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"Hier bin ich sehr sehr gern immerdar."

Sarah Kirsch gehört zu den bedeutenden lebenden Lyrikerinnen deutscher Sprache. Unüberschaubar ist die Zahl ihrer Gedicht- und Prosabände, die auf eine kunstvolle Weise ineinandergreifen. Zum ihrem 75. Geburtstag erscheint ihr Tagebuch aus den 80er-Jahren mit dem Titel "Krähengeschwätz".

Von Wilfried F. Schoeller | 15.04.2010
    Längst hat man es sich abgewöhnt, das poetische Inventar von Sarah Kirsch seit ihrem ersten Band "Landaufenthalt" nach Zahlen zu vermessen. So jedes Jahr ungefähr erscheint ein Band: Gedichte, Gedichte in Prosa, Kreuz- und Quererinnerungen, Tagebuchnotate, Miniaturen nach der Natur, Splitter, Scherben. Mögen es zwei oder gar drei Dutzend dieser schmalen Bände sein. Ihre Zahl ergibt kein spezifisches Gewicht, sondern ein einzigartiges Gewebe. Sie alle haben miteinander zu tun. Die Fäden schießen zusammen, bilden ein Gespinst, jedes Buch ist Komplize der anderen, zeigen den Übergang. Die Muster variieren, aber sie alle entstehen in einem Rayon, der von der großen erzählenden Geschichte abgewandt ist.

    Sarah Kirsch hat sich zum 75. selbst ein Geschenk gemacht. "Krähengeschwätz" ist ein nachgetragenes Tagebuch, eine nicht gerade seltene ihrer poetischen Übungen, diesmal vom 7. März 1985 bis zum 15. Dezember 1987 sich erstreckend, rund 34 Monate.

    Die Notizen umfassen die Zeit der Landnahme in einem alten Schulhaus von Tielenhemme in Schleswig-Holstein, wo sie nun seit mehr als einem Vierteljahrhundert lebt. Sie war 48, als sie ankam und siedelte: zwischen Moor und Eiderdeich im Abseits, mit Sohn und in Begleitung eines Gefährten, des Kompositeurs oder Tonsetzers Wolfgang von Schweinitz, inmitten einer Menagerie aus Schafen, Hund, Katze und Esel.

    Sie richtet sich ein: als gelernte Biologin, Landwirtin, Poetin, mit Sätzen, die der Natur etwas antragen wollen, sei es die getreue Beobachtung der Landschaft oder das Anhäufen von Wörtern auf die Realien. Mit leichter Hand verstreut sie seltene Pflanzennamen, lässt die Flora im Frühjahr aufbrechen, im Sommer ausblühen, malt mit Wörtern wie aus dem Farbkasten Bilder der Jahreszeiten. Dämon Sturm orgelt im November ums Haus, die wechselnden Lichter des Schnees leuchten auf, schwarze Gestikulanten der Bäume stehen herum.

    Es ist ein Logbuch von sicheren Verhältnissen: der Krume, von Haus und Hof, Weiden, Wiesen und Moor, der täglichen Verrichtungen. Längst ist das alles aus anderen Notaten Sarah Kirschs vertraut, alte Bekannte sind zum Beispiel Igor, der Bock, das Schaf Toula, Bilbo, der Esel und Robert, der Neufundländer. Eingängig im Gehör, geradezu geläufig ist dieser Wechsel aus poetischer Verdichtung, schnoddrigem Dialekt, Wörterverschiebungen ins Altertümliche.

    Wir blicken in diese Bücher wie zu alten Bekannten hin. Und doch sind die Dinge und die Redeweisen über sie in den verschiedenen Büchern niemals ins gleiche Licht getaucht; durch nachsprechende Wiederholung scheint eine Verrückung eingetreten, werden andere Nuancen anprobiert, als gelte es, niemals die Skala des Zaubers erstarren zu lassen.

    Mit Widerborst und Eigensinn besteht Sarah Kirsch auf einem Verfahren, das zeitvergessenem Spaziergehen gleicht. Allzu leicht wird sie, doch wohl die bedeutendste lebende Lyrikerin in Deutschland, mit einer Idyllikerin verwechselt. Aber diese nach der Natur gemalten Bilder sind eher widerständige Behagensentwürfe über trügerischem Untergrund.

    In diese Abgeschiedenheit dringen Katastrophensignale ein. Einerseits werden die Dinge in die Hand genommen, wird das Daseinsglück der Ordnung erzielt und jedes ist an seinem Ort: die Kakteen ebenso wie die Empfindungen, andererseits gibt es eine Flugzeugentführung und Geiseln in Beirut. Der ukrainische Gulag-Häftling und Dichter Wassyl Stus stirbt im Protest gegen das System, der Name Tschernobyl fällt tonlos in die Tage, und ein Schriftstellerkongress in der DDR erregt noch einmal den Ärger der 1977 vertriebenen Autorin.

    Das meiste Unglück kommt im Bildschirmformat des Fernsehens ins Haus, ist eine ingrimmige Gegenstimme zu dem mit Behagen und Humor, hauchzartem Glücksempfinden und einem Gran Unheimlichkeitsdunkel eingerichteten "Landaufenthalt", von dem es heißt: "Hier bin ich sehr sehr gern immerdar."

    Zwischendurch die Expeditionen in die Stadt, zu Lesereisen, die sie als Alphabetisierungskampagnen ironisiert. In die Notizen von Haus und Hof und Besuchern sind Gedichte einmontiert. Man kann zusehen, wie sie entstehen. Sie wachsen aus Beobachtungen: das "Krähengeschwätz" des Titels besteht nicht nur aus Lauten in der Luft, sondern auch aus "Tintenzügen" auf dem Papier - und schließlich steht ein fertiges Gedicht mit dem gleichen Titel da. Wie schön, dass die Landschafterin Sarah Kirsch noch immer unterwegs ist.

    Sarah Kirsch: Krähengeschwätz
    Deutsche Verlagsanstalt, 175 Seiten, 17,95 Euro