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Hinter der undurchschaubaren Maske

Maurice Ravel, der Komponist des "Bolero", ist eine rätselhafte Figur. Sein schmales Werk hat die Musikwissenschaft von A bis Z durchanalysiert, doch über ihn selbst weiß man nicht viel. Jean Echenoz nähert sich dem kleinen Mann, der seine Lackschuhe mehr achtete als schöne Frauen, in einem kurzen Roman.

Von Richard Schroetter | 06.06.2007
    Gute Schriftsteller erkennt man daran, dass sie instinktiv zu den richtigen Stoffen greifen, die sie zum Sprechen bringen. Schlechtere, dass sie sich mit Feuer und Flamme auf sensationelle angeblich wichtige Themen stürzen, über die sie nichts Wesentliches zu erzählen haben. Guten Schriftstellern reicht oft ein kurzer Lebens-Ausschnitt (z. B. Joyce Ulysses), schlechte entfalten vor unseren Augen gleich große Panoramen und Epochen. Zu den ersteren, über die letzteren wollen wir nicht weiter reden, zählt zweifellos Jean Echenoz, der einen kleinen biographischen Roman über die letzten zehn Jahre des Komponisten Maurice Ravel geschrieben hat.

    Der Komponist des "Bolero" ist eine rätselhafte Figur, eine Art Phantom, über das man endlos spekulieren kann. Seine Biographie besteht aus schwarzen Löchern. Sein schmales Werk hat die Musikwissenschaft von A bis Z durchanalysiert, doch über ihn selbst weiß man nicht viel. Wahrscheinlich würde man über diesen kleinen Mann, der seine Lackschuhe mehr achtete als schöne Frauen, nur mitleidig lächeln, hätte er nicht die Musikgeschichte des 20. Jahrhundert mitgeprägt. Ravels Aura beruht sicher auch auf dieser kognitiven Dissonanz.

    Der Roman beginnt mit den letzten Vorbereitungen zu einer USA-Tournee. Ravel befindet sich auf dem Gipfel des Ruhms. Er ist zweiundfünfzig, eine introvertierte, dandyhafte Erscheinung wie aus einem Film noir.

    "Sein spitzes, sorgsam rasiertes Gesicht bildet mit der langen, dünnen Nase zwei übereinander liegende Dreiecke. Schwarzer lebhafter, misstrauischer Blick, üppige Augenbrauen, nach hinten geklatschte, eine hohe Stirn, bloßlegende Haare, dünne Lippen, abstehende Ohren mit angewachsenen Ohrläppchen, matter Teint. Von distanzierter Eleganz, freundlicher Schlichtheit, eiskalter Höflichkeit und nicht unbedingt gesprächig, ist er ein Mann mit Chic und hält sich zurück, und er ist wie aus dem Ei gepellt, vierundzwanzig Stunden am Tag."

    Hinter dieser undurchschaubaren Maske verbirgt sich der Komponist, der die Pavane, Gaspard de la Nuit, La Valse und den Bolero schrieb, eines der erfolgreichsten Stücke der klassischen Moderne, ein Stück, von dem Ravel selbst ironisch gesagt hat, es sei keine Musik. Und auch das verbirgt der markante Kopf, eine seltene Krankheit, die ebenso konsequent u. martialisch wie der Bolero vorschreitet, der mit seinem bohrenden, leise einsetzenden Rhythmus, ohne eine Sekunde still zu stehen, monoman den Raum ergreift, und mit einem explosiven Crescendo endet. In diesem genialen Hirn wird es langsam immer dunkler. Dieses schleichende Prozess, der sich in aller Stille vollzieht, ist das eigentliche Drama, das Echenoz ohne pathetische Kommentierung (mit Flaubertscher Akkuratesse) diskret erzählt. Es beginnt unauffällig mit kleinen Fehlhandlungen und Gedächtnislücken. Doch von Tag zu Tag steigert sich die Symptomatik:
    "er vergisst alles: seine Termine, seine Lackschuhe, sein Gepäck, seine Uhr, seine Schlüssel, seinen Pass, die Post in seiner Tasche. "

    auch seinen Namen. Die Fotos der Autogrammjäger würde er sofort signieren, wüsste er nur, wie er heißt und wie die Buchstaben lauten. Er vergisst auch seine eigene Musik. Spielt man sie ihm vor, sagt er nur mit tonloser Stimme, als wüsste er nicht genau, was man von ihm will: ja, ja. Ovationen, die ihm gelten, nimmt er fassungslos hin, als habe er sich verhört. Einfache Bewegungen misslingen ihm plötzlich.

    " "Er sieht genau, dass seine Bewegungen ihr Ziel verfehlen, dass er ein Messer bei der Klinge greift, dass er dass glimmende Ende der Zigarette auf seine Lippen zuführt .... All da das beobachtet er klar, Opfer seines Verfalls und aufmerksamer Beobachter zugleich, lebendig begraben in einem Körper, der seiner Intelligenz nicht mehr folgt, er sieht zu, wie er von einem Fremden bewohnt wird."

    Ravel ist mutterseelenallein. Sein Genie hatte ihn schon immer von den Menschen getrennt. Doch nun kommt die tückische Erkrankung hinzu. Keine höhere Artistik, nicht die künstlichen Paradiese der Musik, keine hilfreichen Frauen, auch nicht sein Weltruhm helfen ihm weiter. Rettung erhofft sich der als Perfektionist bekannte Ravel von einigen Koryphäen der Medizin und ihren Präzsionsinstrumenten. Heroisch unterzieht er sich einer gewagten Operation:

    "Mit bloßen Händen sägt man ihm den Schädel auf, um das rechte Stirnbein zu isolieren und zu entfernen, dann wird die Dura Mater geöffnet. .. Man kann keinen Tumor entdecken und punktiert daher, um etwas Flüssigkeit abzunehmen, den Seitenventrikel, wobei dieser nur hervortritt, wenn man den untersuchen Bereich zusammendrückt. Mehrmals wird in der Hoffnung auf Erweiterung etwas Wasser injiziert: Das Gehirn schwillt an, fällt aber sofort wieder zusammen, der Hirnschwund scheint irreversibel, kurz, man kommt nicht weiter."

    Als der berühmte Patient nach der Operation erwacht, glauben seine Ärzte, er "sei aus dem Schneider". 10 Tage später ist er tot. Dieses vorgezogene Ende erscheint rückblickend wie eine Hinrichtung - als ein sinnloses Opfer an den technischen Fortschritt und die medizinische Kunst.

    Wie Büchner aus dem Dichter Lenz eine Symbolfigur (und Fallgeschichte) für die schwindelerregenden Höhenflüge einiger von der französischen Revolution enthusiasmierten Idealisten machte, die nur abstürzen konnten, so steht für Echenoz Ravels Schicksal symbolisch für das plötzliche Vergreisen der Zeit, für das alte feingemachte Europa mit seiner musealen Hochkultur, das nur noch Fassade ist. Wie Büchner hat Echenoz Briefe, Aufzeichnungen und Anekdoten geschickt ausgewertet, wortwörtlich übernommen und in fortlaufende Prosa umgemünzt. Aus dem existierenden Datensatz "Maurice Ravel" sollte so eine autonome Kunstfigur entstehen, die zwar Ravel heißt, aber sonst ein(e) anderer ist. Doch das ist nahezu unmöglich, denn Ravels Name funktioniert wie ein Markenzeichen und erzeugt sofort ein Echo, das (gleichsam eine Rückkopplungsschleife) auf den Komponisten des Boleros hinweist. Aus dieser Zwickmühle ist Echenoz nicht herausgekommen. Aber wahrscheinlich besteht der Reiz dieser biographischen Erzählung gerade in der kunstvollen Simulierung einer Fiktion.

    Hinrich Schmidt-Henkel hat Echenoz Roman betont salopp "umgangssprachlich " übersetzt. Die unbarmherzige Schärfe des Faktischen (Echenoz beruft sich bekanntlich auf Flaubert, von dem es heißt, er führe die Feder wie ein Skalpell) wird so allerdings abgemildert.

    Jean Echenoz: "Ravel"
    Berlin Verlag