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Heuchelei um das Liebesleben

Sex vor der Ehe ist bei Frauen ein strafwürdiges Vergehen, bei Männern ein Kavaliersdelikt. Mehrehen sind für Männer möglich, Scheidungen für Frauen schwierig. Die Immunologin und Autorin Shereen El-Feki ist fünf Jahre lang durch die arabische Region gereist und hat viele Traditionen bemerkt, die trotz Arabellion das Sexleben dort belasten.

Von Barbara Sichtermann | 27.05.2013
    Eine zeitgenössische Scheherazade erzählt 1001 Geschichte über Sex and – nein, nicht über Sex and the City, sondern über "Sex und die Zitadelle", wobei hier eine vor tausend Jahren erbaute Festung und das Wahrzeichen Kairos gemeint ist. Shereen El-Feki, die nicht nur Geschichten erzählt, sondern auch Zustände analysiert, vergleicht die Zitadelle mit der Beharrungskraft der Tradition im arabischen Raum.

    Denn das Herkommen, die alten Bräuche, die scheinbar unerschütterlichen Hierarchien, sie stemmen sich gegen einen Wandel, den die Jugend Nordafrikas braucht, sucht und verlangt. Es geht um ein vordergründig rein privates Thema, das aber eng mit Fragen des Rechts, der Wirtschaft, der Medizin und der Gesellschaftspolitik verwoben ist: um die Sexualität, wie sie wirklich gelebt wird.

    Die Autorin El-Feki ist wohl wie kaum eine zweite dazu berufen, Untersuchungen über den Ist-Zustand der arabischen Gesellschaften in puncto Geschlechterverhältnis und Sexualität zu betreiben. Sie wuchs als Tochter einer Waliserin und eines Ägypters in Kanada auf, arbeitete als studierte Immunologin für eine UN-Kommission, die den Verbreitungsgrad von Aids erforscht, und stieß damit von selbst auf das Thema Sex.

    Fünf Jahre reiste sie durch die arabische Region und führte Gespräche mit Menschen, die sich auskennen, aber auch mit Zufallsbekanntschaften, die bereitwillig Bericht erstatteten. Als Frau gewann sie das spontane Zutrauen ihrer Geschlechtsgenossinnen, die einem männlichen Forscher keineswegs vergleichbar offen Auskunft gegeben hätten. Als bekennende Muslima erwarb sie den Respekt von Männern, die ihr, der Wissenschaftlerin, auch auf intime Fragen die Antwort nicht verweigerten.

    Ihre Reisen führten sie durch ihr Heimatland Ägypten, durch Tunesien, Algerien, Marokko, den Libanon und die Golfstaaten. So unterschiedlich sich die Lage vor Ort jeweils zeigte, so unschwer konnte El-Feki doch auch wieder die Gemeinsamkeiten herausarbeiten und eine Summe ziehen. Und die lautet so: Die arabische Rebellion des Jahres 2011, der Shereen El-Fekis ganze Sympathie gehört, schuf ein starkes Gefühl der Verbundenheit unter der Jugend, aber auch zwischen den Generationen.

    Auf dem Tahrir-Platz kampierten Männer neben Frauen, die Geschlechtertrennung war plötzlich aufgehoben. Es ging um Politik, zugleich aber spürten die Rebellen, dass Geschlechterfragen und Sexualität eine politische Dimension besitzen, und dass es auch an ihnen liegt, an ihrem politischen Willen und an ihrem Mut, diesen zu äußern, damit sich in ihrem privaten Leben etwas verändert.

    Und das tut dringend not. Die patriarchalische Familie ist die Keimzelle der arabischen Gesellschaft, hier gilt das Machtwort des Vaters, und, so El-Feki, es wird sehr viel schwieriger sein, den Familiendespoten zu entmachten als Mubarak. Frauen werden in absoluter Abhängigkeit gehalten, die Genitalverstümmelung bei Mädchen ist, den formalen Verboten zum Trotz, in vielen Ländern der Region immer noch gängige Praxis.

    Vorehelicher Geschlechtsverkehr bei Frauen ist ein strafwürdiges Vergehen, bei Männern ein Kavaliersdelikt. Der Jungfräulichkeitskult nimmt immer groteskere Züge an und befördert nichts anderes als den ebenfalls verpönten Analverkehr sowie medizinische Betriebe, die künstliche Jungfernhäutchen herstellen und einsetzen. Homosexuelle müssen sich verstecken, obwohl es zum Beispiel in Ägypten kein Gesetz gegen ihre Praktik gibt.

    Mehrehen sind für Männer möglich, Scheidungen für Frauen schwierig, Seitensprünge untersagt, Abtreibungen strafbar, obschon sie laufend geschehen. Sexuelle Gewalt wird selten angezeigt, weil die Polizei fast immer das Opfer beschuldigt. Für Verliebte, die nicht heiraten können oder wollen, gibt es Eheverträge auf Zeit, die den Sex legal erscheinen lassen, aber der Status von Kindern, die aus solchen Verbindungen hervorgehen, bleibt prekär. Und wenn die Familie, sprich der Patriarch, die Verbindung missbilligt, hilft auch kein Vertrag.

    Individuelle Recht für Frauen fehlen
    Zusammenfassend spricht die Forscherin von einer enormen "Heuchelei", die das Sexleben in der arabischen Region dominiere und belaste. Man sagt das eine und tut das andere, die Angst vor Entdeckung regiert. Was fehlt, sind individuelle Rechte, insbesondere für Frauen, vor allem aber Offenheit, um die Probleme zu benennen und mit der unwürdigen Heuchelei aufzuräumen. El-Feki schreibt:

    Es gibt immer noch viele, die sagen, es sei eine Kapitulation vor dem Westen, offen über Sexualität zu sprechen, ihre Probleme ungeschönt zu thematisieren und ihre Freuden zu rühmen, sich die ursprünglich vorhandene Flexibilität der Institution Ehe im islamischen Recht vor Augen zu halten und Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt zu üben. Ich teile diese Auffassung nicht. Seit mehr als 200 Jahren, vom Einmarsch Napoleons in Ägypten über die Niederlage im Sechstagekrieg gegen Israel von 1967 bis zum Krieg im Irak, trägt Ägypten einen schweren Ressentiment- und Minderwertigkeitskomplex mit sich herum, der es konservativen Kräften erlaubt hat, unter dem Vorwand des Widerstands so genannte westliche Konventionen abzulehnen. Die Ironie liegt darin, dass ein Großteil dessen, was sie als gefährliche ausländische Ideen brandmarken, schon lang bevor diese vom westlichen Liberalismus aufgegriffen wurden, geistiges Gemeingut der arabisch-islamischen Welt war."

    Zu Beginn ihres 400-Seiten-Buches, das zugleich Reisebericht, Gesellschaftsanalyse und ein Scheherazade-artiges Füllhorn voller Geschichten zum Thema Nr. 1 ist, erinnert die Autorin daran, dass der Islam zur Zeit seiner Entstehung eine sinnenfreudige Religion war und der Prophet selbst aus seiner Vorliebe für schöne Frauen kein Hehl machte. Das Christentum dagegen habe von Beginn an ein eher abwehrendes Verhältnis zur Sexualität kultiviert: zur Fortpflanzung müsse sie sein, sonst aber sei sie des Teufels.

    Im Laufe der Jahrhunderte haben die Tendenzen sich gedreht: Im christlichen Westen fand man über die Aufklärung zur Toleranz, während im arabischen Raum die patriarchalischen Kontrollen und Verbote in Sachen Sex immer rigider gehandhabt wurden. Trotz ihrer Sehnsucht nach Freiheit aber mag die muslimische Jugend sich nicht am Westen orientieren, zu schwer wiegt die Erinnerung an die Kolonialzeit. Auch stößt die unübersehbare Kommerzialisierung sexueller Themen und Motive im Westen die Gläubigen ab.

    El-Feki weiß das nur zu gut. Obwohl sie auf ihre freie Erziehung in Kanada nichts kommen lässt, plädiert sie dafür, dass die künftigen arabischen Sex-Rebellen und -Rebellinnen, die nicht schon morgen, aber übermorgen die Weltbühne betreten werden, aus ihren eigenen spirituellen Quellen schöpfen. Die Grundlagen dafür wären ein Ende der diktatorischen Regime, wären individuelle Freiheitsrechte.

    "Heute drängt der Westen Ägypten und seine Nachbarn zur Demokratie und projiziert dabei nur allzu leicht seine eigene Vergangenheit auf die Zukunft der arabischen Region; dabei sieht er in der organisierten Religion ein Hindernis für sexuelle Rechte, schließlich besiegelte die sexuelle Revolution im Westen den weitgehenden Machtverlust der Kirche. Die Situation in der arabischen Welt ist eine ganz andere. Selbst wenn die Macht des politischen Islam im Gefolge der Schwierigkeiten, ein so komplexes Land wie Ägypten zu regieren, schwinden sollte, so wird doch der Glaube stark bleiben – allerdings hoffentlich mehr als eine Sache der persönlichen Frömmigkeit als der öffentlichen Politik. Trotz der Bedenken von Sexualrechtsaktivisten, die die Religion aus dem Schlafzimmer heraus haben wollen, ist Gläubigkeit meines Erachtens keine Form der Regression. Wie ich dargelegt habe, können sexuelle Rechte in einem islamischen Bezugsrahmen verwirklicht und ausgeübt werden, solange Menschen die Freiheit haben, eigenständig zu denken und zu handeln."

    Shereen El-Feki: "Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt"
    Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Hanser Verlag 2013, 400 Seiten, 24,90 Euro.