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Herrschaft durch Vorurteile
Vergifteter Feminismus

Als in der Silvesternacht 2015 in Köln hunderte Frauen von mutmaßlich nordafrikanischen Männern sexuell bedrängt wurden, entbrannte eine Debatte über Vorurteile. Ist es rassistisch, die Täter als Muslime zu kategorisieren? Die Soziologinnen Sabine Hark und Paula-Irene Villa untersuchen das Verhältnis von Feminismus, Sexismus und Rassismus.

Von Stephanie Rohde | 20.11.2017
    Eine Demonstration vor dem Kölner Dom gegen Rassismus und Sexismus nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht.
    Eine Demonstration vor dem Kölner Dom gegen Rassismus und Sexismus nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht. (picture alliance/dpa - Oliver Berg)
    Wer ein Buch schreibt, ist sich seiner Argumente meistens sicher. In diesem Fall ist es erfrischenderweise anders: Ausgangspunkt für dieses Buchs war eine Verunsicherung, wie Sabine Hark, Soziologin und Gendertheoretikerin an der TU Berlin, im Epilog offenbart:
    "Jedenfalls war es für mich verunsichernd, mich selber in einer Redeposition zu finden, in der ich 'ja, aber' zu sexualisierter Gewalt sage."
    Wie kann man die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln thematisieren, ohne rassistisch zu argumentieren? Also ohne Gefahr zu laufen, Kategorien wie "die Flüchtlinge" zu konstruieren und diese verallgemeinernd zu diffamieren oder andererseits sexuelle Gewalt zu relativieren? Mit diesen Fragen im Kopf beginnen die beiden Soziologinnen Sabine Hark und Paula-Irene Villa ihr anspruchsvolles Unterfangen.
    "Aufgeklärter Fundamentalismus"
    Die Autorinnen verstehen die Silvesternacht von Köln als Projektionsfläche. Sie legen in ihrem Essay verschiedene Projektionen offen. Da werden zum Beispiel vermeintlich feste Gruppen behauptet, wenn von "den Flüchtlingen" oder "den Frauen" die Rede ist und deren Identität anhand von eindeutigen Zuschreibungen als "triebgesteuerte Täter" oder "sexualisierte Opfer" auf einzelne Verhaltensweisen reduziert werden.
    Problematisch sei diese sogenannte "Essentialisierung" von Identitäten, weil Binnendifferenzen innerhalb der jeweiligen behaupteten Gruppe unsichtbar würden und nur vermeintliche Klarheiten über "die Flüchtlinge" oder "die muslimischen Männer" erzeugt würden.
    Neben dieser "Essentialisierung" beschreiben Hark und Villa eine weitere problematische Projektion, die sie den "aufgeklärten Fundamentalismus" nennen. Wer behaupte, Aufklärung, Freiheit und Demokratie seien westliche Werte, die Menschen aus der islamischen Welt nicht erringen könnten, argumentiere fundamentalistisch.
    Vergifteter Feminismus
    In solche Argumentationsmuster seien nach der Silvesternacht von Köln auch Feministinnen verfallen, frei nach dem Motto: Einheimische Frau muss vor triebgesteuertem Moslem beschützt werden.
    "Offen rassistisch zu sprechen war nun nicht nur möglich, sondern im Namen der Verteidigung westlicher Werte, der Gleichheit der Geschlechter und des Schutzes 'unserer' Frauen geradezu legitim geworden."
    Weil Rechte von Frauen in Stellung gebracht wurden gegen das pauschalisierte "Fremde", sprechen Villa und Hark von einem "vergifteten Feminismus".
    "Das war uns ganz wichtig, nicht zu sagen, ach, dann ist das kein Feminismus mehr, sondern das anzuerkennen, das sind durchaus auch feministische Positionen, aber feministische Positionen sind nicht per se rein und gut, sondern können eben auch im Dienste der Rechtfertigung weißer Vorherrschaft, kultureller Überlegenheit des Westens gegenüber dem Orient oder dem Islam eingesetzt werden."
    Erhellend ist, dass die Soziologinnen viele Argumente zum Beispiel im Streit um muslimische Verhüllung aufgreifen und zeigen, dass Emanzipation sich nicht – wie etwa in der Debatte um den Burkini behauptet – in der Nacktheit der Frau ausdrückt, sondern im selbstbestimmten Umgang mit dem Körper.
    Femonationalismus
    Außerdem kritisieren die Autorinnen den sogenannten "Femonationalimus" und Feministinnen wie Alice Schwarzer, der sie vorwerfen, nationalistische oder kulturalistische Argumente mit feministischen zu verflechten. Aber wie könnte man das vermeiden?
    "Ich glaube, die Entflechtung kann nur gelingen, wenn wir uns sehr genau anschauen, wie die Verflechtungen funktionieren und uns verständlich machen, wie das eine das andere braucht, um sich zu artikulieren, also dass wir rassistische Argumente in der Form anti-sexistischer Kritik äußern und umgekehrt."
    Wer sich von dem Buch eine Patentlösung für das Problem erhofft hat, wie man über "Köln" reden kann, ohne entweder sexistisch oder rassistisch zu argumentieren, wird enttäuscht.
    Genau an diesem Punkt setzt die Kritik der im Buch angegriffenen Feministin Alice Schwarzer an. Sie wirft den Autorinnen und auch der Gendertheoretikerin Judith Butler vor, klare inhaltliche Positionierungen zu scheuen und sich nur mit Formfragen zu beschäftigen.
    Allerdings offenbart die Lektüre dieses Buches, dass beide Seiten in der aktuellen Feminismus-Debatte teilweise aneinander vorbeireden: Während Schwarzer sich politisch positioniert, verfolgen Hark und Villa den Anspruch, einen theoretischen Beipackzettel für Debatten zu liefern – und ambivalente Verstrickungen von Sexismus, Rassismus und Feminismus offenzulegen. Das klingt abstrakt, ist aber eine konkrete Positionierung.
    Anders als Schwarzer zeigen Hark und Villa, dass nicht Unterschiede zwischen Geschlechtern oder Herkünften per se das Problem sind, "dass aber Unterschiede allzu oft benutzt werden, nicht um Verschiedenheit auszudrücken, sondern um Ungleichheiten zu rechtfertigen, um zu legitimieren, warum den einen etwas zusteht und den anderen nicht. Also das war der Mechanismus, den wir kenntlich machen wollten im Horizont dessen, dass wir für ein Denken in Differenzen plädieren, dass wir nicht sagen, alle Differenzen müssen zum Verschwinden gebracht werden. Aber was wir verstehen müssen ist, wie Differenzen genutzt werden, um Herrschaft auszuüben."
    Herrschaft durch Unterscheidung
    Genau darin liegt der Mehrwert dieses Buchs. Ohne oberlehrerhaft zu klingen, zeigen die Autorinnen, dass die Unterscheidung von einem vermeintlich unterschiedslosen "Die" und einem unterschiedslosen "Wir" nicht zufällig das Reden über Flüchtlinge und sexuelle Gewalt seit "Köln" dominiert. Es handelt sich hier um Herrschaftstechniken. Wer eine scheinbar klare Differenz von "die" und "wir" behauptet, nimmt eigentlich eine umkämpfte Differenzierung vor und beansprucht Deutungshoheit.
    Plädoyer für Differenzierung
    Dieser Essay ist also weit mehr als nur ein Beitrag zur Feminismusdebatte. Das Buch ist ein Plädoyer dafür, die Differenz in Differenz zu denken, ohne Ungleichheiten zu behaupten. Das kann mitunter anstrengend und unbefriedigend sein, weil einfache und klare Antworten sich als zu einfach und verunklarend entpuppen – und weil die Lektüre wegen des gendertheoretischen Einschlags und einiger Redundanzen nicht immer leicht fällt.
    Aber wer "Unterscheiden und Herrschen" gelesen hat, kann in Zeiten politischer Polarisierung Herrschaftstechniken des Unterscheidens entlarven - und die finden sich längst nicht nur bei sogenannten Populisten und Rassisten.
    Sabine Hark, Paula-Irene Villa: "Unterscheiden und Herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart"
    Transcript Verlag, 176 Seiten, 19,99 Euro.