Donnerstag, 28. März 2024

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Hieronymus Bosch des Deutschen Herbstes

In diesem Jahr wäre er 80 geworden. Unter den deutschsprachigen Schriftstellern war er, meine ich, einer der meist unterschätzten. Kein akutes Thema unserer jüngsten Zeitgeschichte - ob RAF, Alt-Faschismus oder Neu-Faschismus - keine Brisanz, der er sich nicht auf seine ganz und gar eigene Weise näherte in Gedichten, in Hörspielen und in einer Prosa, die alle üblichen Dimensionen überstieg.

Von Jürgen Lodemann | 28.08.2008
    Was die sogenannte RAF an Sprache hinterlassen hat, konnte bekanntlich schon rein sprachlich erschrecken - entstellte Wörter, missratene Bilder - welche Magie dagegen in der Sprache des "Sympathisanten" Geissler, obwohl er Realitäten und härteste Themen nie scheute, etwa in jenem "Hörspiel des Jahres", das 1993 auch den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekam, Titel: "Unser Boot nach Bir Ould Brini". Das war eine dialogische Montage um den Exodus utopischer Fantasien, mit lyrischen Bildern aus ödester Sahara. Im Innern der Wüste wird da ein Boot gebaut, das Unmögliche als Möglichkeit der Sprache - ein Boot als Botschaft - für künftige Sintfluten eine neue Sprache als Arche.
    So viel sie auch miteinander zu tun hatten, etwa beim Thema Gewalt: RAF und Geissler haben denkbar weit aneinander vorbeigeredet, wie überhaupt die bundesdeutsche Gesellschaft die Befreiungs-Metaphern dieses Dichters möglichst gar nicht erst wahrnahm - "Das Brot mit der Feile", eine alte Ausbrecher-List als Titel eines Buchs über Menschen im System staatlicher Zwänge.

    1988 nutzte sein großer romantischer Roman im Titel ein Wort aus Hölderlins "Wahn"-Zeit: "kamalatta", nutzte Silben, von denen es heißt, für Hölderlin seien sie der Name für eine Anders-Sprache gewesen, seien eine Tarnung gewesen gegen die Polizei des Metternich-Staates. Und bei diesem 500-Seiten-Buch "kaalatta" war ich dann Zeuge, wie sehr sich die 35 Juroren der Südwestfunk-Bestenliste mit schwer taten, jedes Jahr wollen sie ja immer aus den monatlich aktuell ermittelten zehn "besten" Büchern das in diesem Jahr "allerbeste" hervorheben - bei der entscheidenden Abstimmung fehlte dann nur eine einzige Stimme - ich bin sicher, der Alltag des einzigartigen Verfassers wäre anschließend anders verlaufen.
    Schrieb er eine Anders-Sprache? In Geisslers Texten geht es in Assoziationsschüben, Querverweisen, Bezugsgeflechten und in unentwegtem Wortwiderhall auch immer wieder sehr konkret zur Sache, da geht es um "Genossen" und "Knast" und um "die offene Rede von der Freiheit", sein lyrisches Erzählen und Montieren changiert ständig zwischen Utopien und Alltags-Realien. In "Wildwechsel mit Gleisanschluss" zum Beispiel (1996) errichtet Europas Großkapital an den Grenzen des Kontinents in "knallharten Pufferregionen" Sammellager für die Armen, für die Hungernden aus Afrika, mit Wächtern in schwarzen Uniformen. "Sie drehen den Strick, bis er ihnen zerknallt als ihr Schrei ..." Unentwegt wirken da magische Bilder und Töne, und immer in direktem politischen Kontext und das in einer Dichte, wie sie höchstens bei Peter Weiß zu finden ist. Geisslers sich fast zerreißende Sprache kombiniert hochfahrend pathetisches Engagement mit avantgardistischer Ästhetik, mit seltener Musikalität und Bildkraft - zur Jahrtausendwende erzählte da ein Hieronimus Bosch.
    Er hatte Theologie studiert, war einer, der als junger Mann zum Katholizismus konvertierte - der dann aber auch andere Absolutheiten zu seiner Sache machte. 1970 hatte er die konkret-Kolumnistin Ulrike Meinhof kennengelernt - er lernte auch die anderen der "ersten RAF-Generation" kennen, intensiv. Zur Jahrtausendwende freilich signalisierte sein Gedichtband "Klopfzeichen" eine andere Gestimmtheit. Von 1985 bis 2005 lebte Geissler im entlegensten ostfriesischen Rheiderland, im äußersten Norden, fast in Holland, seine späten Gedichte zogen sich von den "großen Gesängen" der Ideologien zurück, waren reduziert aufs Knappste - nach der Katastrophe hört man bekanntlich höchstens "Klopfzeichen", im günstigsten Fall.
    Angefangen hatte er mit genauen Recherchen und Dokumentationen. Geissler ermittelte und fand zum Beispiel die Bilder des Malers Bruno Schulz, der als polnischer Jude für die SS zu zeichnen und zu malen hatte, so lange, bis er niedergeschossen wurde. Und für das Hörspiel "Ende der Anfrage" hatte er 1965 alles gesammelt, was er zu gesagt bekam, als er Einwohner eines Dorfes nach ihren Erinnerungen fragte, eines Dorfes, in dem bis 1945 eine SS-Kaderschule war. Die Befragten reagierten zunächst mit Schweigen, sie antworteten erst, als er seine Frage-Technik änderte und so tat, als verbinde auch ihn Großes mit dieser SS-Schule. Das Südwestfunk-Hörspiel wurde lange Zeit nicht gesendet, erst 1998, im SWR. Geisslers Interview-Methode galt als "unjournalistisch".
    Der Text "Ein Kind essen", eine seiner letzten größeren Arbeiten dreht sich um Eltern, die im Erfolgs-Stress nicht merken, wie sie ihr Kind vergiften - mit den Ausdünstungen beim Lackieren von Luxus-Autos. Geisslers Schlusstexte liefern keine Lösungen, keine Aufbrüche mehr, höchstens Klopfzeichen, solche, die fast nur noch an eins erinnern, an Liebe. Christian Geissler ist immer noch zu entdecken, seine Boote in der Wüste sind zwar verweht, wären aber noch immer zu finden.
    Für Arno Schmidt gibt es seit langem ein "Dechiffrier-Syndikat". Unsere beste Literaturzeitschrift "Schreibheft" entziffert seit langem jeweils einen Einmaligen - wird Zeit, dass solche Sorgfalt auch diesem Autor gilt, diesem einmaligen poetischen Engführer unserer privaten wie politischen Existenz. "Wird Zeit, dass wir leben" hieß es bei ihm 1976. Als ich ihn zuletzt sah, hob er beim Abschied die Hand so, als wollte er noch mal die alte Kämpferfaust zeigen, er lächelte - was er aber eigentlich zeigen wollte, war, dass ihm die Faust gar nicht mehr gelingen konnte, die kranke Hand - aber zugleich sein Lächeln - da bot er als Person und Freund noch einmal eine seiner Metaphern, seiner wahren dichterischen Bilder.