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Herzenskälte als Thema

Wer heute Weihnachten zu seinem Thema macht, ist gut beraten, mehr als die zum Fest gehörenden Requisiten aufrufen. Es droht sonst die Gefahr, in den Gefilden der Rührseligkeit zu landen. Dieser Gefahr ist Antje Rávic Strubel in ihrem neuen Roman "Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest" zum Glück entgangen. Weder Hase noch Reh sitzen in stiller Eintracht am Waldesrand, wenn Knecht Ruprecht mit seinem Schlittengespann stadteinwärts zieht.

Von Michael Opitz | 27.12.2007
    Antje Rávic Strubel benutzt ihre Weihnachtsgeschichten wie einen Kassiber und befördert auf diesem Wege unter den Weihnachtsbaum, was man dort weniger gern finden möchte. Es sind keine frohen Botschaften, die sie in "Vom Dorf" versammelt. In ihren Geschichten wird es vielmehr zunehmend kälter und immer öfter bleiben die Engel aus, wie in der Geschichte Unter der Plane, die von Obdachlosen handelt. Wie Müll werden sie auf einem Lkw verladen und aus der Stadt transportiert.

    Die Geschichten von Rávic Strubel sind anders als gewöhnliche Weihnachtsgeschichten, obwohl nicht auf das zum Weihnachtsfest gehörende Ambiente verzichtet wird. Insbesondere Engel tauchen äußerst zahlreich auf und auch an Weihnachtsmännern und für den Festbraten bestimmten Gänsen herrscht kein Mangel. Dass es dennoch weder heimelig noch rührselig zugeht, ist der Tatsache geschuldet, dass die Geschichten auf das Eiapopeia von der Zuwendung als Herzenssache verzichten.

    "Ich habe versucht, das zu lösen, indem ich sozusagen zwei Genres ineinander geschoben habe, die Abenteuergeschichte mit der Weihnachtsgeschichte vermischt habe oder weihnachtliche Elemente in eine Abenteuergeschichte eingebaut habe. Und durch dieses Ineinanderschieben, habe ich dann gehofft, passiert etwas: Es kommen Geschichten zustande, die vielleicht zum Teil als eine neuartige Sicht auf Weihnachten durchgehen könnten."

    Überraschend ist, dass Rávic Strubel in "Vom Dorf" nicht als Autorin, sondern als Herausgeberin in Erscheinung tritt. Sie kommt als eine andere daher, und liegt damit genau im Weihnachtstrend. Denn es ist ja am 24. Dezember in vielen Familien traditioneller Brauch, dass sich ein Bekannter oder Verwandter ein rotes Mäntelchen überstreift und sich mit einem prall gefüllten Geschenkesack Zugang zur festlich geschmückten Stube verschafft. Der Erwartete aber ist nicht der, der er vorgibt zu sein. Insofern haben die Weihnachtsgeschichten von Antje Rávic Strubel die ihr angemessene Form, auch wenn sie die Formfrage zunächst gar nicht interessiert hat.

    "Dieses Buch ist ein Buch, wo ich nicht von Anfang an über die Form nachgedacht habe, sondern ich hatte zuerst die Weihnachtsgeschichten und habe mich gewundert, dass ich solche Weihnachtsgeschichten überhaupt schreibe. Dann habe ich gedacht, vielleicht habe ich sie gar nicht geschrieben, vielleicht gibt es ja tatsächlich irgendwie noch einen Schatten oder eine zweite Erzählstimme in mir, die ich bisher noch nicht entdeckt habe. Ich habe jedenfalls überlegt, wie es kommt, dass diese Geschichten so anders sind, als ich normalerweise schreibe und dann fing ich an, darüber nachzudenken, was denn so möglich wäre und kam dann auf die Idee mit dem ghostwriter oder Stalker."

    Geschrieben hat diesen Roman ein geheimnisvoller Unbekannter, wenn man dem Vorwort der Herausgeberin Glauben schenken darf. Aber gerade zu Weihnachten, wenn Wichtel, Trolle und Engel Konjunktur haben, ist es mit dem Glauben so eine Sache. Auch wer nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubt, lässt sich doch gern auf das Spiel mit dem an Lyrik interessierten Schwerenöter ein. Natürlich hat Antje Rávic Strubel diesen Roman geschrieben, aber sie inszeniert ein Spiel und wechselt außerordentlich gekonnt die Rolle.

    "Das Manuskript zu diesem Buch ging in einem Umschlag ohne Absender beim Verlag ein. In diesem Umschlag befanden sich Weihnachtsgeschichten, über denen mein Name stand und zwar korrekt mit dem Akzent über dem a in Rávic. In einem grünen Hefter fanden sich außerdem tagebuchähnliche Notizen, die als Protokolle bezeichnet waren. Zur Urheberschaft der Protokolle gab es keine Angabe. Der Verlag hatte zu diesem Zeitpunkt kein Manuskript von mir erwartet. Befremdlich wirkte die Sendung außerdem, weil sie ohne Gruß gekommen war, ohne ein Wort von mir, obwohl wir uns sonst immer freundliche Kärtchen in die Briefumschläge steckten."

    Das Buch der gebürtigen Potsdamerin hat eine lange Entstehungszeit gehabt. Seit zehn Jahren war Antje Rávic Strubel mit Vorarbeiten zu dem Roman beschäftigt, die kurz vor dem Fest in vorweihnachtlichen Stress ausarteten, woran der Wunsch des Bruders der Autorin einen erheblichen Anteil hatte.

    "Dieser Roman hat sich relativ langfristig ergeben. Diese Weihnachtsgeschichten habe ich ja geschrieben – und das stimmt – dass mein Bruder tatsächlich irgendwann gefragt hat, er möchte jedes Jahr eine Weihnachtsgeschichte von mir haben. Und so fing irgendwann dieses Buch an. Ich habe dann tatsächlich jedes Jahr eine Weihnachtsgeschichte geschrieben. In dem Buch wird ja auch gesagt, es sind aber nicht diejenigen, die in dem Buch sind, was irgendwie auch wieder stimmt, weil sie sich natürlich jetzt, als ich überlegt habe, daraus ein Buch zu machen, noch einmal extrem verändert haben. Von daher kann ich jetzt gar nicht mehr sagen, ob es einen Ausgangsgedanken gegeben hat. Also, es war nicht so einschneidend wie bei "Kältere Schichten der Luft". Und bei "Tupolew" hatte ich einfach dieses architektonische Gebilde vor mir. Bei "Vom Dorf" ist es vielleicht das Spielerische. Es hat einfach Spaß gemacht, ins Absurde zu gehen. Dieser Text treibt ja so in alle Richtungen aus, also zumindest in den Weihnachtsgeschichten. Das hätte ich bei den anderen Geschichten nie gemacht, da war ich viel begrenzter oder ich habe Sachen, die ich hier einfach so ins Kraut schießen lasse, nicht geschrieben."

    Die Weihnachtsgeschichten an sich, ohne die Protokolle des ghostwriters und ohne seine Briefe, das wären nette Geschichten gewesen, aber ihnen hätte ein entscheidender Reibungspunkt gefehlt, der durch die Erfindung des ghostwriters oder Stalkers hergestellt wird. Durch diese Figur ist es möglich, die mit Weihnachtsgeschichten einhergehende Erwartungshaltung zu brechen. Zugleich kann sich Antje Rávic Strubel bei der Inszenierung des Rollenspiels auch auf die Suche nach der eigenen Identität begeben. Dabei erinnert die Lust an der Fremdwahrnehmung der eigenen Person an Rimbauds Satz: "Ich ist ein anderer."

    "Mich hat eigentlich das Spiel gereizt. Es kommt natürlich ein bisschen daher, dass man sich immer ärgert über Fragen nach dem Autobiographischen. Und so ein Buch, was mit mir und mit mir als Autorenperson spielt, ist natürlich auch ein Spiel mit dem Autobiographischen, weil das, was dieser Stalker da über mich schreibt, beides ist. Es ist sowohl eine Erfindung, aber manche Sachen, könnte man auch sagen, entsprechen der Wirklichkeit. Das ist aber wiederum so eine wilde Mischung, dass man am Ende gar nicht sagen kann, was eigentlich wirklich ist und was nicht wirklich ist. Und das heißt eigentlich: Alles, was über mich in dem Text gesagt wird, im Grunde immer eine Erfindung ist. Und insofern bin ich auch als Autorin eine Erfindung."

    Herzenskälte zieht sich als Thema durch den Roman. Wir begegnen Figuren, die nicht länger allein bleiben wollen. Auch der ghostwriter, der von seiner Frau verlassen wurde, sucht ein Du. Gezeichnet vom Alleinsein und von Enttäuschungen verrennt er sich und überschreitet Grenzen. Auch er wechselt die Identität, begreift aber seine Rolle nicht als Spiel, denn ihm entgleitet allmählich sein tatsächliches Leben. Es ist einiges in Bewegung in dem neuen Roman von Antje Rávic Strubel und manches gerät auch ins Rutschen.

    "Wenn das Jahr in die weihnachtliche Endrunde rutscht, gerät die Vorfreude meistens auch ins Rutschen, was nicht so sein soll und weshalb man Kunsteisbahnen vor Kaufhäuser stellt. Die sollen das Wegrutschen der Freude kaschieren, es aussehen lassen wie eine Körperbewegung. Die meisten Leute hoffen auf die Zeit zwischen den Jahren. Sie sehen darin eine Art Bande, die die Rutschenden auffängt, und dann ist Silvester, ohne daß einer aufgefangen worden wäre, und die Freude schon gar nicht. Ich rutsche eigentlich nie, aber einer schubst immer."

    Antje Rávic Strubel: Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest. Deutscher Taschenbuch Verlag. München 2007, 196 Seiten. 12 Euro.