Donnerstag, 25. April 2024

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Hilfe für Erdbebenopfer
"Nicht der Zeitpunkt für Kritik"

Nach dem Erbeben in Nepal müsse genau analysiert werden, was passiert ist, sagte Christof Johnen vom Deutschen Roten Kreuz im DLF. Zwar sei momentan nicht der Zeitpunkt, Kritik zu äußern - aber es sei schon lange bekannt gewesen, dass es zu einem Beben kommen würde.

Christof Johnen im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 28.04.2015
    Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes bereiten Flüge mit Hilfsgütern für die Erdbeben-Opfer in Nepal vor.
    Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes bereiten Flüge mit Hilfsgütern für die Erdbeben-Opfer in Nepal vor. (AFP / Hannibal Hanschke)
    Kritik an einer möglicherweise bevorzugten Hilfe für Bergsteiger wies der Leiter des Teams "Internationale Zusammenarbeit" des DRK ab: "Die Hilfsorganisationen arbeiten nicht für die Bergsteiger, sondern alle arbeiten in Kathmandu und den anderen betroffenen Bezirken, um die nepalesischen Menschen zu versorgen und zu betreuen." Seit Samstag seien allein 1.500 nepalesische Helfer des Roten Kreuzes im Einsatz.
    "Wir müssen nach vorne schauen"
    Christof Johnen schilderte die Lage in Nepal weiterhin als sehr unübersichtlich und chaotisch: "Die Situation scheint wirklich dramatisch zu sein." Sicherlich sei davon auszugehen, dass die Zahl der Todesopfer noch weiter ansteige, sagte Johnen, betonte jedoch zugleich: "Jedes Land der Welt stünde vor massiven Herausforderungen bei einem Ereignis dieses Ausmaßes."
    Die nepalesische Regierung hat bereits eingeräumt, trotz zahlreicher Warnungen nicht die nötigen Vorkehrungen für ein schweres Erdbeben getroffen zu haben. Man sei auf eine Katastrophe dieses Ausmaßes nicht vorbereitet gewesen, sagte Innenminister Bam Dev Gautam. Damit reagierte er auf wachsende Kritik am Krisenmanagement der Regierung. Medienberichten zufolge klagen viele Überlebende darüber, dass Hilfsgüter nicht gleichmäßig verteilt würden. In der Hauptstadt Kathmandu gibt es weiterhin keinen Strom und kaum Trinkwasser. Zehntausende Menschen sollen das Kathmandu-Tal auf der Suche nach Nahrung bereits verlassen haben.
    Das Deutsche Rote Kreuz schickte gemeinsam mit dem Technischen Hilfswerk 60 Tonnen Hilfsgüter in die Katastrophenregion. Darunter sind Zelte, Decken sowie Material zur Trinkwasseraufbereitung.
    Die Behörden gehen inzwischen von mehr als 4.300 Toten aus. Die Regierung rief eine dreitägige Staatstrauer aus. In Indien und China kamen fast 100 Menschen ums Leben.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Helfer im Katastrophengebiet in Nepal, sie wissen wahrscheinlich gar nicht so genau, wo sie zuerst helfen sollen. Teile der Hauptstadt Kathmandu sind dem Erdboden gleichgemacht. Aber nicht nur die Hauptstadt ist betroffen, sondern das gesamte Tal. Die Hilfsorganisation UNICEF, die schätzt, dass allein Hunderttausende Kinder von der Katastrophe betroffen sind.
    Telefonisch zugeschaltet ist uns jetzt Christoph Johnen, Leiter des Bereichs internationale Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes. Guten Morgen, Herr Johnen!
    Christoph Johnen: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Herr Johnen, wie stellt sich die Lage zurzeit aus Ihrer Sicht dar?
    Johnen: Die Lage stellt sich nach wie vor sehr unübersichtlich dar. Nach unseren Informationen ist zwar inzwischen ein Großteil der Zugangswege auch zu den abgelegeneren Regionen, soweit es überhaupt Wege dorthin gibt, von Trümmern geräumt, aber wie es auch schon geschildert wurde: Es ist extrem aufwendig, aus Kathmandu hinaus dann wirklich in diese Regionen zu kommen.
    "Kommunikationssysteme sind überlastet oder zusammengebrochen"
    Heckmann: Was weiß man denn? Was wissen Sie denn über die Situation der Menschen, die in der Umgebung, auf dem Land, in den Gebieten, die bisher nicht zugänglich waren, in welcher Situation diese Menschen stecken?
    Johnen: Die Problematik ist: Helfer des Roten Kreuzes, des Nepalesischen Roten Kreuzes, die sind vor Ort, weil sie natürlich immer in diesen betroffenen Gemeinden leben. Sie sind Mitglieder dieser Gemeinden. 1.500 Helfer sind seit Samstag im Einsatz. Die Kommunikationssysteme sind allerdings entweder zusammengebrochen, oder sehr überlastet, sodass wir teilweise sehr wenig von unseren eigenen Helfern, also den nepalesischen Helfern vor Ort wissen. Das was wir wissen ist: Die Situation scheint teilweise wirklich dramatisch zu sein, weil die Baustruktur gerade im ländlichen Bereich offenbar noch schwächer ist als in Kathmandu.
    Heckmann: Also muss man damit rechnen, dass die Opferzahl, die Zahl der Todesopfer noch sehr, sehr viel höher steigt?
    Johnen: Es ist sicherlich davon auszugehen, dass die Zahl weiter ansteigt. In welchem Umfang, das möchte ich eigentlich nicht mutmaßen.
    Heckmann: Wie groß sind denn die Schwierigkeiten, die jetzt mit diesen ganzen vielen Nachbeben verbunden sind, mit den Erdrutschen, die ausgelöst werden, mit den verschütteten Straßen?
    Johnen: Bei den Nachbeben, die sind natürlich vor allem für die betroffenen Menschen ein großes Problem. Die sind alle schon traumatisiert, sie trauen sich nicht mehr zurück in ihre Häuser, wenn sie nicht zerstört sind, sie bleiben draußen.
    Es gibt natürlich viel zu wenig Unterkunft, die Menschen müssen im Freien schlafen, es gibt teilweise starken Regen. Für die Organisation der Hilfe, da liegen uns bisher keine Informationen vor, dass durch die Nachbeben jetzt weitere Schäden hinsichtlich Verschüttung von Straßen passiert sind.
    "Wir müssen möglichst schnell weiter vorankommen"
    Heckmann: Wie läuft denn aus Ihrer Sicht die Organisation dieser ganzen Rettungs- und Bergungsoperation? Unser Korrespondent Jürgen Webermann, der hat von einem Riesenchaos gesprochen, und es gibt ja mittlerweile auch erste Proteste der Bevölkerung.
    Johnen: Chaos ist sicher zutreffend. Allerdings ist das auch kein Spezifika jetzt dieses Erdbebens. Nach einer derart großen Katastrophe muss man in den ersten Tagen immer von Chaos ausgehen.
    Ich glaube auch nicht, dass es der Zeitpunkt ist, jetzt Kritik zu äußern, sondern wir müssen einfach nach vorne schauen und sehen, dass wir jetzt möglichst schnell weiter vorankommen. Es wird aber sicherlich genug Gründe geben, sich dann genau anzuschauen, was dort passiert ist, denn dass ein Erdbeben in Kathmandu passieren würde, war ja eigentlich lange bekannt.
    Heckmann: Ich habe es gerade schon erwähnt, Herr Johnen. Reinhold Messner und sein Bergsteigerkollege Habeler, die haben heftige Kritik gestern geübt an dieser ganzen Rettungsoperation. Die Prioritäten, die würden falsch gesetzt. Es war die Rede von Zwei-Klassen-Rettung auch. Die, die Geld haben, die würden gerettet, nämlich die Bergsteiger, die auf dem Mount Everest festsitzen, und die, die kein Geld haben, die würden eben nicht gerettet, und das sei ein zynisches Spiel. Ist an dieser Kritik was dran?
    Johnen: Ich kann nur sagen, wie die Hilfsorganisationen arbeiten, und die arbeiten nicht für die Bergsteiger, wobei die genauso gut gerettet werden müssen wie jeder andere Mensch, sondern alle normalen Hilfsorganisationen arbeiten in Kathmandu, in den anderen betroffenen Bezirken, um die nepalesischen Menschen zu retten, zu versorgen, zu betreuen.
    "Hubschrauber sind im Augenblick eine Mangelressource"
    Heckmann: Es werden allerdings eine ganze Reihe von Hubschraubern offenbar eingesetzt, um diese Bergsteiger wieder herunterzubringen. Müssten die nicht, wie das teilweise gefordert wird, von Herrn Habeler beispielsweise, anders eingesetzt werden, nämlich um die breite Bevölkerung in Nepal zu unterstützen?
    Johnen: Natürlich sind Hubschrauber im Augenblick eine Mangelressource und auch wir wären froh über jede zusätzliche Transportkapazität, die uns zur Verfügung gestellt würde.
    Heckmann: Welche Kapazitäten haben Sie denn da?
    Johnen: Wir haben im Augenblick wenig schwere Transportkapazität im Land. Es klang ja in den Vorbeiträgen schon an: Es ist extrem schwierig, überhaupt Hilfsgüter ins Land zu bringen. Es ist ein armes Land, es gibt wenig schweres Räumgerät, es gibt nicht so viele Lkw, dass man jetzt sehr schnell ins ganze Land Hilfsgüter bringen könnte.
    Wir bringen im Augenblick - es ist teilweise schon drin oder auf dem Weg - als Internationales Rotes Kreuz ein Krankenhaus, zwei Basis-Gesundheitsstationen, eine sogenannte Logistikeinheit, die einfach die Kapazität des Flughafens erhöhen soll, damit mehr Hilfsgüter in Empfang genommen werden können, ins Land. Aber wenn Sie wirklich anfangen müssen, Lkw und schweres Transportgerät ins Land zu bringen, das ist unglaublich schwierig dort.
    Heckmann: In den vergangenen Tagen, vor allem gestern, da gab es auch Kritik an kleineren Hilfsorganisationen, die sofort medienwirksam in die Region fliegen würden, ohne genau zu wissen, wo sie eigentlich eingesetzt werden. Ist das so, dass es eine Tendenz gibt, dass sich die Hilfsorganisationen teilweise gegenseitig sogar blockieren? Sehen Sie das?
    Johnen: Es gibt verschiedene Arbeitsweisen und die großen Hilfsorganisationen, die im Regelfall ja auch über ihre Netzwerke arbeiten - das Rote Kreuz ist über das Nepalesische Rote Kreuz im Land vertreten -, die schauen zunächst, wie die Meldungen aus dem Land sind, wir haben relativ schnell ganz gute Meldungen, und stimmen dann eine wirklich maßgeschneiderte Hilfe ab. Wir halten nicht viel davon, ad hoc möglichst viele Helfer aus dem Ausland auf den Weg zu bringen.
    "Die Dimension dieses Erdbebens für das Land ist gewaltig"
    Heckmann: Herr Johnen, Sie haben gerade gesagt, der Blick nach vorne ist jetzt das Entscheidende. Trotzdem muss ich noch mal einen Rückgriff in die jüngste Geschichte machen, wenn Sie erlauben.
    Vor wenigen Jahren, da gab es eine Expertenkommission der Vereinten Nationen. Die hat sich mal angeschaut, wie das Land denn wohl reagieren würde auf eine erneute Erdbebenkatastrophe, wie die internationale Gemeinschaft auch aufgestellt wäre in einem solchen Fall, und diese Kommission, die kam zu dem Schluss, dass man überhaupt nicht gut vorbereitet sei. Es gäbe im Fall der Fälle zu wenig Rettungskräfte vor Ort und eine schlechte Organisation, und genau das scheint sich ja jetzt auch abzuzeichnen.
    Hat die internationale Gemeinschaft, muss ich an der Stelle doch noch mal fragen, Nepal möglicherweise im Regen stehen lassen?
    Johnen: Das ist das, was ich vorhin andeutete, wo man sicherlich genau analysieren muss, was ist dort passiert. Viele Organisationen, staatliche wie nicht staatliche, haben in den vergangenen Jahren viele Programme, Projekte, Untersuchungen gemacht, wie man Nepal helfen könnte, sich besser auf ein Erdbeben vorzubereiten. Man muss jetzt sicherlich mal sehr genau auswerten, wie erfolgreich das denn tatsächlich gewesen ist.
    Andererseits muss man immer sehen: Die Dimension dieses Erdbebens für das Land ist so gewaltig. Ich glaube, jedes Land der Welt stünde vor massiven Herausforderungen bei einem Ereignis dieses Ausmaßes.
    Heckmann: Christoph Johnen war das live hier im Deutschlandfunk. Er ist Leiter des Bereichs internationale Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes. Herr Johnen, danke, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben.
    Johnen: Danke Ihnen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Alles Gute!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.