Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Hinrichtung auf dem Dorfplatz

Hauptmann im aggressiven Schnelldurchlauf bietet die Inszenierung "Rose Bernd" von Michael Thalheimer am Hamburger Thalia Theater. Thalheimer sieht im Egoismus aller Beteiligten die Hauptursache für die von Gerhart Hauptmann geschilderte Katastrophe. In seiner Darstellung erzeugt der Regisseur Distanz - bis zur Gefühllosigkeit.

Von Karin Fischer | 12.03.2006
    In Hamburg herrschen eisige Verhältnisse. Die Gehwege sind, einer überraschenden Rückkehr des Winters und dem Streik des öffentlichen Dienstes geschuldet, von drei Zentimeter dicken Permafrost-Platten bedeckt. Wer zufällig keine Spikes an den Füßen trägt, muss Taxi fahren oder ziemlich aufpassen, dass er auf dem Eis nicht ausrutscht. Hat man es ins Thalia Theater geschafft, empfängt einen dort eine fast anheimelnd wirkende Spielfläche aus langen, nur grob behauenen Holzbalken, die als schiefes Rechteck nach hinten ansteigt und vorne spitz zur ersten Bühnenreihe zuläuft; ein einzelner Balken ragt senkrecht auf.

    Bühnenbildner Henrik Ahr hat aus Hauptmanns Naturalismus, aus dem "Fleckchen Kartoffelland" mit Büschen und Weiden, aus Bauernhäusern und guten Stuben das "Modell Tenne" abstrahiert, und somit jene Bretter ins Bild gesetzt, die fürs Bauernvolk die ganze Welt bedeuten, Stall und Tanzboden, Arbeit, Liebe, das ganze Leben. Mit bäuerlicher Romantik hatte das schon bei Hauptmann nichts zu tun, aber wenigstens mit blutvollen Gestalten. Bei Thalheimer wird spätestens in der zweiten Szene klar: Diese Menschen sind holzgeschnitzt wie die Spielfläche - die an diesem Abend vor allem als Hinrichtungsstätte fungiert., für Rose Bernd, an der sich schon in den ersten Minuten praktisch alle vergangen haben, und für ein Stück, das mehr sein kann, als ein Panoptikum gefährlicher Dorftrottel.

    Ganz am Anfang hört man Rose Bernd auf Knien sekundenlang schreien wie ein Tier. Der Regisseur nimmt vorweg, was passieren wird, Rose bringt ihr uneheliches Kind zur Welt. Danach schrubbt sich zuerst Roses notgeiler Stecher Flamme zwischen ihren Schenkeln einen ab; Erpresser Streckmann ist ein gewalttätiger Dorfstrizzi, der sie nimmt wie ein Tier im Stall; der Verlobte August gibt den geifernden Deppen, und selbst die Umarmung des Vaters ist reine Besitzanzeige. An diesem Mädchen darf sich jeder vergreifen, fast umsonst, heißt das, und diese hitzige, energetisch überdrehte, rumpelstilzchenhaft ausagierte, sehr laute, sehr brutale Einführung steht in keinem Widerspruch zur Eiseskälte, die sich jetzt doch breit macht. Das ist das Thalheimersche Stilprinzip, der ja gerne die Klassiker auf ihren "heißen Kern" reduziert, aber mit Theatermitteln, die Distanz herstellen bis zur Gefühllosigkeit.

    Gestern Abend war das Prinzip der Verknappung vor allem eines der Ver-Schreiung, und so wurde auch Hauptmanns Text im aggressiven Schnelldurchlauf von knapp 80 Minuten exekutiert. Männer unter Druck schreien eben, bis sie rote Köpfe kriegen. Manchmal werden sie auch handgreiflich und beißen einander Hannibal-Lector-mäßig ein Auge aus. Das beruhigt für kurze Zeit. Dass hier einfache Gleichungen aus der Frühzeit der menschlichen Sozialisation aufgemacht werden, beweisen Papiertüten, die die ansonsten mit Bundhosen und Gummistiefeln, mit Strickwesten und verknautschten Sonntagsanzügen ausgestatteten Figuren immer wieder überziehen, an denen Fell klebt oder Federn. Personal mit dem Instinkt von Stallbewohnern, die einen Dialekt sprechen, den es heute praktisch nicht mehr gibt. Nur Katrin Wichmanns Rose Bernd darf leisere Töne produzieren, als gehetztes Tier oder wie sprachlos vor Verzweiflung:

    Was macht aus diesen Exoten Teil unserer Wirklichkeit? Thalheimer sieht im Egoismus aller Beteiligten die Hauptursache für die Katastrophe. Und natürlich muss man die "Rose Bernd" nicht als eine naturalistisch geerdete Passionsgeschichte inszenieren. Man könnte das Stück aber beispielsweise nach Mustern für ganz aktuelle Fälle von Kindstötung befragen. Mit seiner symbolistisch überhöhten Depravationsthese greift der Regisseur sehr kurz. Einseitiges Überwältigungstheater spricht auch beim Zuschauer bekanntlich eher die Stammhirn-Regionen an. Premierenapplaus wie nach einem guten Fight auf dem Dorfplatz.