Samstag, 20. April 2024

Äthiopien
Der Krieg in der Region Tigray

Nach zwei Jahren Krieg um die Region Tigray hat es in Äthiopien offenbar einen Durchbruch bei Friedensgesprächen gegeben. Die Kriegsparteien haben sich auf eine sofortige Waffenruhe geeinigt. Der Konflikt gilt als einer der brutalsten und tödlichsten weltweit.

11.12.2022
    Ein Kämpfer der Amhara Special Forces auf seinem Posten in Dansha, Äthiopien
    Der Krieg in Äthiopien hat Berichten zufolge bislang eine halbe Million Tote gefordert (AFP/Eduardo Soteras)
    Der Krieg in Äthiopien begann Anfang November 2020. Fast genau zwei Jahre später kam es zu einer Einigung, die Beobachter in Südafrika als Anfang eines Friedensprozesses werten. Mehr als eine Woche lang hatten die Parteien mit Vertretern der Vereinten Nationen, der USA und der ostafrikanischen Staatengemeinschaft verhandelt. Zustande gekommen waren die Gespräche mit Hilfe der Afrikanischen Union, vermittelt hatte der frühere Präsident von Nigeria, Olusegun Obasanjo. Für Tigray soll demnach wieder die äthiopische Verfassung gelten.
    Mit dem Abkommen von Anfang November 2022 ist es möglich, dass wieder humanitäre Hilfe nach Tigray kommt, die Region im Norden Äthiopiens, die seit zwei Jahren umkämpft ist. Menschenrechtsorganisationen berichteten über massive Kriegsverbrechen. Beobachter der Vereinten Nationen gehen von mehr als einer halben Million Toten seit Kriegsbeginn aus. Das Ausmaß der Zerstörung sei immens, sagte ein Vertreter der äthiopischen Regierung. Der Konflikt ist nach Angaben des Forschungsinstituts International Crisis Group (ICG) "einer der tödlichsten weltweit".

    Was ist der Hintergrund des Konflikts?

    Hintergrund war ein Streit um die Macht zwischen der Zentralregierung unter Premierminister und Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed und der lange in Tigray regierenden Tigray Defense Forces (TPLF), die versuchen, die Kontrolle über die Region zu behalten. Die Regierungstruppen wurden aktiv aus dem Nachbarland Eritrea und von ethnischen Milizen, vor allem aus der Amhara-Region in Äthiopien, unterstützt. Der Krieg weitete sich mit der Zeit auf weitere Regionen des Landes aus und führte zu einer humanitären Katastrophe.
    Ulf Terlinden, der Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Nairobi, erläuterte vor Beginn der Friedensgespräche im Dlf: "Man muss sich die Kämpfe im Wesentlichen wie im Ersten Weltkrieg vorstellen: sehr viel Infanterie, Zehntausende Kämpfer mit Kleinwaffen, sehr hohe Verlustraten, bis zu 40 Prozent pro Schlacht".
    Äthiopien ist mit rund 110 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern der bevölkerungsreichste Binnenstaat der Welt. Mehr als 100 verschiedene Ethnien machen Äthiopien außerdem zum Vielvölkerstaat. Neben der Landessprache Amharisch gibt es mehr als 70 anerkannte Regionalsprachen. Das Land zählt zu den einflussreichsten in Afrika und liegt zudem in einer der strategisch wichtigsten Regionen der Welt - dem Horn von Afrika. Nicht zuletzt das macht die bewaffnete Auseinandersetzung in der nördlichen Region Tigray in den Augen vieler Beobachter so gefährlich.

    Keine Stabilität durch Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed

    Mit dem 43-Jährigen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed, der seit April 2018 regiert, waren zunächst große Hoffnungen verknüpft - sowohl im Land selbst als auch international. 2019 war Abiy wegen seiner Reformbemühungen und seines Einsatzes zur Lösung des Grenzkonflikts zwischen Eritrea und Äthiopien mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.
    In Äthiopien waren nicht alle mit dem Reformkurs von Abiy Ahmed einverstanden, insbesondere Gruppen und Bevölkerungsteile, die in Folge der Politik des Ministerpräsidenten Einfluss und Macht verloren - dazu zählen auch die Eliten der Tigray, einer Volksgruppe, die in der gleichnamigen Region beheimatet ist. Die TPLF dominierte 28 Jahre lang die Politik Äthiopiens, fühlte sich nach der Amtsübernahme von Abiy aber zunehmend marginalisiert.
    Von der Ernennung Abiys zum Ministerpräsidenten im Frühjahr 2018 erhoffte sich die in Addis Abeba regierende Koalition, der auch die TPLF angehörte, die damals seit Monaten anhaltenden Massenproteste zu beruhigen. Abiy brachte zügig Reformen auf den Weg, deren Konsequenz selbst seine Kritiker überraschte. Sein Kurs stieß international auf großes Wohlwollen.
    Abiy Ahmed Ali leistet den Amtseid
    Auf dem Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed Ali ruhten die Hoffnungen in Äthiopien (picture alliance / AA / Minasse Wondimu Hailu)
    Der neue Regierungschef forcierte die politische Öffnung des mitunter repressiven Systems, hob den geltenden Ausnahmezustand auf, ging gegen Korruption vor und entließ politische Gefangene. Große Teile der Bevölkerung, nicht zuletzt ethnische Minderheiten, konnten sich über neue Freiheiten freuen. Die zuvor mächtige TPLF dagegen verlor an Einfluss, Abiy drängte führende TPLF-Funktionäre aus der Regierung. 2019 zog sich die TPLF schließlich aus der Regierungskoalition zurück.
    Danach verschärften sich die Spannungen zwischen der in Tigray weiter regierenden Volksbefreiungsfront und der Zentralregierung. Als diese die anstehenden Parlamentswahlen im Sommer wegen der Corona-Pandemie verschob, kritisierte die TPLF dies als illegal. Zugleich organisierte sie im September in Tigray eine Kommunalwahl, die wiederum von Addis Abeba als illegal bezeichnet wurde. Die TPLF erklärte sich zum Sieger der Kommunalwahl und entzog darauf der Bundesregierung die rechtliche Zuständigkeit für die Region Tigray. Daraufhin ließ Abiy zunächst finanzielle Mittel zum Nachteil der TPLF umleiten. Anfang November 2020 eskalierte der Konflikt militärisch. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, mit den Kampfhandlungen begonnen zu haben.
    Am 28. November 2020 startete das äthiopische Militär eine Offensive auf die Regionalhauptstadt Mek’ele in Tigray - und diese unter die Kontrolle der Zentralregierung gebracht. Dann schlugen die Rebellen zurück und marschierten bis 200 Kilometer vor die Hauptstadt Addis Abeba. Zuletzt gelang es Äthiopiens Armee, in einer Offensive etliche Städte im Norden zu erobern. Im Frühjahr 2022 hatte es kurzzeitig einen humanitären Waffenstillstand gegeben, der allerdings nicht lange währte.

    Was sollen die Friedensgespräche bewirken?

    Ziel der in Südafrika abgehaltenen Friedensgespräche war es, eine "anhaltende politische Lösung" zu finden und zu einem "vereinten" und "stabilen" Äthiopien beizutragen, teilte die Kommission der Afrikanischen Union (AU) mit. Die Bürgerkriegsgegner unterzeichneten schließlich am 2. November 2022 ein Friedensabkommen. Dieses sieht die "Beendigung der Feindseligkeiten", eine Aufhebung der Blockade der Tigray-Provinz und die Wiederaufnahme humanitärer Lieferungen vor.
    Daneben soll "systematisch, geordnet und koordiniert" abgerüstet werden, wie der Vermittler der Afrikanischen Union (AU), Nigerias Ex-Präsident Olusegun Obasanjo, mitteilte. Er erhoffe sich einen "Neuanfang" für die kriegsgebeutete Nation. Trotz Optimismus äußerten manche Beobachter Skepsis. Erst im August war ein Waffenstillstand nach fünfmonatiger Kampfpause gebrochen worden. Ungeklärt bleibt zunächst auch, ob das Nachbarland Eritrea seine Truppen aus Tigray zurückziehen wird.
    Politologe Terlinden hatte vor den Friedensgesprächen im Dlf die Waffenruhe als erstes Ziel ausgegeben. Er erwartet "komplexe Verhandlungen" nach der Einigung, in der die Wiederaufnahme der humanitären Hilfe an erster Stelle stehen müsse. "Die Frage ist nur, wie das sozusagen mit den typischen Sicherheitsinteressen organisiert werden kann, dass beide Seiten das bekommen, was sie daraus brauchen. Grundsätzlich gibt es Formeln, in die dieser Konflikt überführt werden kann, wenn denn die Vermittler sehr konzentriert daran arbeiten."
    Der Druck auf die AU sei erst in den vergangenen Wochen entstanden, vorher habe sich die Union nicht gerade mit Ruhm bekleckert, so Terlinden. "Der Sitz ihrer Zentrale in der äthiopischen Hauptstadt hat die Organisation von Anfang an gelähmt." Mit der Erweiterung des Verhandlungsteams sei auch der externe Druck auf die Kriegsparteien gestiegen.
    Das Waffenstillstandsabkommen vom 2. November sei ein wichtiger Schritt hin zu Frieden in Äthiopien, sagt Politikwissenschaftler Gerrit Kurtz von der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Er bilanziert: „Noch gibt es diesen Frieden nicht. Es gibt zwar keine Gewalt mehr zwischen den beiden Konfliktparteien, die dieses Abkommen unterzeichnet haben – der Volksbefreiungsfront von Tigray, den Rebellen, und der äthiopischen Regierung – aber es gibt weiter Gewalt in Tigray durch die eriträischen Truppen, die dort sind, als auch in anderen Teilen Äthiopiens, in anderen Konflikten, die nur am Rande etwas mit dem Konflikt in Tigray zu tun haben.“
    Im Fall von Äthiopien sei die Rolle der USA bei dem Anfang November in Pretoria geschlossenen Friedensabkommen positiv, eine "relative Sternstunde für die amerikanische Diplomatie", so Kurtz, im Vergleich zu ihrer Rolle in anderen Friedensverhandlungen beispielsweise im Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea. Weitere Gespräche werden auf dem "Afrika-Gipfel" mit den Staats- und Regierungschefs vom 13. bis zum 15.12.2022 auf Einladung von US-Präsident Joe Biden in Washington erwartet.

    Wie ist die humanitäre Situation?

    Die humanitäre Lage in Tigray ist nach der jahrelangen Blockade durch die Regierung in Addis Abeba verheerend. Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge haben rund 89 Prozent der gut sieben Millionen Einwohner in Tigray keinen ausreichenden Zugang zu Nahrungsmitteln. Fast jedes dritte Kind in der Region leide an Unterernährung.
    Seit zwei Jahren ist Tigray unter anderem von Bankenverkehr, Stromversorgung, Medikamentenlieferungen, Kommunikation und Medienzugang abgeschnitten. Die Gewalt sowie bürokratische Hürden der Zentralregierung und der regionalen Behörden behinderten die humanitäre Hilfe, die nach den Friedensverhandlungen wieder aufgenommen werden soll.
    Zudem mangelt es nach UN-Angaben an Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung. Die Menschen litten an Unterernährung und Krankheiten. Die UN und Hilfsorganisationen hätten nur in einige Gebiete Tigrays humanitäre Güter liefern können. Die Zahl der erreichten Menschen sei jedoch sehr gering.
    Aktuell seien etwa fünf Millionen Menschen auf Hilfe von außen angewiesen, sagte Unicef-Sprecher Rudi Tarneden im Deutschlandfunk. Viele Kinder würden sterben, wenn nicht bald gehandelt werde. Die Kriegsparteien legten eine ungeheure Rücksichtslosigkeit gegen Zivilbevölkerung und Helfende an den Tag, erklärte Tarneden weiter. So seien zuletzt Brücken, Gesundheitsstationen und Einrichtungen für die Wasserversorgung zerstört worden.
    Flüchtlinge, die vor den Kämpfen in der äthiopischen Region Tigray geflohen sind, am Ufer eines Flusses zum Sudan
    Flüchtlinge, die vor den Kämpfen in der äthiopischen Region Tigray geflohen sind, am Ufer eines Flusses zum Sudan (AFP/Ashraf Shazly)
    Amnesty International (AI) und andere Organisationen haben außerdem eine Reihe schwerer Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, darunter Kriegsverbrechen und möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Außerdem gibt es laut AI zahlreiche glaubwürdige Berichte über Frauen und Mädchen, die sexueller Gewalt ausgesetzt waren - einschließlich Gruppenvergewaltigungen durch äthiopische und eritreische Soldaten.
    Da die Region Tigray seit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen überwiegend von allen Kommunikationswegen abgeschnitten ist, sind Aussagen der Konfliktparteien nicht durch unabhängige Quellen überprüfbar.

    Wäre eine militärische Lösung für den Konflikt möglich gewesen?

    Mit einer militärischen Lösung im Sinne eines einseitigen Siegfriedens sei nicht zu rechnen gewesen, erklärte Politologe Terlinden vor Beginn der Friedensgespräche im Dlf. "Das hat dieser Krieg mehrfach gezeigt und das zeigen auch viele andere Kriege. Aber die Erkenntnis allein führt natürlich nicht zu einem Ausstieg aus der militärischen Logik."
    Während des ersten fünfmonatigen Waffenstillstands vor dem neuerlichen Aufflammen der Kämpfe sei es nicht gelungen, diesen in einen formalen Verhandlungsprozess zu überführen. "Dahinter stand die Uneinigkeit über die Voraussetzungen für die Verhandlungen, aber auch Zweifel an der Vermittlung der Afrikanischen Union", so Terlinden.
    Quellen: Jana Genth, dpa, kna, epd, og