Juli 1827 eröffnete er dann selbst seine Buchhandlung im Zentrum von Koblenz. Die Stadt erlebte damals eine Blütezeit. Vor allem englische Besucher kamen in Scharen an den romantischen Ort am Rhein.

    "Das Deutschland um 1800 war ein rückständiges Agrarland",

    sagt der Sozialwissenschaftler und Tourismusexperte Hasso Spode von der Freien Universität Berlin.

    "Es gibt Reisebeschreibungen, die sagen, wenn man durch Deutschland fährt, dann sind das große einsame Wälder, da drin liegen putzige kleine Dörfer, vielleicht auch mal noch mal eine Burgruine, ein Schloss, und deshalb gehört der Rhein, also der Mittelrhein, dort wo die meisten Burgen noch erhalten waren, zu den ganz großen touristischen Attraktionen des 19. Jahrhunderts."

    Baedeker sah sich diese Besucherströme genau an und zog seine Schlüsse: 1832 kaufte er den Verlag Friedrich Röhling und dessen Veröffentlichungsrechte – ein buntes Sammelsurium aus Belletristik, Schulbüchern und religiösen Schriften. Davon interessierte ihn aber nur ein Titel: das 1828 erschienene Buch von Johann August Klein namens "Rheinreise von Mainz bis Cöln, Handbuch für Schnellreisende." Baedeker ließ eine Karte des Rheinlaufes dazudrucken und mit einbinden - das Buch verkaufte sich besser als je zuvor.

    1835 erschien die nächste Auflage: der erste "echte" Baedeker. Der Verleger hatte Kleins Reiseführer überarbeitet und ergänzt. Hasso Spode:

    "Der Erfinder dieses Genres war ein gewisser John Murray in England. Der hatte eine Reihe gleich entwickelt, die er rot einband, und darin kopierte ihn nun der Karl Baedeker, und er begann dann sehr bald das Prinzip von Murray so gut auszubauen, dass selbst im Englischen heute ein Reiseführer immer noch Baedeker heißt."

    Die präzisen Darstellungen und die genauen Informationen wurden rasch Baedekers Markenzeichen. Ebenso die Einführung von Sternen, die er für besondere Sehenswürdigkeiten vergab, Kirchen oder Schlösser, aber auch Sonnenauf- und -untergänge wurden auf diese Weise ausgezeichnet. Nicht jeden erfreute das. Ludwig Thoma zürnte:

    "Es ist unglaublich, welchen moralischen Zwang dieser Baedeker mit seinen zwei Kreuzen ausübt. Er nötigt uns, minutenlang vor einem Bilde zu stehen und Mienenspiele zu treiben ... Frau Kommerzienrat nimmt ihren Bleistift und streicht im Baedeker das erledigte Pensum durch."

    Doch dem Erfolg der roten Bücher tat diese Kritik keinen Abbruch.

    "Der entscheidende Punkt war, dass die Information nun standardisiert aufbereitet wurde, und dass hier in quasi wissenschaftlicher Form nüchterne Information aneinandergereiht wurde."

    Sie machte Baedeker, der am 4. Oktober 1859 starb, berühmt und unvergessen: Eine Anekdote berichtet, dass der deutsche Kaiser Wilhelm I. einmal kurz vor Mittag eine wichtige Besprechung unterbrochen habe, um im Palais Unter den Linden ans Fenster zu treten. Auf die erstaunte Frage warum er dies täte, antwortete er, im Baedeker stünde, er beobachte immer um zwölf Uhr die Wachablösung. Nun könne er die Berlin-Besucher, die sich auf den Reiseführer verließen, nicht enttäuschen.

    Majestät irrte – im Berlin-Führer stand nichts dergleichen. Doch mit seinem Irrtum bestätigte der Kaiser, was der Autor des englischen Librettos von Jacques Offenbachs Operette "Pariser Leben" etwas holperig reimte:

    "Kings and governments may err
    But never Mr. Baedeker.”