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Hirnrinde gewinnt Bedeutung: Das Gedächtnis zieht um

Wie ein Mensch Erlebtes abspeichert, beeinflusst stark, was ihn als Individuum ausmacht. Seit Jahrzehnten glaubte man zu wissen, dass diese Aufgabe eine Region im Zentrum des Gehirns übernimmt: der Hippocampus. Doch was heute als Standardwissen in Lehrbüchern steht, scheint nicht ganz zu stimmen.

Von Martina Preiner | 02.09.2013
    Einer der Meilensteine der Gedächtnisforschung war die Fallstudie eines Patienten namens Henry Molaison in den 1950er-Jahren. Um ihn von seiner Epilepsie zu heilen, wurde ihm ein großer Teil einer Hirnregion namens 'Hippocampus' entfernt. Nach der Operation war der junge Mann nicht mehr dazu in der Lage, etwas Neues zu lernen. Daraus schlossen die Wissenschaftler, dass im Hippocampus Gelerntes gespeichert wird, also dass der Hippocampus der Sitz des Gedächtnisses ist. Dass eventuell auch andere Teile des Gehirns durch den Eingriff versehentlich entfernt oder verletzt wurden, ignorierte man damals.
    Mazahir Hasan von der Charité in Berlin. Seit Beginn seiner Forscherkarriere fasziniert den Biochemiker und Neurowissenschaftler das Gedächtnis. Genauer gesagt: wo es sitzt.

    Dabei scheint das Rätsel schon seit Jahrzehnten gelöst: Das Gedächtnis sitzt im Hippocampus, einem zentral liegenden Teil des Gehirns, der seinen Namen seiner Form verdankt; aus der Hirnmasse isoliert gleicht er einem Seepferdchen, lateinisch Hippocampus. Nach den Studien an Henry Molaison folgten viele weitere Versuche, die die These unterstützten – sowohl auf zellulärer als auch organischer Ebene. In den 1980er-Jahren entdeckte man die für den Lernprozess äußerst wichtigen NMDA-Rezeptoren, welche sich im Gehirn maßgeblich im Verbindungsstück zwischen zwei Nervenzellen befinden – in der Synapse.

    "Diese Rezeptoren funktionieren nur dann, wenn beide Nervenzellen zwar unabhängig voneinander, aber gleichzeitig aktiviert werden. Der Rezeptor sorgt dann dafür, dass die Verbindung zwischen den beiden Nervenzellen gestärkt wird. Er wird auch "Zufallsdetektor" genannt. Er spielt deshalb eine wichtige Rolle im Lern- und Speicherungsprozess, da er unterschiedliche Reize miteinander verbinden und somit neue Erinnerungen schaffen kann."

    Blockierte man die Rezeptoren in Versuchsmäusen mit den passenden Wirkstoffen, war der Lernprozess der Tiere unterbrochen. Allerdings war diese Blockade nicht sonderlich spezifisch – selbst wenn der Wirkstoff direkt in den Hippocampus gespritzt wurde, konnte er sehr leicht in andere Bereiche des Gehirns diffundieren.

    Seine Postdoktorandenzeit verbrachte Mazahir Hasan im Labor des Nobelpreisträgers Susumu Tonegawa. Tonegawa schaffte es 1996 als erster, Mäuse genetisch so zu manipulieren, dass sie nur im Hippocampus keine NMDA-Rezeptoren bilden konnten. Man war somit das Problem mit den diffundierenden Wirkstoffen los. Und auch Tonegawas Versuche wiesen zunächst unmissverständlich darauf hin, dass das Gedächtnis im Hippocampus liegt.

    "Es hatte alles Sinn! Dieses Wissen wurde in die Lehrbücher übertragen und das auch zu Recht!"

    Doch einige Jahre später stellten die Forscher fest, dass der Mangel an Rezeptoren sich bei ihren Versuchen auch auf die Hirnrinde, den Kortex, ausgebreitet hatte. Es bestand also die Möglichkeit, dass das Gedächtnis im Kortex, nicht im Hippocampus sitzt. Erst vergangenes Jahr konnten Kollegen von Mazahir Hasan – damals noch am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg – erstmals einen Maustypen kreieren, in dem die Rezeptoren wirklich nur im Hippocampus fehlten. Und tatsächlich: Diese Mäuse waren lernfähig, konnten also Erinnerungen formen.

    "Meine Kollegen Peter Seeburg und Rolf Sprengel lieferten den bis dato überzeugendsten Beweis dafür, dass der Hippocampus nicht die Hirnregion ist, in der Erinnerungen entstehen und gespeichert werden."

    Doch wo diese Erinnerungen genau geformt wurden, dafür gab es keine Beweise. Nur die Vermutung, dass es sich um den Kortex handeln könnte. Mithilfe eines klassischen Konditionierungsexperimentes ging Mazahir Hasan zusammen mit einem spanischen Kollegen dieser Vermutung nach. Den Versuchsmäusen wird zunächst ein Ton vorgespielt, darauf hin folgt eine elektrische Stimulation des Augenlides – die Mäuse schließen das Auge. Mit dem genetischen Werkzeug der Heidelberger Kollegen wurden die NMDA-Rezeptoren diesmal im Kortex reduziert. Nach einer gewissen Lernphase hatten Mäuse mit normaler Rezeptorendichte den Ton mit der Lidstimulation verknüpft – sie schlossen das Auge auch dann, wenn nur der Ton zu hören war. Die Mäuse ohne NMDA-Rezeptoren im Kortex konnten eine derartige Verbindung nicht herstellen und hielten das Auge – obwohl ihnen der Ton vorgespielt wurde – offen. Für die Wissenschaftler ein klares Zeichen: Erinnerungen werden im Kortex geformt, nicht im Hippocampus.

    "Unsere Hypothese ist derzeit, dass der Hippocampus als eine Art Detektor fungiert, der Informationen sammelt und bewertet. Diese leitet er dann an den Kortex weiter, erst hier werden die Informationen miteinander in Verbindung gebracht. Die Nervenzellen im Hippocampus sind wie Klaviertasten, sie produzieren einzelne Töne – aber die Sinfonie, die entsteht im Kortex."

    Die Wissenschaftler um Hasan wollen nun untersuchen, wie diese Sinfonie komponiert wird – also wo genau im Kortex Erinnerungen angelegt werden und wie der Hippocampus dabei hilft.