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Hilde Ostby und Ilva Ostby: "Nach Seepferdchen tauchen"
Ein Buch über die Untiefen der Erinnerung

Der Hippocampus sorgt dafür, dass Erlebnisse langfristig im Gedächtnis festgehalten werden. Die Neuropsychiaterin Hilde Østby und die Journalistin Ylva Østby haben mit Tauchern getestet, ob der Ort unsere Erinnerung beeinflusst. Ihre Erkenntnisse haben sie in einem lesenswerten Sachbuch festgehalten.

Von Martin Hubert | 22.02.2019
Cover von Hilde und Ylva Østbys Buch "Nach Seepferdchen tauchen". Im Hintergrund ist das Gesicht einer Frau unter Wasser zu sehen.
Cover von Hilde und Ylva Østbys Buch "Nach Seepferdchen tauchen". Im Hintergrund ist das Gesicht einer Frau unter Wasser zu sehen. (berlin-Verlag / Unsplash / Lawrson Pinson)
Er sieht wie ein Seepferdchen aus, lebt aber nicht im Wasser. Er sitzt im Gehirn und trägt den wissenschaftlichen Namen Hippocampus, das lateinische Wort für "Seepferdchen". Für unser Erinnerungsvermögen ist er unerlässlich.
Die Osloer Neuropsychiaterin Hilde Østby und ihre Schwester, die Journalistin Ylva Østby, haben ihn deshalb im Titel ihres Buches ins Zentrum gerückt: "Nach Seepferdchen tauchen. Ein Buch über das Gedächtnis". Und sie haben unser Erinnerungsvermögen tatsächlich mit Hilfe von Tauchern getestet. Würde der Ort ihr Gedächtnis beeinflussen?
"Die Taucher, die sich unter Wasser die Wörter einprägen und sie dort wieder aus ihrem Gedächtnis abrufen sollten, waren fast ebenso gut wie beim Lernen und Abrufen der Wörter an Land."
Das menschliche Gedächtnis arbeitet kontextgebunden
Alle Taucher waren aber schlechter, wenn sie die Wörter nicht dort abrufen konnten, wo sie sich eingeprägt hatten. Gleicher Kontext bei der Einspeicherung und beim Abruf eines Inhalts bedeutet: bessere Erinnerung. Ähnlich plastisch und lebendig geht es im ganzen Buch zu, wenn die Autorinnen dem komplexen Phänomen " Gedächtnis" auf den Grund gehen, das verschiedene Sinneseindrücke zusammenfügt.
Um dieses Zusammenspiel auf die Spur zu kommen, schildern die Autorinnen viele Experimente und das Leben von Patienten, die zum Beispiel alles vergessen oder alles erinnern. Sie haben zahlreiche Forscher interviewt und manchmal ziehen sie Romane heran, um ein Thema anschaulich zu machen. Wobei die Autorinnen Kontroversen nicht aussparen und sich vor Einseitigkeiten hüten.
Das alternde Gedächtnis ermöglicht es, in die Zukunft zu denken
Bei der alten Streitfrage etwa, ob unsere Erinnerungen meistens stimmen oder meistens falsch sind, versuchen sie eine Synthese.
"Jede unserer Erinnerungen balanciert zwischen Realität und Fantasie. Der Hauptteil der meisten Erinnerungen basiert auf wahren Ereignissen, dennoch durchlaufen die Erinnerungen bei jedem Abruf einen Rekonstruktionsprozeß. Dabei füllen wir die Lücken mit dem, was plausibel ist."
Wer sich vor allem für die biochemischen Details des Gedächtnisses interessiert, wird bei diesem Buch zu kurz kommen. Aber es bietet eine wunderbare Einführung in die Vielfalt des Gedächtnisses und seine Bedeutung für die menschliche Persönlichkeit.
Zielgruppe: Alle, die sich darüber wundern, wie viel sie vergessen und an was sie sich erinnern.
Erkenntnisgewinn: Das Gedächtnis ist nicht alles - aber ohne Gedächtnis wären wir nichts.
Spaßfaktor: Ein Sachbuch, das sich fast so spannend liest wie ein Roman.
Hilde Ostby und Ilva Ostby: "Nach Seepferdchen tauchen. Ein Buch über das Gedächtnis".
Übersetzung: Nina Hoyer
Berlin-Verlag, 320 Seiten, 24 Euro.