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Herr über die Schellack-Töne

Gisela von Wysocki ist die Tochter eines Zauberkünstlers, der schwarzen Scheiben, den Schellackplatten, Musik entlocken kann. Das autobiografische Buch "Wir machen Musik" erinnert an Georg von Wysocki, einen Tausendsassa, dem alles gelingt.

Von Alain Claude Sulzer | 27.05.2011
    Die Rolle, notfalls auch als zersägbare Jungfrauen zur Verfügung zu stehen, übernahmen die Frauen des Hauses Wysocki offenbar gern. Denn sie bewunderten den Magier, der gewiss auch das zustande brachte. Dieser Zauberkünstler, der alles beherrschte, war der bewunderte Vater, eine Figur, die in den Augen der Tochter von einem Glanz umgeben war, der auch heute - Jahrzehnte später, Jahrzehnte nach dem Krieg -, da sie nun von ihm erzählt, nicht verblasst ist. Wie die Mutter es sah, erfahren wir nicht, denn der Blick dieser autobiografischen "Geschichte" ist subjektiv. Er geht zunächst nicht in die Ferne, sondern tief, in Schichten, zu denen vorzudringen man für gewöhnlich fremder Hilfe bedarf.

    Der Glanz, der den Vater umgab, war leuchtend schwarz, er hatte die Farbe einer Schallplatte, und war aus einem besonderen Material: Aus Schellack, dem unbestechlichen Transporter der Töne und Gefühle, die anderswo entstanden und empfunden worden waren, als dort, wo man sie schließlich hören konnte. Im Studio produziert, zu Hause vernommen, dazwischen eine Fabrikfertigung, die unglamourös genug war, um ignoriert werden zu dürfen.

    Herr über diese Töne war der allmächtige Vater, um den, gleich einem schellackscheibenförmigen schwarzen Mond die Planeten Mutter - eine Hausfrau mit Hühnern im Stall und Allüren im Kopf - und Tochter kreisten. Diese erzählt nun, als wäre die Zeit am Ende einer sich immer weiter drehenden Schellackplatte endlich stehen geblieben. Durch den schallverstärkenden Trichter ist nach dem letzten, längst verklungenen Ton nur noch das Knistern und Kratzen der tonlosen Rille zu hören.

    Ähnlich rotieren Gisela von Wysockis Gedanken im Kreis um den Vater und das, was ihn außerhalb der Familie aus- und bedeutsam machte. Das, wovon man nur die Resultate kannte (den Rest musste man sich zusammenfantasieren): Die unzähligen Platten, die er abends nach Hause brachte und die dem Kind eine Ahnung davon vermittelten, was sich draußen zutrug, wo es zum einen Firmenchefs und Sekretärinnen, zum anderen Damen mit Perlenketten gab, die Zigarettenspitzen und lose Sprüche im Mund führten, wo Richard Tauber der beste Freund und Lilian Harvey mehr als ein blonder Traum jenseits des Alltags war. Mit alledem war der Vater vertraut, während die Mutter - es herrschte Krieg, man lebte zur Sicherheit vor Bombenangriffen vorübergehend auf dem Land - zu Hause Hühner züchtete, köpfte und kochte und der Tochter erfolglos beizubringen versuchte, wie man durch das partielle Besingen von Schallplatten Aufmerksamkeit erringen könnte, wenn man schon nicht das Zeug zum Kinderstar hatte. Doch die Tochter erwies sich als sängerisch unbegabt (auf dem Klavier war sie dann besser); kein Vergleich jedenfalls mit dem Vater, der alles konnte, weil er scheinbar alles - und alle? - beherrschte. So zumindest sah es die Tochter. Wie hätte sie es anders sehen können, da sie es gar nicht anders sehen wollte?
    Der Vater war Anfang 30 und bis dahin als Zeitungsakquisiteur tätig gewesen, als er sich auf eine Annonce der Lindström Odeon-Schallplattenwerke meldete und unter 900 Bewerbern als neuer Produktionsleiter auserwählt wurde. Auf das Gremium, dem er vorsprach, machte er wohl einen ähnlichen Eindruck wie auf die Tochter: Seine Überzeugungskraft rührte nicht von Berufserfahrung, sondern von der detaillierten Kenntnis der Branche und der Konkurrenz, die es zu überflügeln galt, wie er überzeugend darzulegen wusste. Was ihm offenbar spielend gelang, denn im Spielen und Zaubern, in Artistik und subtilem Angriff war er ja Meister. "Nach diesem Ton", schreibt Gisela von Wysocki, "hatten sie wohl gesucht, nach diesem unbeschwerten, unverfrorenen Sound." Er stellte das Programm von Schlittschuhläuferwalzern, Meyerbeer-Ouvertüren und Tritschtratsch-Polkas um auf: "That's my baby", "Wer Lola sieht, muss Lola lieben" oder "Ausgerechnet Bananen".

    Dem Vater gelingt alles, die Tochter muss sich erst aus seinem Schatten befreien. Nachdem der Tonabnehmer die Platte der Kindheit wie einen dunklen Fluss überquert hat, steht sie am anderen Ufer, Adorno im Gepäck, denn ausgerechnet ihn hat sich die begeisterungsfähige Schülerin als Gegenzauber auserwählt. Es scheint, als suchte sie selbst die Partner in der Tanzschule aufgrund deren Adorno-Kenntnissen aus.

    Dem Mann, bei dessen Namen man eher an eine Akrobatendynastie als an einen Lehrstuhl denkt, ist - wie sie (nicht ohne Lust am Untergang der Werte ihrer Kindheit) lesen muss - nichts so verhasst wie das, was den Mittelpunkt der väterlichen Existenz bildet: Unterhaltungsmusik! Sie ist des kapitalistischen Teufels. Der Schritt, den die junge Gisela tut, könnte radikaler nicht sein. Am Klavier, an dem sie eine nicht geringe Könnerschaft erlangt, tritt unter seinem Einfluss Bartok an die Stelle von Kreuder, Schönberg an die von Igelhoff. Das neue Vorbild - der aus den USA heimgekehrte Philosoph mit musikalischen Vorstellungen, die denen des Vaters diametral zuwiderlaufen - wirft aber nicht nur theoretische Fragen auf; Adorno konkretisiert auch jene nach dem Verschwinden der aus Deutschland vertriebenen Juden, die der Vater zu seinen Freunden zählte, ohne ihnen zu folgen, zum Beispiel Richard Tauber.

    Mit dem Geld aus den Tantiemen der Schlager, die Vater und Mutter nächtens unter Pseudonym verfassen, studiert die Tochter schließlich bei dem Mann, der das Tonreich des Vaters wie ein Kartenhaus zu Fall gebracht hat. Die Idole ändern, doch der Vater bleibt in jeder Gestalt, mit leichten Kratzern wie jede oft und gern gespielte Platte.

    Die Abkehr vom Vater findet statt, nimmt aber in dieser Kindheitsgeschichte vergleichsweise wenig Raum ein. Durch diverse Hintertüren, von deren Existenz die junge Studentin noch nichts wusste, ist er im Lauf der Zeit als höchst lebendige Erinnerung, an der wir Leser teilnehmen, zur Tochter zurückgekehrt. Der perfekte Illusionist hat sich den Platz gesichert, der dem unwiderstehlichen Verführer gebührt. Er und seine schwarzen Scheiben waren am Ende doch stärker und überzeugender als die Ansichten des Frankfurter Professors, der die Wort gewordene Erinnerung an den Vater am Ende womöglich erst ermöglichte. In diesem Buch, in dem der Vater die zentrale Rolle spielt, nimmt er allerdings nur gerade so viel Raum ein wie es einer aseptischen Nabelschere zusteht.

    Gisela von Wysockis Suche nach den Gegebenheiten einer zweifellos privilegierten deutschen Kindheit während des Kriegs und danach, erweist sich als Fundgrube, in der es viele Bruchstücke heller und dunkler Edelsteine gibt, die sie birgt, betrachtet und beschreibt, und in denen auch wir Nachgeborenen in manchen Topoi (also Gemeinplätzen) unsere eigene Kindheit wiederfinden, auch wenn diese ohne einen solchen Vater und ohne die Musik auskommen musste, die er "machte".

    Gisela von Wysocki: "Wir machen Musik: Geschichte einer Suggestion". Suhrkamp Verlag, Berlin. 258 Seiten. 22,90 Euro.