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Hirnforschung
Nervenzellen als Individuen

Bisher galt unter Forschern die Meinung: Eine einzelne Nervenzelle im Gehirn ist dumm, zusammen bilden sie ein hoch komplexes, intelligentes Netzwerk. Diese Ansicht hat jetzt ein Team von kalifornischen Wissenschaftlern widerlegt. Sie kommen im aktuellen "Science"-Magazin zu dem Schluss: Jede Nervenzelle agiert wie ein Individuum.

Von Michael Lange | 24.06.2016
    Computergrafik des menschlichen Gehirns
    Computergrafik des menschlichen Gehirns (imago stock&people/Roger Harris/Science Photo Library)
    Für den Neurowissenschaftler Jerold Chun am Scripps Research Institute in La Jolla, Kalifornien, beginnt die Arbeit mit gefrorenem Gewebe aus einer Gehirnbank. Es stammt von verstorbenen Spendern. Daraus isoliert er die Zellkerne: zunächst mit einer Zentrifuge, dann mit einem Automaten zur Zellsortierung und speziellen Antikörpern.
    In den Zellkernen ist die genetische Information als DNA abgespeichert und wird dann als RNA abgeschrieben. Jerold Chun geht es um diese Abschriften, die RNA--Transkripte. Jetzt ist es ihm und seinem Team erstmals gelungen, die Gesamtheit der RNA aus einzelnen Zellkernen in speziellen Biochips zu untersuchen.
    "Ein Biochip besteht aus winzigen Leitungen, wie Rohre in einem Haus, nur eben mikroskopisch klein. Wir geben einzelne Zellkerne hinein und analysieren deren RNA."
    Bio-Ingenieure von der Universität von Kalifornien San Diego haben die Biochips entwickelt, und Bioinformatiker halfen bei der Auswertung der Daten.
    Die Neurowissenschaftler am Scripps Research Institute wählten Nervenzellen aus verschiedenen Regionen der Hirnrinde aus. Und die Untersuchung der RNA dieser Zellen lieferte ihnen eindeutige Ergebnisse, freut sich Jerold Chun.
    "Wir konnten die Nervenzellen in verschiedene Gruppen einteilen. Dabei fanden wir nicht nur – wie erwartet – Unterschiede zwischen aktivierenden und hemmenden Nervenzellen, sondern auch noch zweimal acht Untergruppen. In den insgesamt 16 Gruppen waren jeweils andere Gene aktiv."
    RNA-Transkript als Arbeitsprotokoll
    Die RNA-Transkripte liefern den Forschern gewissermaßen die Arbeitsprotokolle der Nervenzellen. Sie sagen ihnen, welche Aktivitäten diese Zellen zuletzt durchgeführt haben. Welche Gene waren aktiv?
    Der Vergleich verschiedener Gehirnregionen zeigte den Forschern, dass die genetische Aktivität einer Zelle der jeweiligen Aufgabe im Gehirn angepasst ist. Je genauer sie hinschauten, umso vielschichtiger wurde das Bild.
    "Als wir die Aktivität der einzelnen Gene untersuchten, entdeckten wir immer mehr Unterschiede zwischen den Nervenzellen – sowohl zwischen den 16 Untergruppen als auch innerhalb dieser Gruppen. Wir sahen ein Universum an Vielfalt, das wir jetzt verstehen müssen."
    Handeln, wie ein Individuum
    Jerold Chun vermutet, dass jede Zelle im Gehirn ihr besonderes Profil besitzt. Sie handelt wie ein Individuum im Verbund mit anderen Individuen. Und möglicherweise ist nicht nur die RNA individuell, sondern auch die Erbinformation selbst, die DNA.
    "Die einzelnen Nervenzellen unterscheiden sich wahrscheinlich auch genetisch. Möglicherweise sind die Unterschiede bei der RNA, die wir jetzt gefunden haben, auf Unterschiede bei der DNA zurückzuführen.
    Wir würden das nur zu gerne verstehen. Denn es erklärt uns, wie das Gehirn arbeitet und wie Krankheiten entstehen."
    Mehr Blick für das Detail erforderlich
    Für Jerold Chun steht fest: Der Blick der bildgebenden Verfahren auf das Gehirn als Ganzes reicht oft nicht aus. Aber jetzt ist es möglich, jede einzelne der 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn zu untersuchen.