Mittwoch, 24. April 2024

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Hilfsorganisationen in Syrien
"Der Winter macht uns Sorge"

"Die Leute haben nichts zu essen, es gibt kein fließend Wasser, keinen Strom" - 13 Millionen Syrer sind laut Angela Gärtner von "Caritas International" immer noch auf Unterstützung angewiesen. Gerade im Winter gehe es primär darum, den Menschen das Nötigste zum Überleben bereitzustellen, sagte Gärtner im Dlf.

Angela Gärtner in Gespräch mit Silvia Engels | 01.11.2017
    Evakuierung Aleppos im Winter 2016 bei Schneefall.
    Aleppo kurz nach der Eroberung durch die Regierungstruppen im Winter 2016. (AFP / George Ourfalian)
    Silvia Engels: Der syrische Bürgerkrieg beherrscht seit einigen Monaten nicht mehr die vorderen internationalen Schlagzeilen. Doch nach wie vor wird dort gekämpft und gestorben. Erst gestern meldeten syrische Oppositionelle, bei einem Angriff im Süden des Landes in der Nähe von Damaskus seien mehrere Kinder getötet worden. Daneben berichten UN-Organisationen, nahe der Hauptstadt würden Menschen belagert und gezielt ausgehungert.
    Am Telefon ist nun Angela Gärtner. Sie war für die kirchliche Hilfsorganisation Caritas International in den letzten Tagen in den Städten Homs und Aleppo, also im Norden des Landes. Wir erreichen sie auf der Rückreise in Beirut, guten Tag, Frau Gärtner!
    Angela Gärtner: Guten Morgen, Frau Engels!
    Engels: In beiden Städten wurde ja monatelang gekämpft, bevor die Regierungstruppen am Ende gewannen, zumindest militärisch. Wie ist die Lage der Menschen dort heute?
    Gärtner: Das ist richtig, die Befreiung oder die Eroberung durch die Regierungstruppen von Aleppo jährt sich ja im Dezember. Die Sicherheitslage hat sich seitdem deutlich verbessert. Es gibt weiterhin Kämpfe in den Außenbezirken, das heißt, im Stadtkern hört man durchaus auch noch Detonationen, aber die Sicherheitslage ist deutlich besser. Die Auswirkungen der schweren Kämpfe sind natürlich deutlich sichtbar, insbesondere im Ostteil sind nahezu alle Häuser zerstört.
    "Die Menschen haben alles verloren"
    Engels: Woran fehlt es den Menschen vor allem?
    Gärtner: Im Ostteil haben sie natürlich keinerlei Einkommensmöglichkeiten, das heißt, sie haben auch alles verloren. Die Leute haben nichts zum Essen, es gibt kein fließend Wasser, es gibt keinen Strom. Jetzt für den Winter gibt es keinerlei Heizmöglichkeiten, sie leben zum Teil in den Häusern, die nur partiell eingestürzt sind, aber auch dort fehlen häufig die Fenster oder auch die Türen, das heißt, sie haben keinerlei Isolierung. Und sie sind vollständig auf externe Unterstützung zum Überleben angewiesen.
    Engels: Wie kann Ihre Organisation, die Caritas, da im Moment zum Überleben beitragen?
    Gärtner: Es werden Nahrungsmittel verteilt, es werden Hygieneartikel verteilt, es werden Matratzen, Schlafsäcke, also alles … Kleider, alles, um die Leute ein bisschen besser auszustatten. Aber es finden zum Beispiel auch Kurse für die Kinder statt, wo sie sich treffen, Kindertreffs, wo Bildungsaktivitäten gemacht werden, aber auch Freizeitaktivitäten, um die Kinder einfach mal wieder in ein bisschen Normalität reinzubringen, wo man aber auch versucht, mit Nachhilfeunterricht den Kindern irgendwann den Übergang in ein normales Schulleben, in ein geregeltes Schulleben wieder zu ermöglichen, weil viele von den Kindern jetzt tatsächlich Jahre ihrer Schulzeit verpasst haben.
    Kleine Zeichen des Wiederaufbaus
    Engels: Gibt es denn Anzeichen für einen Wiederaufbau, der sich in Aleppo zeigen würde?
    Gärtner: Ganz kleine Zeichen erkennt man. Es war sehr schön zu sehen, dass auch in den zerstörten Gebieten einzelne kleine Kiosks aufmachen, das heißt, da werden Gemüse verkauft ganz einfach oder es wird ein kleiner Kleiderladen aufgemacht. Also man sieht erste Ansätze. Die Ansätze bezüglich des Wiederaufbaus oder der Renovierung von Häusern sind tatsächlich nicht sehr, sehr dürftig, das wird über die Regierung koordiniert, einzelne NGOs dürfen da jetzt anfangen, aber da ist sicherlich noch sehr viel zu tun.
    Engels: Und jetzt kommt der Winter, wird sich die Versorgungslage angesichts fehlender Heizmöglichkeiten und fehlender fester Häuser noch verschärfen.
    Gärtner: Ja, sicherlich. Der Winter macht uns tatsächlich auch Sorge, weil die Versorgung mit Diesel rationiert ist über die Regierung. Das heißt, in anderen Ländern versorgt man in solchen Fällen die Leute mit Kerosinöfen, die sie zum Heizen, aber auch zum Kochen nehmen können. Das ist jetzt hier nicht möglich. Alternativ wird Holz verbrannt, aber auch das gibt es nicht besonders viel. Das heißt, es geht primär darum, die Häuser möglichst gut zu isolieren und die Leute mit warmen Sachen und Decken, Matratzen, Schlafsäcken auszustatten.
    "Regionen gezielt von der Versorgung abgeschnitten"
    Engels: Sie haben es zu Beginn unseres Gespräches angesprochen, in den Außenbezirken von Aleppo kann man sich seines Lebens nach wie vor nicht sicher sein. Wie steht es um die Nähe des Krieges? Ist nach wie vor eine Bedrohung in der Stadt? Denn es gibt ja viele Regionen, in denen in Syrien noch gekämpft wird.
    Gärtner: Es ist vor allen Dingen der Zugang zu Aleppo. Die Straße zwischen Homs und Aleppo, da gibt es Abschnitte, wo die Kämpfe relativ nah sind, wo es auch in den letzten zwei Wochen zu Bewegungen von IS-Truppen kam, zu Angriffen auf Regierungstruppen. In den Außenbezirken Richtung Norden, Richtung Westen wird akut gekämpft, das ist hörbar. Was man merkt, ist, dass ich als Ausländer sofort drauf reagiert habe, sobald ich eine Detonation gehört habe, wohingegen die Einheimischen schon so daran gewöhnt sind, dass sie das gar nicht mehr richtig wahrnehmen.
    Engels: Erreichen Sie denn auch Meldungen von diesen Regionen, wo gekämpft wird? Kommt es da immer wieder zu Toten, wird da auch möglicherweise Hunger als Waffe eingesetzt, wie das ja wohl in der Nähe von Damaskus zum Teil der Fall ist?
    Gärtner: Ja, das wurde jetzt aktuell thematisiert. Mit guter … Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass Regionen gezielt von der Versorgung abgeschnitten werden. Wir verfügen nicht über unabhängige Berichte, dass wir das bestätigen können. Aber da es die UN bestätigt und größere internationale Organisationen, gehen wir davon aus. Und ja, wir haben im Moment in Syrien 13 Millionen Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, und davon sechs Millionen, die zum Überleben auf Unterstützung angewiesen sind. Also das Ausmaß des Bedarfs ist enorm.
    "Die Leute kehren nach Aleppo zurück"
    Engels: Obwohl so viel zerstört ist, hört man auch immer wieder Berichte darüber, dass in die Städte, in denen nicht mehr unmittelbar gekämpft wird, also auch Aleppo, die Menschen teilweise zurückkehren. Haben Sie das auch beobachten können?
    Gärtner: Ja, konnten wir erkennen, das ist richtig, die Leute kehren nach Aleppo zurück. Sie kehren nach Aleppo zurück, schauen, wo ihre Häuser standen, schauen, ob vielleicht noch eine Rückkehr in das Haus möglich ist oder in der Nachbarschaft. Es kehren Leute aus der unmittelbaren Nähe aus Aleppo zurück, aber es kehren Leute zum Beispiel auch aus dem Libanon zurück. Also der Wunsch, zurück in die Heimat zu kehren und dort wieder ein Leben aufzubauen, ist durchaus vorhanden.
    Engels: Stehen dem andere Regionen gegenüber, wo die Menschen immer noch fliehen müssen? Sei es innerhalb Syriens, sei es ins Ausland?
    Gärtner: Es gibt umkämpfte Gebiete, sicherlich, das ist insbesondere die Region im Großraum Idlib oder auch das Ressort Rakka, wo es nach wie vor zu Kämpfen kommt, und da haben wir große Fluchtbewegungen. Das heißt, wir haben insgesamt in Syrien einen Rückgang an intern Vertriebenen, aber die Zahl der Neuvertriebenen ist nach wie vor recht hoch.
    "Es gab nicht diese Trennung zwischen Ost und West"
    Engels: Blicken wir noch einmal auf Aleppo! Diese Stadt ist ja bekannt dafür gewesen, dass in der einen Stadt Menschen der verschiedensten Meinungen zusammenlebten, hier die Opposition, dort die Anhänger auch von Machthaber Assad. Wie ist es denn für die Menschen möglich, jetzt wieder einen Alltag gemeinsam aufzubauen?
    Gärtner: Es wurde immer gesagt, dass diese Trennung, wie sie beschrieben wird und wie sie auch dargestellt wurde in den letzten Jahren, dass sie so vor der Krise nicht vorhanden war. Vor der Krise war es ein gemeinsames Aleppo, in dem ein Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen wohl wunderbar geklappt hat. Es gab nicht diese Trennung zwischen Ost und West, sondern man hat sich überall bewegt. Es gibt eine größere christliche Gemeinde, die aber sehr eng auch mit der Gemeinde … Es wurde eigentlich als sehr harmonisch beschrieben.
    Und es besteht auch die Hoffnung, dass man da wieder zurückkehren kann. Es gibt enge Kooperationen zwischen christlichen Organisationen, muslimischen Organisationen, dass man gemeinsam Projekte macht und vielleicht auch so versuchen kann, das ursprünglich gute Zusammenleben wiederaufzubauen.
    "Der große Wunsch, unabhängig zu werden"
    Engels: Trotz der Tausenden Toten und dieser Verbrechen, die dort geschehen sind?
    Gärtner: Das wird sicherlich eine Zeit lang dauern. Da muss drüber gesprochen werden, das muss thematisiert werden. Ich glaube, im Moment ist den Leuten das Wichtigste das Überleben, die Rückkehrer zu sehen, dass sich in der Stadt wieder was entwickelt, dass sie zurückkehren können, dass sie sich ein Leben aufbauen können - der große Wunsch auch, unabhängig zu werden, nicht mehr abhängig zu sein von externer Hilfe, sondern selber wieder Arbeit zu finden, sich selbst einen Unterhalt leisten zu können und das Haus vielleicht wieder aufbauen zu können.
    Was jedoch ein riesiges Problem sein wird, ist, dass insbesondere im Ostteil hauptsächlich Kinder und Frauen leben, wenig Männer. Und die Männer, die man sieht, sind meistens ältere Männer. Das heißt, die Wirtschaftskraft, die jungen Männer sind entweder beim Militär oder ins Ausland geflohen oder sind Opfer des Krieges geworden.
    Engels: Angela Gärtner, für die kirchliche Hilfsorganisation Caritas war sie ein Homs und zuletzt in Aleppo unterwegs. Vielen Dank für Ihre Eindrücke!
    Gärtner: Ich bedanke mich auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.