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"Hier geht's um ein großes Wirtschaftsprojekt, aber ganz sicher nicht um die Bahn"

Im Interview der Woche sieht Cem Özdemir, Bundesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen, kaum mehr Chancen für schwarz-grüne Bündnisse und wirft der CDU vor: "Die Union hat kein Problem damit, den Rechtsstaat so auszulegen, wie es ihr in den Kram passt".

Cem Özdemir im Gespräch mit Sabine Adler | 10.10.2010
    Adler: Grüne wehren sich gegen ein Bahnprojekt. Wo ist da die Logik?

    Özdemir: Weil es eben kein Bahnprojekt ist, sondern es ist ein Projekt von der Politik, das der Bahn aufs Auge gedrückt wurde. Ich habe viele, viele Leute aus der Bahn, die uns Informationen geben, die uns schreiben, die uns sagen: "Rettet uns vor diesem Schwachsinnsprojekt".

    Adler: Was ist daran so schwachsinnig?

    Özdemir: Das ist ungefähr genau so klug, wie es der Transrapid war, dass man zu einer bestehenden Strecke noch mal eine Strecke dazu baut. Im Kern ging es der Stadt Stuttgart darum, ein neues Stadtgebiet zu erschließen, ein Luxus-Stadtgebiet, wo Herr Mappus uns jetzt ja anbieten möchte, dass wir die Efeubepflanzung übernehmen dürfen. Aber es ging nie wirklich um die Bahn. Denn wenn es wirklich drum ginge, dass man beispielsweise Zeit einspart, dann müsste man sich dran erinnern, dass dieselbe Strecke von Stuttgart nach München früher schneller gefahren wurde als heute. Der Grund dafür ist, dass die ganzen Sparmaßnahmen bei der Bahn – die Wartungsarbeiten, die nicht mehr vorgenommen werden, die Pflege der Gleise, die nicht mehr ausreichend erfolgt – dazu führt, dass wir heute langsamer auf Strecken fahren, auf denen wir vor 100 Jahren zum Teil schneller gefahren sind. Da langt man sich doch an den Kopf. Das Problem der Bahn ist doch nicht, dass sie keinen unterirdischen Bahnhof hat. Der Stuttgarter Bahnhof ist einer der effizientesten der gesamten Republik, einer der pünktlichsten. Wenn es den Befürwortern von Stuttgart 21 um die Bahn gehen würde, dann würden sie zur Kenntnis nehmen, dass man auf der anderen Seite von Ulm, auf der bayerischen Seite, für ein Viertel der Kosten die Strecke beschleunigen könnte und weniger topografische Probleme hätte. Es zeigt: Hier geht's drum, dass man offensichtlich an den Aufträgen interessiert ist, hier geht's um ein großes Wirtschaftsprojekt, aber ganz sicher nicht um die Bahn.

    Adler: Stephan Mappus, der baden-württembergische Ministerpräsident mit CDU-Parteibuch, wirft Ihnen vor, nicht nur gegen das Bahnprojekt zu sein, sondern auch gegen eine Pumpstation – eine Speicherstation – für Elektroenergie beziehungsweise gegen Hochspannungsleitungen. Also kurzum, er wirft Ihnen vor, gegen Zukunftsprojekte zu sein. Hat er da recht?

    Özdemir: Also, das ist einfach völlig aus der – ich suche gerade nach höflichen Begriffen, ich versuche, mich sprachlich zu mäßigen, ich überlege gerade, ob mir eins einfällt – es ist daneben. Ist das höflich genug? Ja. Es ist völlig daneben, weil es den Tatsachen nicht entspricht. Wir haben noch ein Gesetz eingebracht unter Rot-Grün, was die Erdkabel angeht, das ist leider gescheitert im Bundesrat an der Partei von Herrn Mappus. Und wir kämpfen aktiv dafür, dass wir die nötigen Leitungen bekommen, und zwar übrigens nicht nur in Deutschland, sondern europaweit – die wir brauchen für die erneuerbaren Energien. Wir haben gegen die Partei von Herrn Mappus durchgesetzt, dass es das Erneuerbare-Energien-Gesetz gibt. Also da unterscheiden wir uns. Ich kann es mal so zusammenfassen: Herr Mappus und seine Partei stehen für die alte Wirtschaft, wir stehen für die neue, für die zukünftige Wirtschaft, wo Arbeitsplätze entstehen, die umweltschonend sind, die CO2 einsparen und wo wir viele Arbeitsplätze auch im Export bekommen.

    Adler: Jetzt hat Herr Mappus Ihnen einen Wunsch erfüllt – oder sagen wir es anders: Es wurde den Grünen der Wunsch erfüllt, dass Heiner Geißler - CDU-Mitglied, ein streitbarer Kopf - der Vermittler wird in dem doch sehr verfestigten Streit um Stuttgart 21. Welchen Spielraum hat Geißler eigentlich?

    Özdemir: Also ich hoffe, dass das Herr Mappus nicht nur gemacht hat, um den Grünen Wünsche zu erfüllen. Es wäre schön, wenn er uns Wünsche erfüllt, aber ich hoffe, dass er das auch aus Einsicht gemacht hat, weil der Herr Geißler parteiübergreifend Ansehen genießt in der Republik – als Streitschlichter bei Tarifverhandlungen. Herr Geißler hat gesagt, was notwendig ist für sinnvolle Verhandlungen. Und wir wollen das nicht parteipolitisch ausschlachten. Allerdings hat man gehört, dass die Landesregierung und auch Herr Grube von der Bundesbahn sich schwertun mit dem, was Herr Geißler sagt. Da gibt es offensichtlich Abstimmungsbedarf, um es mal vorsichtig zu formulieren. Man könnte auch sagen, das Chaos greift da um sich. Es ist Wortklauberei um die Frage des Baustopps. Das spricht nicht gerade dafür, dass die Landesregierung wirklich ernsthaft in die Sache reingeht.

    Adler: Sie haben gerade gesagt, Sie wollen es parteipolitisch nicht ausschlachten. Längst ist diese ganze Geschichte – der Kampf gegen Stuttgart 21 – im Vorfeld der Landtagswahl natürlich eine politische Auseinandersetzung geworden. Heiner Geißler hat gesagt, er möchte mit der Schlichtung bis Ende des Jahres etwa so weit sein, dass Sie auf jeden Fall die Landtagswahl nicht mehr benötigen für eine Abstimmung über Stuttgart 21. Ist Herr Geißler da ein bisschen naiv, oder ist er da ein bisschen zu gutgläubig?

    Özdemir: Er hat ja recht, es sind ja nicht wir gewesen, die gesagt haben, dass man die Landtagswahl zu einer Abstimmung über Stuttgart 21 machen soll. Es war die Bundeskanzlerin, die das im Bundestag gesagt hat. Ich bin da nicht sicher, ob sie da wirklich Herrn Mappus von der CDU in Baden-Württemberg einen Gefallen getan hat, aber sie hat es gesagt. Wir haben andere Wege vorgeschlagen. Wir haben vorgeschlagen, erst Bürgerbegehren in Stuttgart. Die CDU und die Mehrheit im Stadtrat wollte das leider nicht. Dann haben wir gesagt: Lasst das Land dazu befragen, lasst die Baden-Württemberger abstimmen, denn es ist ja ein Projekt, was das Land betrifft. Da geht es um viele andere Projekte, die wegen Stuttgart 21 nicht finanziert werden können. Denken Sie an die Rheintalbahn, die übrigens wichtig ist für den Güterverkehr. Und bei all diesen Fragen haben wir gesagt: "Lasst das Volk in Baden-Württemberg abstimmen". Da sagt die Landesregierung aber auch "Nein" ...

    Adler: ... noch mal zum Zeitraum. Schafft Herr Geißler das bis Jahresende? – erste Frage. Zweite Frage: Wie groß ist sein Spielraum? Wird das am Ende eine Entscheidung, die Herr Geißler herbeiführen kann, zwischen Ausstieg oder Weiterbau?

    Özdemir: Herr Geißler hat gesagt, es geht erst mal drum, die Informationen und die Faktengrundlage herzustellen. Da hat er recht, das haben wir immer gesagt. Wir wollen, dass alle Zahlen, alle Daten, alle Gutachten auf den Tisch kommen, damit wir überhaupt mal wissen, wovon redet die eine Seite, worüber redet die andere Seite. Wir haben ein Gutachten in Auftrag gegeben ...

    Adler: ... Herr Özdemir, Sie drücken sich um die Antwort. Kann Herr Geißler tatsächlich eine Entscheidung herbeiführen – entweder – oder?

    Özdemir: Nicht Herr Geißler, sondern die beteiligten Parteien mit Herrn Geißler zusammen. Ich meine, Herr Geißler ist nicht Ministerpräsident ...

    Adler: ... etwas dazwischen, gibt's was dazwischen? ...

    Özdemir: ... es gibt nicht einen halben unterirdischen Bahnhof, es gibt auch nicht ein halbes K21 als Kopfbahnhof 21, sondern es gibt eine Entscheidung in der Frage für das eine oder andere Modell.

    Adler: Herr Özdemir, dann würde ich es gerne zuspitzen wollen: Gesetzt den Fall – Sie bekommen jetzt ja sehr viel Zulauf im Rahmen dieser Protestaktion – die Grünen ...

    Özdemir: ... was passiert bei der Landtagswahl? ...

    Adler: ... beziehungsweise was passiert nach der Landtagswahl, wenn der nächste Ministerpräsident tatsächlich der Grüne Winfried Kretschmann, der jetzt der Fraktionschef der Grünen im Landtag ist, was passiert dann? Kann Herr Kretschmann tatsächlich den Ausstieg aus Stuttgart 21 versprechen, und ist es ein Ausstieg dann um jeden Preis?

    Özdemir: Ist doch ganz einfach. Wenn es zu dem, was Herr Geißler sagt, dass jetzt nicht weiterhin Fakten geschaffen werden, die dazu führen, dass die Projektbefürworter im Prinzip dazu beitragen, dass es im März nichts mehr zu entscheiden gibt, weil sie das Geld ausgegeben haben, weil sie Fakten geschaffen haben, die nicht mehr rückholbar sind, dann haben wir eine Situation. Wenn es nicht passiert, und danach deutet es ...

    Adler: ... wo ist da die Schmerzgrenze, welcher Betrag zum Beispiel?

    Özdemir: Das kann man so nicht sagen, das wäre, glaube ich, nicht seriös. Aber immerhin – Sie hören ja jetzt, dass die Befürworter sagen: Der Südflügel soll nicht abgerissen werden, Sie hören, dass die Befürworter sagen, dass keine weiteren Bäume abgerissen werden sollen. Deshalb sagen wir und wiederholen es bei jeder Gelegenheit: Die Gespräche machen nur dann Sinn, wenn nicht die eine Seite Fakten schafft. Und wenn dem so ist, dann wird im März gewählt. Und wenn es eine rot-grüne Mehrheit gibt, dann regieren die Grünen, die sind Gegner von Stuttgart 21, dann regiert die SPD, bei denen weiß man es nicht genau. Die sind offiziell Befürworter, wollen aber auch das Volk befragen. Die Basis der SPD ist dagegen. Bei Nils Schmid, dem Spitzenkandidaten, habe ich das Gefühl: Er sucht nach dem Ausweg, wie er rauskommt aus dem "Ja" von seinen Vorgängern ...

    Adler: ... nun ist ja Rot-Grün nicht wahrscheinlich, also zumindest nach heutigen Zahlen ...

    Özdemir: ... stimmt, Grün-Rot wäre wahrscheinlich, Sie haben recht, ich korrigiere mich. Aber schauen Sie, also auf die Debatte will ich mich gar nicht einlassen, wer stärker ist. Das sehen wir relativ gelassen.

    Adler: Ihre Wähler erwarten auch eine ganz genaue Antwort, die wollen natürlich auch wissen: Wenn wir jetzt grün wählen, kriegen wir dann den Ausstieg aus Stuttgart 21?

    Özdemir: Das sage ich doch gerade. Mit der SPD zusammen scheint es möglich zu sein. Die SPD kippt gegenwärtig in der Position. Dann hätten Sie zwei Parteien, die im Landtag eine Mehrheit haben – egal, wer mehr Stimmen hat. Beide zusammen würden dann Stuttgart 21 verhindern.

    Adler: Jetzt galt ja Winfried Kretschmann immer auch als der "Ober-Schwarz-Grüne", also jemand, der durchaus stand für eine schwarz-grüne Koalition. Ist das mit Stuttgart 21 passee?

    Özdemir: Also, er gilt erstmal als "Ober-Grüner", und das ist auch gut so – ohne Bindestrich dazu, bei dem steht, glaube ich, grün, vorn und hinten ein Bindestrich wie bei mir auch und wie bei allen Grünen es der Fall sein sollte. Aber er steht, da haben Sie recht, sicherlich auch für jemanden, der in großer Eigenständigkeit sehr frühzeitig schon gefahren ist, früher vielleicht als manche andere, und immer Wert darauf gelegt hat, dass wir nicht das Beiboot der SPD sind. Das fällt in Baden-Württemberg ein bisschen leichter als anderswo zu sagen, denn man weiß, dass die SPD im Land nicht gerade besonders stark immer war – und dann aber noch, was strafverschärfend dazu kommt, sich mit den Grünen sehr schwer getan hat. Nehmen Sie Stuttgart, die OB-Wahl, wo Rezzo Schlauch hätte OB werden können. Und die SPD hat sich gesagt: lieber ein Schwarzer als ein Grüner ...

    Adler: ... also reden wir noch mal über Schwarz-Grün ...

    Özdemir: ... insofern ist völlig klar: Die SPD muss ihre Verhältnis zu den Grünen ändern. Ich kenne den Nils Schmid gut, ich habe mich frühzeitig mit ihm getroffen. Mein Eindruck: Der neue SPD-Landesvorsitzender und Spitzenkandidat, das ist einer, der aus einer anderen Tradition kommt wie die anderen, die bei der SPD rumturnen ...

    Adler: Jetzt haben Sie uns Rot-Grün wortreich erklärt ...

    Özdemir: ... dass Rezzo Schlauch und Winfried Kretschmann sehr gut zusammen eine Landesregierung bilden können.

    Adler: Gut, jetzt ist wortreich erklärt, dass der Wunsch nach Rot-Grün in Baden-Württemberg besteht. Die Frage war aber nach Schwarz-Grün. Ist Schwarz-Grün passee?

    Özdemir: Also, wenn die CDU der Atomenergie abschwört, Stuttgart 21 verabschiedet und sich mit uns einlässt auf eine Politik, die auf die Schaffung von Arbeitsplätzen bei erneuerbaren Energien zielt, wenn die CDU bereit ist, die Hürden für direkte Demokratie abzusenken, damit wir künftig nicht mehr so eine Situation bekommen, sondern die Bevölkerung einbezogen wird, dann wären wir doch mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir nicht auch mit der CDU reden würden. Wir wollen so viel wie möglich grün sehen, und das wollen wir umsetzen mit den Partnern, mit denen das am besten geht. Jetzt werden Sie aber nachfragen: Herr Özdemir, aber die CDU sagt das wahrscheinlich nicht, was Sie gerade gesagt haben ...

    Adler: ... danke, Herr Özdemir, dass Sie die Frage gestellt haben ...

    Özdemir: ... so bin ich zu Ihnen, damit Sie mal eine kurze Pause machen können. Und meine Antwort darauf wäre: Sie haben recht, so ist das, es ist sehr unwahrscheinlich, dass die CDU sich vom Atomkurs – vom Lobbykurs – verabschiedet. Insofern ist die realistische Einschätzung in Baden-Württemberg: Präferenz Nummer 1 mit der SPD.

    Adler: Dann würde ich jetzt meinen Job wieder übernehmen und wieder mit den Fragestellungen weitermachen ...

    Özdemir: ... Sie können ja auch mal versuchen, für mich zu antworten ...

    Adler: ... das bei anderer Gelegenheit, an dieser Stelle vielleicht nicht. Wir sind im Interview der Woche des Deutschlandfunks mit Cem Özdemir, dem Co-Vorsitzenden der Grünen – Bündnis 90/Die Grünen. Die Kanzlerin spricht von einem "Herbst der Entscheidungen". Diverse Entscheidungen sind schon gefallen: Hartz IV, da soll es eine geringe, sehr geringe Erhöhung geben, es sind die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert worden, und wir haben das Energiekonzept, das verabschiedet worden ist. Die Kanzlerin spricht von so klaren Entscheidungen, dass auch der Wähler wieder differenzieren kann zwischen Regierung und Opposition, und hält das für einen Vorteil. Ist das zynisch, oder ist das parteipolitisch und demokratisch gedacht sogar wirklich etwas Positives?

    Özdemir: Also, Herbst der Entscheidungen: Ich habe eher das Gefühl, es handelt sich um Herbst von Schwarz-Gelb zurzeit, was wir da erleben, nämlich dass langsam diese Ära zu Ende geht, noch bevor sie richtig begonnen hat. Und für unser Land scheint es mir eher gut zu sein, dass dem so ist. Die Bundeskanzlerin, die sich bislang ja nicht gerade durch große Entscheidungsstärke hervor getan hat, spitzt jetzt Konflikte zu, zieht sie auf Bundesebene. Und bei Atom hört sie nicht auf den Umweltminister. Noch mal, wir wären auch da dagegen gewesen, was die Laufzeitverlängerung angeht um wenige Jahre. Und sie wählt den harten, knallharten Weg: zwölf Jahre Laufzeitverlängerung. Das bedeutet noch mal eine Verdreifachung des Atommülls, das bedeutet, dass die Union bedauerlicherweise in diesen Fragen sich radikalisiert. Damit reduziert sie natürlich auch ihre Chance, mit uns ins Gespräch zu kommen. Es heißt aber auch, dass die Union in diesen Fragen sich verabschiedet von der Mehrheitsfähigkeit. Die Mehrheit der Deutschen findet es richtig, dass wir einen Kompromiss geschlossen haben mit der Atomindustrie. Sie wollen keinen Atomkurs in Deutschland, sondern sie wollen einen gemäßigten Kurs. Dafür stehen Bündnis90/Die Grünen. Insofern glaube ich nicht, dass das in Deutschland eine Mehrheit bekommen wird, auch nicht bei der nächsten Bundestagswahl.

    Adler: Müssen die Berliner Bundespolitiker gewarnt sein und sehr aufmerksam nach Stuttgart schauen? Kann ihnen das passieren hier in Berlin, was in Stuttgart passiert?

    Özdemir: Passiert doch schon bei der Atomfrage. Sie können sich darauf einstellen, in Gorleben werden wir mit Sicherheit Zehntausende von Demonstranten haben, die dort demonstrieren. Das sind nicht alles Grüne. Also, sie tun sich einfach schwer zu akzeptieren, dass eine CDU, die ja immer aufgrund ihres konservativen Erbes immer sich als Hüter des Rechtsstaat hervorgetan hat, die in Stuttgart sagt: "Es gibt Beschlüsse, vor 15 Jahren getroffen, an die müsst ihr euch halten, aber im Atomausstieg sagen sie: "Ätschbätsch, das gilt nimmer". Oder nehmen Sie das Beispiel, das Sie vorher angesprochen haben bei Hartz IV, da verschicken sie jetzt Bescheide, wo sie genau wissen, der Bundesrat und der Bundestag haben noch gar nicht darüber abgestimmt. Bei der Atomenergie sagen sie, wir machen das Gesetz so, dass der Bundesrat nicht zustimmt, und ihre eigenen Gutachter sagen ihnen, dass das nicht legal ist. Also, Sie sehen daran, die Union hat kein Problem damit, den Rechtsstaat so auszulegen, wie es ihr in den Kram passt, aber andere, die Bevölkerung inklusive der eigenen Wähler, dürfen nicht Projekte infrage stellen, die sich im Nachhinein gesehen grundlegend verändert haben.

    Adler: Von diesem großen Widerstand und auch von der Schwäche der schwarz-gelben Regierung profitieren Sie gerade. Sie haben einen solchen Zulauf, dass Sie in der Sonntagsfrage zum allerersten Mal die SPD überflügelt haben. Kriegen Sie allmählich Angst vor der eigenen Courage?

    Özdemir: Das Gute ist, dass wir sehr genau wissen, dass wir noch viel dafür tun müssen, dass wir in die Nähe dieser Umfrageergebnisse kommen.

    Adler: Heißt?

    Özdemir: Das heißt, dass wir beispielsweise erst mal die Landtagswahl nächstes Jahr wirklich auch gewinnen müssen. Ich gehöre ja nicht zu denjenigen, die sich zurücklehnen und sagen, das läuft schon – "gemäht's Wiesle" würde man auf Schwäbisch sagen – sondern da muss man viel dafür schaffen. Wir gewinnen zurzeit viele neue Mitglieder, aber wir müssen auch dafür weiter ...

    Adler: Nennen Sie mal Zahlen, in welchem Rahmen bewegt sich das?

    Özdemir: Wir haben 50.000 jetzt überschritten, das ist sehr schön, aber wir hatten auch schon mal mehr Mitglieder 1998, als wir in die rot-grüne Bundesregierung eingetreten sind. Zweitens, die Erwartungshaltung an uns ist eine exorbitant gewachsene. Die Leute lesen unsere Programme anders als früher. Heute werden die Programme der Grünen gelesen als einer Partei, von der man davon ausgeht, dass sie morgen und übermorgen Verantwortung für das Land übernimmt. Das heißt, dass unsere Programme heute auch von anderen Leuten gelesen werden, von neuen Wählergruppen. Nehmen Sie den Mittelstand, nehmen Sie die Bauern, nehmen Sie die ländliche Bevölkerung – es gibt viele, viele Gruppen, die enttäuscht sind von der jetzigen Politik und die auf die Grünen schauen, und die müssen wir mitnehmen.

    Adler: 50.000 Mitglieder klingen noch nicht nach Volkspartei.

    Özdemir: Nein, ich stimme Ihnen ausnahmsweise zu.

    Adler: Wenn wir die Zahl der CDU, die in etwa bei 500.000 Mitgliedern im Moment steht, gegenüberstellen, dann wissen wir, wie die Verhältnisse sind. Merken Sie die Politisierung zum Beispiel eben durch solche polarisierende Fragen wie Stuttgart 21 oder jetzt Atomkraft ...

    Özdemir: Natürlich, ich meine, die Leute ...

    Adler: Vielleicht noch ein Zusatz. Und aus dieser Politisierung erwächst heraus möglicherweise auch die Hoffnung auf mehr Mitglieder generell wieder für Parteien?

    Özdemir: Bei allen leider nicht, bei uns ja. Also, wir haben zurzeit Wachstumszahlen. Wir haben eher das Problem, dass wir nicht hinterherkommen, dass wir die Mitgliedsanträge nicht schnell genug bearbeitet bekommen, weil wir natürlich eine Partei sind, die mit dem Apparat gar nicht mithalten kann bei den anderen Parteien. Joschka Fischer hat die Bundesgeschäftsstelle mal als Zeltmission bezeichnet. Sie sind gerade in der Geschäftsstelle, Sie sehen, es ist kein Zelt, wir haben feste Mauern. Es ist natürlich nach wie vor, im Verhältnis zu den anderen Parteien sind wir die am schlechtesten ausgestattetsten. Das heißt, bei uns muss ein Funktionär, ein Mitarbeiter die doppelte, dreifache Arbeit machen, damit wir das kompensieren, was die anderen mit Apparat und Geld haben.

    Adler: Jetzt könnte man sich vorstellen, dass die Grünen gerade in Geld baden, weil, ...

    Özdemir: Von wegen.

    Adler: … wenn ein solcher Aufschwung kommt, ja dann vielleicht auch die Spendenbereitschaft exorbitant zunimmt.

    Özdemir: Auch da sind wir deutlich schlechter ausgestattet wie die anderen Parteien.

    Adler: Das macht sich im Spendenaufkommen noch nicht bemerkbar?

    Özdemir: Noch macht es sich nicht bemerkbar. Die Mitgliederzahlen steigen, das macht sich natürlich auch bemerkbar bei den Einnahmen. Und wenn die Wahlergebnisse besser werden logischerweise auch, auch dann haben wir mehr Einnahmen. Aber auch hier: Der Bundesvorsitzende muss immer auch ein bisschen auf die Bremse drücken. Ich bin keine Spaßbremse, aber das gehört zu meinen Aufgaben dazu. Im Bundestag haben wir 10,7 Prozent. Wir sind die fünftgrößte Fraktion. Wir haben unser Ziel, drittgrößte Fraktion zu erreichen, im Bundestagswahlkampf nicht geschafft. In Nordrhein-Westfalen, bei der Wahl danach, dort sind wir drittstärkste Partei geworden, haben wir die Stimmen verdoppelt. Und jetzt müssen wir schauen, dass wir auf diesem Weg weitermachen. Und dann müssen wir natürlich auch aufpassen, dass die Partei mitwächst. Ich denke da beispielsweise an die Weiterbildung der Mitglieder. Wir werden viel mehr Stadträte brauchen, wir werden viel mehr Funktionäre brauchen. Und wir müssen natürlich auch schauen, dass wir uns vorbereiten auf die Übernahme von Verantwortung.

    Adler: Stichwort Landtagswahlen. Das wird ja anstehen in Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und vor allem auch in Baden-Württemberg, ...

    Özdemir: ... Mecklenburg-Vorpommern ...

    Adler: ... dass eben mehr Grüne in die Landtage kommen. Ist Ihnen ein bisschen bang, weil Sie das Personal überhaupt nicht haben?

    Özdemir: Ganz und gar nicht. Ich fange mal mit Baden-Württemberg an, mit Winfried Kretzschmar an der Spitze und viele andere, die schon seit Jahrzehnten exzellente Politik machen, was uns ja auch bescheinigt wird von der Regierung und von Kollegen aus der Opposition, dass die Grünen eine Regierung im Wartestand sind de facto. Insofern, die hätten nun wirklich kein Problem, aus dem Stand in die Exekutive zu wechseln. In Rheinland-Pfalz bereiten wir uns systematisch darauf vor, weil wir bislang ja nicht im Landtag vertreten sind. Der Bundesverband hilft nach Kräften. Wir haben das Problem, sicherlich wie alle Parteien, dass wir uns um Nachwuchs kümmern müssen. Aber im Vergleich zu den Kollegen und Kolleginnen der anderen Parteien stehen wir relativ gut da, vor allem im direkten Vergleich zur FDP. Das, was früher als die Schwäche der Grünen bezeichnet wurde, dass sie keine Ein-Mann-Partei sind, erweist sich heute geradezu als Stärke, dass wir eine relativ dicke Personaldicke haben, nicht nur auf Bundesebene.

    Adler: Cem Özdemir im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Herr Özdemir, in dieser Woche wurde heftigst diskutiert eine Äußerung von Bundespräsident Christian Wulff. Wulff hat gesagt, der Islam gehört zu Deutschland. In seiner Partei wurde relativiert, der Islam habe nicht den gleichen Stellenwert wie andere Religionen in Deutschland. Wo steht für Sie der Islam in unserer Gesellschaft?

    Özdemir: Erst mal gibt es den Islam genau so wenig wie es das Christentum oder das Judentum gibt. Es gibt einzelne Gläubige, es gibt Amtskirchen. So ist es beim Islam auch. Es gibt Muslime aus der Türkei, es gibt Muslime aus Bosnien, aus dem Kosovo, aus dem Iran, aus den unterschiedlichsten Ländern. Innerhalb dieser Muslime gibt es unterschiedliche Grade von Religiosität. Ich wehre mich immer ein bisschen dagegen, dass man von den vier Millionen Muslimen in Deutschland spricht. Das ist doch völlig absurd. Da werden alle subsumiert und jetzt unter die Kategorie Islam gepresst. Ich komme aus einer muslimischen Familie, aber ob ich praktiziere oder nicht, das weiß nur ich selber. Das hat nicht der Staat für mich zu entscheiden.

    Adler: Jetzt relativieren Sie sehr formal. Wenn wir jetzt aber diese Aufregung anschauen, die entstanden ist, um diese quasi als Gleichsetzung verstandene Einordnung des Islam zu den anderen Religionen in Deutschland, finden Sie die Aufregung zeitgemäß oder sind wir da mal wieder in der Diskussion hinter der Wahrheit oder hinter der Realität zurück?

    Özdemir: Ich habe das deshalb gesagt, weil ein Teil der Kritik sich ja auf Bilder stützt, die wir abends in den Nachrichten bekommen aus anderen Ländern. Da sehen die Leute, was im Iran an Schrecklichem passiert, wo die Politik grausamste Menschenrechtsverletzungen verübt, nicht nur Frauen unterdrückt, im Grunde das ganze Volk unterdrückt auf eine schreckliche Art und Weise. Wir sehen Bilder aus Saudi Arabien mit Strafen, die mittelalterlich sind und viele andere Dinge. Wir sehen terroristische Bilder aus Pakistan, aus Afghanistan. Und dann schalten wir den Fernseher aus, hören irgendetwas über Herrn Sarrazin oder andere und denken: Aha, das sind unsere Muslime in Deutschland. Man muss aber klar machen, das sind sie nicht. Das wäre doch genau so, wenn ich jetzt hergehen würde oder jemand anders hergehen würde und sagen würde, alle Christen in Deutschland müssen sich distanzieren von den Bildern, die wir aus Bosnien-Herzegowina bekommen haben. Da fand ein Völkermord statt, von "Christen" verübt an den muslimischen Bosniern in Massenvergewaltigungslagern für Frauen. Wir sollten aufhören, aufzurechnen. Wir sollten aufhören, einzufordern, dass Bürger unserer Gesellschaft sich distanzieren müssen von Dingen, gegen die sie genauso sind. Terrorismus, Fundamentalismus ist eine Geißel der Menschheit und darf sich hinter keiner Religion verstecken.

    Adler: Und muss es eine Anerkennung des Islams in Deutschland als Religionsgemeinschaft geben?

    Özdemir: Die wird es natürlich geben, aber dafür müssen auch die Voraussetzungen geschaffen werden. Die sind beim Islam anders, weil der Islam die Amtskirche nicht kennt. Es gibt keine Konkordate, es gibt nicht die entsprechenden Übereinkommen mit muslimischen Dachverbänden, weil es die Dachverbände in dem Maße noch nicht gibt. Darum brauchen wir Zwischenschritte. Ich bin Grüner, insofern ist es mein Job, die Regierung zu kritisieren. In dieser Frage sage ich, da hat die Regierung etwas Wichtiges gemacht, mit allen Fehlern auch, die wir kritisiert haben. Aber die Grundrichtung, dass der Staat das Gespräch sucht und hilft, dass ein Ansprechpartner entsteht, hilft, dass ein moderner, europäischer Islam entsteht, der auf dem Boden der jeweiligen Verfassungen sich beteiligt, aktiv mitmacht, ist richtig. Und da finde ich es gut, dass der Bundespräsident in seiner Rede darauf eingegangen ist. Ich begrüße, dass der Schäuble das als Innenminister damals gemacht hat und sage auch als Oppositionspolitiker, das liegt in unserem nationalen, im deutschen, im europäischen Interesse, dass wir die Muslime in diese Gesellschaft hineinholen. Damit impfen wir sie auch gegen den Versuch von Fundamentalisten, von Fanatikern, die ihre Interpretation der Religion versuchen, auf den Hinterhöfen durchzusetzen. Besser den Islam ins Licht holen, besser den Islam in die staatlichen Schulen holen, als in Hinterhöfen in die Hände von Fanatikern schicken.

    Adler: Herr Özdemir, Sie haben sich selbst mal als anatolischen Schwaben bezeichnet. So hieß ein Buch von Ihnen. Wieso haben Sie geschafft, was andere Menschen in Deutschland mit türkischer Abstammung nicht schaffen?

    Özdemir: Ich glaube, es sind auch ein paar mehr, die es geschafft haben. Es findet da ein ganz spannender Prozess statt.

    Adler: Aber sagen Sie mal, wieso Sie es geschafft haben.

    Özdemir: Ich komme gleich dazu, aber das will ich einfach vorher kurz erklären, weil das immer dazu führt, dass dann viele immer sich auch ärgern, gerade Menschen mit Migrationshintergrund, weil sie nämlich immer einen Satz hören: "Wenn alle so wären wie du", oder "du bist ja kein richtiger" schwingt ja da immer mit, das heißt, die Frau ohne Kopftuch, die studiert ...

    Adler: Und wenn man es jetzt gar nicht mitschwingen lässt, sondern einfach nur mal wissen möchte, warum Sie es geschafft haben?

    Özdemir: Dann sage ich es vielleicht. Aber das ist einfach wichtig, weil: Ich bin nicht der Vertreter der Türken, ich bin nicht der Vertreter der Muslime, ich bin nicht mal der Vertreter aller Schwaben. Man glaubt es nicht, aber es ist so. Ich bin Cem Özdemir und spreche für die, die das gut finden, was ich sage. Und jetzt komme ich aber wirklich endgültig zu Ihrer Frage. Ich glaube, es ist eine Mischung daraus, dass ich in Bad Urach aufgewachsen bin. Insofern großes Kompliment an meine Geburtsstadt. Da gab es italienischstämmige Kinder, portugiesischstämmige Kinder, griechischstämmige Kinder und die lingua franca musste halt logischerweise deutsch, um genauer zu sein, schwäbisch sein. Also war ich gezwungen, deutsch frühzeitig zu lernen. Ich ging früh in einen Kindergarten. Ich habe Schwierigkeiten in der Schule gehabt, aber ich habe irgendwann mal gemerkt, die Schule ist eine Möglichkeit, wie man sich weiterentwickeln kann. Und meine Eltern haben etwas Wichtiges gemerkt. Sie haben gemerkt, der schafft es alleine nicht, wir können ihm nicht helfen, also braucht er eine Nachhilfe. Und das hat dann dazu geführt, dass ich in der fünften Klasse von der Hauptschule auf die Realschule wechseln konnte. Und dann gibt es einen ganz wichtigen Punkt, den ich immer wiederhole: Ich hatte deutsche Freunde und manche von denen haben mich nach Hause mitgenommen. Und dann haben zuhause ihre Mütter halt nicht nur nach den Hausaufgaben von meinem Freund Hermann gefragt, sondern halt auch nach den Hausaufgaben vom Cem gefragt. Und dann hatte der Cem ausnahmsweise seine Hausaufgaben gemacht und hat gemerkt, so schlimm ist das ja gar nicht. Will sagen, was wir brauchen ist, dass gerade diejenigen, die zuhause nicht Deutsch sprechen, weil die Eltern nicht so gut Deutsch können, die brauchen besonders viel Unterstützung. Das muss man kompensieren, indem die Kinder früh in den Kindergarten gehen, deshalb Ausbau unter drei Jahren, indem die Kinder die Hausaufgaben in der Schule machen, deshalb Ganztagesschule, und indem sie nach Möglichkeit deutsche Freunde, deutsche Bekannte haben, wo quasi das Wohnzimmer der deutschen Mittelschichtfamilie ein bisschen mit erzieht.

    Adler: Herr Özdemir, dann haben Sie alles gelernt außer Hochdeutsch. Aber das können Sie fast.

    Özdemir: Ich musste es lernen, Sie werden lachen, denn als ich '94 in den Bundestag gewählt worden bin und zu zum Teil sehr ernsten Themen reden musste und alle angefangen haben zu kichern, und ich immer gefragt habe: "Was ist los, ist mein Hosenladen offen oder stimmt irgendwas nicht?" Bis ich gemerkt habe, die kichern alle, weil einer, der "Tschem Özdemir" heißt, wie man auf Deutsch sagt, oder "Cem Özdemir", wie man auf Türkisch sagen würde, Schwäbisch schwätzt. Also habe ich mir angewöhnt, Hochdeutsch zu lernen. Und mittlerweile beherrsche ich es, sofern man es als Schwabe eben beherrschen kann.

    Adler: Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

    Özdemir: Ich danke Ihnen.