Freitag, 29. März 2024

Archiv

Historiker Kiran Klaus Patel
"Der Brexit könnte uns zeigen, was auf dem Spiel steht"

Die EU sei kein Abstraktum, sondern ein Verbund von Mitgliedsstaaten, zu denen Großbritannien 40 Jahre gehört habe, sagte der Historiker Kiran Klaus Patel im DLF. Es habe seine Rolle dazu beigetragen, dass manches in der EU nicht besser dastehe. Doch man sei dem Erfolgsnarrativ der EU auch zu unkritisch gefolgt. Der Brexit zeige, dass man um wichtige Errungenschaften kämpfen müsse.

Kiran Klaus Patel im Gespräch mit Michael Köhler | 26.06.2016
    Die britische Flagge klebt an einer Autoscheibe mit Regentropfen
    Nationale Souveränität ist durch die Verflechtung zwischen den europäischen Gesellschaften im 21. Jahrhundert so nicht mehr möglich (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
    Michael Köhler: Kiran Klaus Patel ist Professor für europäische und globale Geschichte an der Universität Maastricht in den Niederlanden und hatte 2014/15 die Gerda-Henkel-Gastprofessur in London inne. Ich habe ihn zuerst gefragt: Was ist der Preis für den Souveränitätsgewinn der Briten?
    Kiran Klaus Patel: Der Preis ist, glaube ich, sehr hoch, und der Preis liegt auch darin, dass wir eigentlich gar nicht genau wissen, was die Brexitiers, das Lager, das für den Austritt aus der Europäischen Union plädiert hat, was die eigentlich haben wollen. Es ging immer um Souveränitätsgewinn und das stand auf allen Mottos und Plakaten drauf, aber es ist auch klar, dass man jetzt neu verhandeln muss, die eigene Lage, nicht nur ökonomisch, sondern auch in politischer und weiterer Hinsicht, in Bezug auf die Europäische Union und andere Staaten.
    Und ich glaube, das Erste, was die Briten machen müssen ist, sich zu fragen, wie sie ihr Verhältnis zur dann eben außenstehenden Europäischen Union neu bestimmen wollen, und ein Problem ist wirklich, dass das Remain-Lager es nie geschafft hat, die Brexitiers zu stellen, wie sich das eigentlich genau darstellen soll, ob man eine Art Freihandelszone haben möchte, wie das die Schweizer haben, ob man weitergehen möchte wie etwa die Norweger im Rahmen des europäischen Wirtschaftsraumes, ob man sehr viel weiter wegtreten möchte. Das wird, glaube ich, jetzt die ganz schwierige Frage für Großbritannien und auch die Frage natürlich, die für die verbleibenden europäischen Staaten schwierig zu entscheiden sein wird, weil es auch da einen wichtigen Zielkonflikt gibt.
    Köhler: Sie haben es, wenn ich das richtig erinnere, ja auch mal in einem Beitrag für die "Zürcher Zeitung" gesagt: Ein EU-Austritt heißt ja nicht Ende der Kooperation.
    Patel: So ist es.
    Köhler: Die Verflechtungen bleiben.
    Patel: Ja.
    Köhler: Wir müssen jetzt nicht die ökonomischen Nachteile alle auflisten, das ist ja schon getan worden. Erliegt das Vereinigte Königreich da vielleicht so ein bisschen dem, was man in den sogenannten postklassischen Nationalstaaten die Illusion vom Souveränitätsgewinn nennen könnte?
    "Illusion, wieder in voller nationaler Souveränität agieren zu können"
    Patel: Meines Erachtens ist das sehr stark der Fall. Es gibt diese Illusion, dass man wirklich a la 19. Jahrhundert in voller nationaler Souveränität wieder agieren könnte, und das ist durch den hohen Grad an Verflechtung zwischen den europäischen Gesellschaften und Ökonomien im 21. Jahrhundert in der Form gar nicht mehr möglich. Es gibt zwei Fälle von Gesellschaften, die aus der europäischen Zusammenarbeit (ich sage nicht Europäischen Union, weil das in der Phase davor liegt) ausgetreten sind. Da ist einmal der Fall von Algerien 1962, zum zweiten von Grönland 1985. Das erste, was diese beiden Staaten, als sie dann wirklich mehr Rechte hatten, das zu tun, weil Algerien davor eine Kolonie gewesen war von Frankreich, …
    Köhler: Algerien von Frankreich und Grönland von Dänemark.
    Patel: … von Dänemark. - Aber was die als Erstes taten war zu versuchen, enge Bindungen wiederum mit der damaligen Europäischen Gemeinschaft zu verhandeln, weil sie sahen, dass durch die gewachsenen Wirtschaftsbindungen es gar nicht anders möglich für sie war ökonomisch.
    Köhler: Aber die europäische Einigung ist doch kein Automatismus der Vertiefung. Das konnte man ja auch schon da sehen, wo Sie sich gut auskennen, in der EWG.
    Patel: Dem Erfolgsnarrativ zu unkritisch gefolgt
    Patel: Richtig! Das zeigt sich gerade daran, dass dieses Austreten, diese Desintegration, wenn Sie so wollen, keineswegs erstmalig erfolgt, sondern dass es das immer wieder gegeben hat. Im Grunde ist es ein Problem auch der Europaforschung, dass man diese Dimension immer zu wenig gesehen hat und, wenn man so will, dem Erfolgsnarrativ, das die Institution auch selbst stark verbreitet hat, zu unkritisch gefolgt ist.
    Köhler: Lassen Sie uns versuchen, mal ein bisschen darüber nachzudenken. Man hat das in diesen Tagen natürlich schon viel gehört. Man fragt sich, was kommt als Nächstes, der Zerfall des Vereinigten Königreiches, ein sogenannter Nexit, das die Niederlande vorantreiben, ein Frexit, dass die Franzosen weitermachen, die Slowaken, die Dänen. Was glauben Sie?
    Patel: Ich glaube, dass die Situation unglaublich schwierig ist und dass es keine klare Antwort auf diese Frage gibt. Ich glaube, es gibt einen ganz großen Zielkonflikt, was nun die in der EU verbleibenden Staaten machen und können wollen und sollen. Zum einen geht es sicher darum, dass nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen alle ein Interesse daran haben, starke und enge Bindungen mit Großbritannien zu erhalten und insofern zu einer relativ schnellen und auch relativ großzügigen Lösung zu kommen. Das könnte eine vertiefte Freihandelszone sein.
    Auf der anderen Seite geht es sicher auch darum, eine Politik der Härte nicht zuletzt aus Gründen der Abschreckung zu verfolgen, damit diese populistischen Bewegungen in Ländern wie den Niederlanden, wie Frankreich, Italien und so weiter nicht zu sehr auf den Geschmack kommen, dem britischen Beispiel zu folgen. Ich glaube, in diesem Spektrum, in diesem Zielkonflikt wird sich sehr viel von dem, was wir in den nächsten Jahren erleben - und ich glaube, dass es nicht nur Monate, sondern Jahre sein werden - bewegen.
    Köhler: Hat - und damit nehme ich jetzt mal eine Sekunde lang die Position der Brexitiers ein - die EU nicht vielleicht dann doch einen Webfehler, oder haben die Briten nur darauf gewartet, genug Gründe für einen Austritt beisammen zu haben? Die Flüchtlingsfrage, der Verstoß gegen die Maastricht-Regeln, das Anti-Establishment und so weiter.
    "Zur Reform von innen heraus keine ernsthafte Alternative"
    Patel: Die EU hat sicher Webfehler. Das ist gar keine Frage. Das ist ein unglaublich kompliziertes politisches Gebilde. Aber wenn Sie 28 Staaten an einen Tisch setzen wollen, dann sollte man, glaube ich, nie glauben, dass man ein optimales politisches Resultat bekommen würde. Ich glaube, dass man sich einer politischen Illusion hergibt, wenn man glaubt, die Welt sei einfach und wäre ideal. Ich glaube, dass die Briten nur sehr viel mehr in der Europäischen Union für sich selbst und auch für die Union bewegen könnten, als wenn sie sich dann auf eine solche assoziierte Lösung einlassen würden, oder gar ganz davon Abstand nehmen würden und versuchen würden, dann mit anderen Ländern in der Welt ihre Handelsbeziehungen zu betreiben, als ob es die EU gar nicht gäbe. Das ist eigentlich gar nicht denkbar. Insofern, glaube ich, besteht eigentlich zur Reform und zur Debatte von innen heraus gar keine ernsthafte Alternative, so sehr es natürlich auch hausgemachte Fehler gibt.
    Die Frage ist jetzt nur noch mal, wer ist auch da die EU. Die EU ist ja kein Abstraktum, das ist nicht einfach Brüssel. Die EU sind auch sehr stark die Mitgliedsstaaten, zu denen Großbritannien 40 Jahre gehört hat, und auch seine Rolle dazu beigetragen hat, dass manches nicht besser dasteht in der Europäischen Union heute.
    Köhler: Herr Patel, wir sprechen mit Ihnen als Historiker. Darum wird es Sie nicht überraschen, wenn ich Sie mal ein bisschen nach der langen Linie frage, und wenn wir nur ins 20. Jahrhundert jetzt mal gucken der britischen Geschichte, dann waren die nie an Angriffskriegen beteiligt so wie auf dem europäischen Festland. Anders gesagt: Ist Europa vielleicht als Friedensprojekt die Antwort auf eine Frage, die England nie gestellt hat?
    Patel: Vertrag von Maastricht führt zur Spaltung bei Tories
    Patel: Sie sagen England und das ist erst mal ganz interessant, weil ja das Vereinigte Königreich etwas größer ist und nicht nur England umfasst, so sehr England sich jetzt vor allen Dingen für den Brexit ausgesprochen hat. Da gibt es, glaube ich, auch sehr unterschiedliche Erfahrungshorizonte innerhalb Großbritanniens und des Vereinigten Königreiches weiter. Ich glaube, das gilt zum einen ja, weil natürlich die Briten nicht diese Erfahrung von Okkupation, von Besatzung durch den Nationalsozialismus, die kommunistische Gewaltherrschaft erlebt haben wie viele kontinentaleuropäische Staaten.
    Zugleich aber denke ich, dass die historischen Wurzeln der Debatte, die dann zu diesem doch recht kontingenten Ergebnis geführt haben - es ist ja ein Land, das sehr gespalten ist; es ist knapp die Hälfte, die jetzt nur überstimmt wurde -, dass die sich nicht nur auf lange Wurzeln zurückführen lassen. Ich glaube, dass wir auch sehr in die jüngste Vergangenheit zurückschauen müssen, in die Debatten der letzten 30 Jahre, 20 Jahre, vor allen Dingen auch in die Veränderung seit dem Vertrag von Maastricht, als die europäische Integration einen Quantensprung gemacht hat.
    Und nicht zuletzt dürfen wir vergessen die Veränderungen in der konservativen Partei, den Tories in Großbritannien selbst, wo nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Maastricht und der Zustimmung zum Vertrag von Maastricht eine Spaltung der Partei sich abgezeichnet hat, die wir heute in ihrer radikalsten Form in der Debatte über den Brexit erlebt haben.
    Köhler: Wir erinnern uns daran, dass die französischen Präsidenten - ich nenne jetzt nur mal de Gaulle - heftig gegen den Beitritt der Engländer gestimmt haben.
    Patel: … mit Hinweis auf die britische Küche, die mit der kontinentalen nicht vereinbar sei unter anderem. Richtig, genau!
    Köhler: … und ausgerechnet Edward Heath für den Beitritt war. Worauf ich hinaus will: Ist das Vereinigte Königreich ein bisschen in der Vergangenheit ein Europäer wider Willen gewesen?
    Patel: Koloniale Träume weisen auf problematisches Geschichtsbild hin
    Patel: Ich glaube, wenn wir an Europäer wider Willen denken, dann gibt es viele Staaten, die in spezifischen Phasen zu gewissen Sachproblemen immer wieder auch ein hohes Maß an Skepsis gegenüber der europäischen Einigung gezeigt haben, und zugleich gab es in Großbritannien auch wichtige Phasen, in denen die Briten sehr für mehr Europa eingetreten sind.
    Insofern, glaube ich, gibt es da durchaus Elemente, die mit der britischen Nationalgeschichte zu tun haben, mehr aber eigentlich fast noch, wie diese Geschichte heute perzipiert wird.
    Sie haben vorhin auf die lange Friedensphase und das Nichtteilnehmen an Angriffskriegen hingewiesen. Wenn man sich die britische Geschichte im Allgemeinen anschaut, auch im 20. Jahrhundert, trifft das natürlich nicht zu, weil das meiste an britischer Geschichte in Übersee stattgefunden hat, nämlich in den britischen Kolonien, und da gab es sehr wohl auch sehr gewalttätige Auseinandersetzungen, an denen die Briten direkt teilgenommen haben.
    Insofern ist es interessant, dass wir auch eine sehr kleinenglische Sicht auf die britische Geschichte im Moment haben, gerade seitens der Brexitiers, die sich an vergangener Größe festmachen, die auch, wenn man so will, diese kolonialen Träume und Fantasien zumindest im Anklang wieder anspielt, die auf ein meines Erachtens doch ziemlich problematisches Geschichtsbild hinweisen, was Teile dieser Bewegung auch durchaus hat.
    "Vieles erscheint vielen Europäern heute als einfach gegeben"
    Köhler: In Anspielung auf einen berühmten Titel von Helmuth Plessner, "Die verspätete Nation", womit Deutschland gemeint ist und sein gebrochenes Staatsverhältnis auch, hat Hermann Lübbe gerade in einem ganzseitigen Beitrag in der "FAZ", wie ich finde, ganz klug vom verspäteten Kontinent gesprochen. Auch wenn man die Argumente nicht teilen muss, die er auffährt, denn wir haben es ja hier mit einer Rechtsgemeinschaft zu tun, aber ist das vielleicht die große Lehre, auch jetzt für die Zukunft festzustellen, es gibt nicht diesen Automatismus und man muss jeden Moment auch mit desintegrativen Kräften rechnen?
    Patel: Davon ist auf jeden Fall auszugehen. Es gibt nicht das einfache Narrativ des immer weiter, immer mehr, und ich glaube, wir müssen auch um das, was uns als wichtige Errungenschaft sich darstellt, viel mehr kämpfen und viel mehr auch uns dessen vergewissern, als das bisher der Fall gewesen ist.
    Vieles erscheint vielen Europäern heute als einfach gegeben: die offenen Grenzen zum Beispiel, der einfache Warenverkehr. Und im Grunde, so sehr das bedauerlich wäre, könnte uns der Brexit jetzt auch zeigen, was wirklich auf dem Spiel steht, und hoffentlich dann auch noch mal auf das Wesentliche uns sich beziehen helfen, als dass wir dann auch wissen, was wir an dieser Europäischen Union trotz aller Defizite, die sie sicherlich aufweist, dennoch haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.