Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Hier ist die Zeit der Held

Thomas Lehr hat keinen Science Fiction, sondern einen historischen Roman geschrieben, der ausgehend von dem Ereignis des Zeitstillstands mit verschiedenen Zeitebenen spielt. Er wollte einen Roman schreiben, der die Zeit als Helden hat, als Subjekt. Und er wollte sich einen Spaß daraus machen, alle möglichen Theorien über die Zeit durcheinander zu wirbeln. Das ist geglückt.

Von Michael Opitz | 09.01.2006
    Es klingt absurd, aber Thomas Lehr geht in seinem neuen Roman 42 der Frage nach, welche Bewegungen ein Stillstand auszulösen vermag. Er beschreibt in der neuen Prosaarbeit, wie siebzig Besuchern, die an einem Sommertag der Einladung des in der Nähe von Genf gelegenen Kernforschungszentrums CERN gefolgt sind, nach ihrem Wiederauftauchen aus den Katakomben der unterirdischen Anlage im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit abhanden gekommen ist. Sie kehren zwar dahin zurück, wo sie hergekommen sind, und es ist alles an seinem Platz, aber gerade deshalb herrscht Chaos: denn es bewegt sich nichts mehr. Um 12 Uhr 47 und 42 Sekunden sind die Uhren durch einen außer Kontrolle geratenen Teilchenbeschleuniger, der Europa in einen Zeitkokon eingeschweißt hat, stehen geblieben. Die Welt existiert nur noch als dreidimensionale Fotografie und befindet sich in einem Dornrösschenschlaf. Menschen, Tiere, sämtliche Autos und Flugzeuge haben aufgehört sich zu bewegen und verharren regungslos an dem Ort und in der Pose, die sie innehatten, als die Zeit stehen blieb.

    Im Unterschied zu den wie im Koma Eingefroren sind die 70 Chronifizierten auf für sie unerklärliche Weise mit einer Zeitblase ausgestattet worden. Dieser Besitz eines mit Zeit angefüllten Raumes macht sie zu Auserwählten, denn die mit diesem Zeitrucksack Existierenden können mit den aus der Zeit Herausgefallenen nach eigenem Belieben umgehen. Ihre Freiheit ist grenzenlos und im Supermarkt einer unbeschränkt verfügbaren Welt findet sich zur Befriedigung der eigenen Gelüste alles, wovon sie nicht zu träumen wagten.

    "Ich denke das Buch hat zwei wesentliche Hauptstränge in thematischer Hinsicht. Der eine wichtige, der mir am wichtigsten ist: Es handelt sich um ein Buch über das Wesen oder Unwesen der Zeit, ein Buch, das sich mit Zeitphilosophie, Zeittheorie, mit der Frage, was ist Zeit und was tut sie mit uns beschäftigt. Und der zweite Aspekt ist ein gesellschaftlicher Aspekt. Ich verfolge ja das Schicksal von siebzig Personen, die sich in einer gefrorenen Welt bewegen müssen und die haben einen urgesellschaftlichen Zustand erzwungenermaßen erreicht, ist die Frage nach dem Zustand des einzelnen in der Gesellschaft. Das ist das zweite, wenn man möchte, soziologische Thema des Romans. "

    Die Uhren blieben um 12 Uhr 47 und 42 Sekunden stehen und sie bewegten sich fünf Jahre nicht um eine Sekunde. Dann setzt unerwartet für die Chronifizierten der Zeitmotor für drei Sekunden wieder ein, was sie veranlasst, sich zurück zum CERN zu begeben, weil sie hoffen, der stotternde Zeitmotor würde wieder anspringen. Zugleich ist dieser kurze Moment von Bewegung aber auch Anlass, darüber nachzudenken, wie sie sich in den vergangenen Jahren verhalten haben, was sie getan, aber auch, nicht getan haben, und wie sie mit den Eingefrorenen, die von ihnen Fuzzies genannt werden, umgegangen sind.

    "Ziemlich früh schon zitiere ich eine der Figuren des Romans, einen Dr. Manuel Sperber, der seine Rolle zunächst darin findet, eine Art Chronist der Zeitlosen zu werden, der Gruppe Chronifizierter. Und Sperber sagt voraus, was in diesem Buch geschieht und größtenteils zu recht. Er sagt: Wenn die Zeit länger stillsteht, werdet ihr euch gemäß meinen fünf Gesetzmäßigkeiten verhalten und die zählt er ihnen schon ganz früh auf. Er sagt: Wir werden fünf Phasen durchlaufen. Und diese fünf Phasen gliedern sich wie folgt: Zunächst wird der Schock da sein. Wir sind zeitlos oder wir sind mit einer erstarrten Welt konfrontiert und müssen uns darin zu Recht finden. Das führt zu einer Orientierungsphase, in der wir allmählich lernen werden zu überleben, psychisch und physisch zu recht zu kommen, mit dieser erstarrten Welt. Wir werden drittens diese Welt missbrauchen, weil: wir sind zwar einsam aber auch mächtig. Denn die Erstarrten oder auch das Erstarrte scheint zunächst einmal folgenlos zu unserer Verfügung zu stehen. Das Ganze wird aber in die Phase vier münden, in die Depression. Denn wir bekommen keine Antwort von Dingen, die wir vollkommen beherrschen. Und am Ende der Entwicklung steht fünftens der Fanatismus, d.h. das Beharren oder fast schon wahnsinnige Beharren auf einer gewissen Deutung aller Dinge, der sie nachhängen, egal um welchen Preis. Das ist im Grunde die soziologische Voraussage, das mit den Menschen passiert. Das ist auch die Spannung, die der Leser mehr oder minder davon hat. Er kann mitverfolgen, ob sie sich diesem Sperberschen Modell anschließen, ob sie sich in diesem Modell bewegen. "

    Natürlich kostet ein Teil der Zeitparasiten diese grenzenlose Freiheit bedenkenlos aus und überschreitet im Supermarkt der uneingeschränkten Möglichkeiten die Grenzen des Erlaubten. Was ein Leichtes ist, denn außer den eigenen ethisch-moralischen Grundsätzen gibt es für die Zeitzombies keine Gesetze, die sie anerkennen müssten. Doch sie begreifen nur, dass sie nach Allem greifen können und benutzen die in Folie verpackten Menschen als bloße Objekte zur eigenen Lustbefriedigung.

    "Der Ausgangspunkt für mich bei der Arbeit war, stärker eigentlich, ein Buch zu schreiben, einen Roman zu schreiben, der wirklich die Zeit als Helden hat, als Subjekt. Ich wollte ein Buch schreiben - in der Romanform es schaffen - über die Zeit nachzudenken und sie im Wesentlichen zu beschreiben. Und mir ein Spaß auch daraus zu machen, alle möglichen Theorien und Ansichten über die Zeit und die zeitlichen Dimensionen durcheinander zu wirbeln im Sinne eines fast philosophischen Romans. Aber, dass das nicht jenseits unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit spielen sollte, war mir auch schnell klar. Und dann ist eben dieses zweite große Thema hinzugekommen, das Thema von Macht und Ohnmacht, von Einsamkeit und Gesellschaftlichkeit, und ich hab das dann als zusammengehörig empfunden, so wie ich glaube, dass ich die Grundfragen der Zeit oder des Zeitverständnisses auch immer nur aus unserer Gesellschaftlichkeit stellen."

    Thomas Lehr hat keinen Science Fiction, sondern einen historischen Roman geschrieben, der ausgehend von dem Ereignis des Zeitstillstands mit verschiedenen Zeitebenen spielt. Der Roman, der im Umfeld physikalischer Fragestellungen des 21. Jahrhunderts angesiedelt ist, versetzt die handelnden Figuren in einen urgesellschaftlichen Zustand, der im Zeitalter der Aufklärung diskutiert wurde. Erzähltechnisch löst Thomas Lehr die Engführung der in unterschiedliche Richtungen laufenden Zeit- und Erzählebenen, indem er sie im Ereignis des Zeitstillstands miteinander verschränkt. Während Lehr, mit der Zeitkatastrophe, ein Fenster zu öffnen scheint, das einen Blick in die Zukunft freigibt, gibt das geöffnete Fenster den Blick in eine Zukunft frei, die im Gewand der Vergangenheit daher kommt. Diese Zeitverwirrung lässt bei den Chronifizierten den Wunsch aufkommen, wieder Anschluss an die Gegenwart zu finden, aus der sie verstoßen wurden.

    "Im Grunde arbeitet schon mein erster Roman "Die Erhörung" mit Zeit, weil, es geht um einen Historiker, der sich mit Zeit, mit vergangener Zeit beschäftigt und da geht es um einen Rückgriff auf möglichst große Zeiträume. Das Bewusstsein großer historischer Zeiträume ist das Thema. In meinem zweiten Buch, dem "Zweiwasser", dort gibt es auch eine Auseinandersetzung mit Zeit, auch explizit, da gibt es Bilder zu Heraklit zum Beispiel, zum ewigen strömenden Fluss. Da gibt es einige Szenen, die kann man schon als Prognose dieses Romans 42 lesen. Es gibt in Nabokovs "Katze" eine Auseinandersetzung mit Zeit, weil es ein sehr filmischer Roman ist, ein Nachdenken über das Ablaufen des Films Leben über den Projektor Welt, also da gibt es immer wieder Reflexionen darüber. Bei "Frühling" gibt es diesen gnadenlosen Countdown von 39 Sekunden, der bis zum Tod führt, aber kurz davor endet. Und im gewissen Sinne führt 42 das fort. Eigentlich auch in der Zeitrichtung einerseits, denn die 39 Sekunden von "Frühling" plus die drei Sekunden, in der der Roman nun spielt, oder die drei scheinbaren Sekunden, ergibt die Zahl 42. Es ist also eine Fortsetzung über den Tod hinaus, könnte man sagen. Weil, man kann das Buch auch als Jenseitsroman lesen, was bisher wenige getan haben, aber so löse ich das Buch nun einmal auf, auf der letzten Seite und das andere Novum in dieser fünften Auseinandersetzung mit Zeit - und es wird nicht die letzte gewesen sein, glaube ich, ist, das ich hier die Zeit direkt bei den Hörnern packe und das ich auch von Zeit als Subjekt spreche. Also sie nicht nur ablaufen lasse oder als Erzählparameter auf sie zurückkomme, sondern über Zeit explizit in dem Buch auch nachdenke, wenn auch nicht in Form großer, langer Essays, aber so in Form konzentrierter Kurzessays. Es ist ja das Unfallgeschehen, das die Personen des Romans immer wieder begutachten müssen, denn die Zeit ist ja out of joint, wie Shakespeare sagt, aus den Fugen, und man muss sie nur begutachten und sich fragen, was ist das für eine Lokomotive hier, die aus dem Gleis gesprungen ist."

    Thomas Lehr: 42
    Roman. Aufbau Verlag. Berlin 2005. 368 Seiten