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Historiker Robert Darnton
Zensoren schrieben schon immer an der Literatur mit

Der Harvard-Historiker Robert Darnton untersucht in seinem neuen Buch "Die Zensoren", welche Züge die Zensur vergangener Jahrhunderte bis hinein ins 20. Jahrhundert hinein ausgezeichnet hat: Nicht selten entwickelte sich ein Wechselspiel zwischen Literaturüberwachern und Literaten, bei dem die gegenseitigen Einflüsse nicht mehr klar voneinander zu trennen sind.

Von Florian Felix Weyh | 15.05.2016
    Eine Minifigur eines Polizisten auf der Tastatur eines Rechners
    Der Zensor schreibt mit. (picture-alliance / dpa / Jens Büttner)
    "Dies ist überhaupt kein Buch", sagt der griesgrämige Leser und klappt es zu, das Buch. "Welche Anliegen der Autor verfolgt, erfährt man erst, wenn man es ganz zu Ende gelesen hat."
    Naja – es liegt wohl im ureigenen Interesse eines Autors, dass sein Werk komplett und nicht nur in Auszügen rezipiert wird. So baut er es denn auch auf:
    "Er schlägt eine Richtung ein und macht wieder kehrt. Viele Überlegungen sind dürftig und oberflächlich. Um Lebendigkeit bemüht, ist sein Stil überschwänglich. [...] Er gerät ganz häufig in Lächerlichkeit und Dummheit, weil er unbedingt Schönes verkünden will."
    Kritiker können ganz schön mäkelig sein, schlecht gelaunt obendrein, wenn sich ein Buch ihrer Weltsicht widersetzt. Fallen sie gar als Schwarm über die Literatur her – die Kritiker! –, bleibt selten etwas übrig: Alles wird zerfetzt, zersetzt, zerrissen! So wie beim vorliegenden Manne, der es nicht leiden kann, dass ein Autor etwas Schönes anstrebt. Und seine Kollegen sind da nicht besser:
    Zensoren im 18. Jahrhundert benahmen sich wie Literaturkritiker
    "Ein anderer hatte gegen eine Biografie des Propheten Mohammed theologisch nichts einzuwenden, empfand sie aber als oberflächlich und unzulänglich recherchiert. Ein dritter wollte für ein mathematisches Lehrbuch deshalb keine Empfehlung aussprechen, weil die Probleme nur oberflächlich durchgearbeitet und von einigen Zahlen die Quadrate und dritten Potenzen nicht mit angegeben worden seien. Ein vierter lehnte eine juristische Abhandlung ab, weil sie von unpräzisen Begrifflichkeiten, falschen Datierungen von Dokumenten und einem falschen Verständnis von Grundprinzipien gekennzeichnet sei. Und es wimmele von Rechtschreibfehlern."
    Ein Skandal! Aber ist es Sache der Wächter über sittliche und geistige Tugenden, ja über ideologische Reinheit, ist es also Sache der Zensoren, orthographische Fehler zu bemängeln? Denn um Zensoren handelt es sich in diesem Fall, nicht um Kritiker, auch wenn sich diese fast so benehmen, als gehörten sie dem heutigen Literaturzirkus mit seiner Dichter- und Richterrollenverteilung an. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts – vor der Revolution, doch schon im gärenden Zeitalter der Enzyklopädien – gab es Literaturkritik in unserem Sinne fast gar nicht. Wohl aber königliche Zensoren. Sie beurteilten Bücher so, wie es heute Rezensenten tun ... oder noch mehr die dem Autor zur Seite gestellten Lektoren.
    Das verwirrt, denn Zensur gehört zweifellos ins Reich des Bösen: Sie ist ein willkürliches Machtinstrument, das nicht nur Gedanken unterdrückt, sondern auch Menschen vernichtet. Der Harvard-Historiker Robert Darnton wunderte sich dennoch kaum über die Antworten, die seine Studenten auf die simple Frage gaben, was denn Zensur eigentlich sei? Auszugsweise: "Politische Korrektheit, das Peer-Review-Verfahren bei wissenschaftlichen Publikationen, jede Form der Begutachtung, Lektorieren und Publizieren, Überwachung durch die National Security Agency, Geheimhaltung überhaupt, Algorithmen, die Einträge nach Wichtigkeit ordnen, Höflichkeit."
    Tatsache ist: Auch Höflichkeit kann die Unterdrückung von Wahrheit befördern, aber mit Zensur hat das so wenig zu tun wie das Jammern von Autoren, wenn sie keinen Verlag für ihre mediokren Manuskripte finden. Robert Darnton indes, der sich schon einmal mit der Zensur in der DDR befasst hat, könnte durchaus als Kronzeuge dieser weitestmöglichen Auslegung des Zensurbegriffes dienen, schrieb er doch einst: "Zensur existiert überall, wo bei der Produktion von Literatur ein Auswahlprozess besteht."
    Das war Anfang der 90er-Jahre. Heute ist der Historiker vorsichtiger geworden. Sein jüngstes Buch heißt "Die Zensoren", konzentriert sich auf die handelnden Personen und nicht nur auf ihr Tätigkeitsfeld oder, noch komplizierter, auf eine zu allen Zeiten gültige Unterdrückungsformel.
    Das Verbieten, Verstümmeln, Verändern, Nichterlauben, stillschweigende Ignorieren oder in kleinem Maßstab Tolerieren missliebiger Schriften lässt sich nicht sauber unter einem Zensurbegriff definieren, weil die Grenzen dessen verschwimmen, was eine Gesellschaft für nicht darstellbar hält. Jugendschutz und Gewaltprävention etwa sind durchaus akzeptable Einwände, mussten in der Geschichte aber oft als hohler Vorwand herhalten, ganz ähnlich wie Pornographie und Gotteslästerung.
    Deskription des Zensurvorgangs statt einer Theorie der Zensur
    Darnton versucht, diesem Dilemma mit Deskription statt mit einem theoretischen Wurf zu begegnen. Er gestattet sich eine "anthropologische Sicht" auf die Zensur, in der die Betrachtung sozialer Verflechtungen mehr erzählt als die altbekannte Frontstellung von repressivem Staat hie und freiheitsliebenden Autoren da.
    Gerade im farbig beschriebenen vorrevolutionären Frankreich wird er vielfach fündig: Zensoren und Autoren trennte weniger voneinander, als man vermuten mag. Dass Malesherbes, der mächtige Leiter der Buchhandelsverwaltung (in heutigen Begriffen Chefzensor des Ancien Régime), auf Geheiß von oben den Aufklärern um Diderot das Papier zum Druck der Enzyklopädie wegnehmen sollte, war das eine:
    "Vor dieser Razzia gab Malesherbes Diderot allerdings den Tipp, seine Papiere an einen sicheren Ort zu schaffen. Diderot antwortete, er habe keine Ahnung, wo er das gewaltige Material so kurzfristig unterbringen könne, woraufhin Malesherbes einen großen Teil davon in seinem Stadthaus versteckte."
    Man sieht: Komödie und Tragödie liegen eng beieinander, und Darntons vielleicht größtes Problem besteht darin, dass uns die Geschehnisse heute oft realsatirisch vorkommen. Gerade bei der "anthropologischen Darstellung" von Zensur bleibt es eine Herausforderung, die (Un)Wertmaßstäbe vergangener Regime so zu verdeutlichen, dass ihre Unerbittlichkeit nachvollziehbar erscheint. Das fällt nicht leicht, gab es doch bis ins 20. Jahrhundert hinein bizarre Gefechte zwischen Staatsmacht und Poesie.
    Wie die britischen Kolonialbehörden indische Literatur rezipierten
    "Das Verfahren bot all das auf, was man in einem modernen Lyrik-Seminar erwartet: philologische Erwägungen, semantische Felder, metaphorische Muster, ideologische Kontexte, allgemeine Rezeptionsmechanismen und soziokulturelle Rezeptionsvoraussetzungen des Lesers",
    schreibt Robert Darnton etwa im Falle eines heute bestenfalls unverständlichen bengalischen Gedichts, das ein britischer Kolonialrichter in Indien 1910 so lange auf "krasse Aufwiegelei" hin untersuchte, bis er Anhaltspunkte genug gefunden hatte, um den Herausgeber des Lyrikbands für zwei Jahre ins Gefängnis zu schicken.
    In diesem mittleren Teil der Darnton-Monographe, der sich mit der britischen Zensurpraxis in Indien befasst, tritt das vordergründig harmloseste, dafür aber verlogenste Gesicht der Zensur hervor. Darnton sieht ein Konzept des "liberalen Imperialismus" am Werk. Das klingt seltsam. Was ist denn liberal daran, fremde Völker zu unterjochen?
    Die Briten, sagt der Harvard-Historiker, hätten über lange Zeit hinweg die eigenen Errungenschaften von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit hoch gehalten – dies aber hauptsächlich auf dem Papier:
    "Das Eintreten der Richter für Pressefreiheit beugte dem Eindruck vor, dass sie als Vollstrecker einer Tyrannei auftraten. Und doch mussten sie verhindern, dass die Inder die Meinungsfreiheit in gleichem Maße wie die Engländer im Mutterland für sich nutzten. Folglich deuteten sie ›feindselige Empfindungen‹ als ›politische Unzufriedenheit‹ und diese wiederum als ›Aufwiegelei‹, Begriffe, die in beliebig austauschbarer Manier für Anklagen herhalten mussten, sobald es notwendig erschien."
    Wenn man für herauspräparierte "feindselige Empfindungen" in Theaterstücken und Gedichten Gefängnisstrafen in Kauf nehmen muss, ist formale Rechtsstaatlichkeit wenig wert.
    Literaturüberwachung ist ohne eine Art Literaturkritik nicht denkbar
    Interessanterweise ging dem Strafregime der Briten eine quasi-ethnologische kulturelle Aneignung voraus, denn die verdächtigen Druckwerke in vielen verschiedenen Dialekten Indiens mussten überhaupt erst einmal erfasst und verstanden werden, bevor man deren aufrührerisches Potenzial abschätzen konnte. Was anfangs wie eine rein bibliothekarische Aufgabe aussah, wurde rasch zur inhaltlichen Herausforderung, indem die "Bemerkungen" in Spalte 16 des einheitlichen Registrierungsformulars immer mehr Platz einnahmen:
    "Die Bibliothekare beschränkten sich beim Kommentieren anfangs auf ein Mindestmaß, fällten bei der Registrierung aber auch Urteile. (..) Bald überschritten diese die streng gezogenen Linien zwischen den Spalten, marschierten in benachbarte Räume ein, zogen sich über die ganze Seite hin und füllten in einer Flut von Wörtern schließlich das gesamte Blatt aus. Bereits 1875 las sich Spalte 16 wie die Rubrik einer Zeitung. Die ›Bemerkungen‹ wurden zu Rezensionen."
    Da wären wir wieder beim eingeborenen Zusammenhang zwischen Literaturüberwachung und Literaturkritik: Jene ist ohne diese offenbar kaum zu haben. Ein Zensor ohne literarisches Verständnis wäre seiner Aufgabe gar nicht gewachsen. Ja, er benötigt vermutlich sogar Sensibilität, Empfänglichkeit und Liebe zur Literatur, um deren Abgründe erkennen und denunzieren zu können. Auch wenn die britischen Bibliothekare in Indien nicht selbst zensierten, lieferten sie doch das Material, mit der die Gerichtsbarkeit dann koloniale Gewalt ausüben konnte. Die Arglosigkeit dieser "Rezensenten" ist dabei schon von der Darnton’schen Urszene im vorrevolutionären Frankreich vorweggenommen worden:
    "Zensur war eine Nebenbeschäftigung, die sie mehrheitlich ehrenamtlich betrieben. 1764 erhielten von 128 Zensoren nur 33 eine bescheidene Vergütung von 400 Livres und einer eine von 600 Livres pro Jahr, während die übrigen ihre Aufgabe unentgeltlich erfüllten. Wenn sie lange loyal gedient hatten, konnten sie auf eine Pension hoffen."
    Vor 1789 waren private Beleidigungen gefährlicher als Umsturzparolen
    Als Übeltäter wurde der Zensor erst nach 1789 empfunden. Im Absolutismus kreiste noch alles um die strahlenden Sonne der Monarchie, nicht um die individuelle Freiheit der Staatsbürger. Wer das Ehrenamt des Zensors anstrebte, befand sich mitten in der Gesellschaft. Sonderlichen Heldenmut benötigte er dazu auch keinen:
    "Angriffe auf den König mussten die Zensoren nicht befürchten, da ihnen entsprechende Schriften nicht vorgelegt wurden. Kopfzerbrechen bereiteten ihnen dagegen Werke, in denen der Lobpreis auf den König nicht ausreichend überzeugte. So konnte ein Opernlibretto laut seinem Zensor nur dann erscheinen, wenn der Autor das Vorwort herauskürzte, weil es eine dürftige Lobrede auf Ludwig XV. enthielt."
    Es ging viel weniger um theologische Häresien oder philosophisch-politische Umsturzkonzepte als um den Schutz des symbolischen Kapitals der Oberschicht: Rang, Ruf, Ehre. Die Aussage, alle Menschen seien gleich, zog in solch einem Überwachungssystem trotz seiner Explosivität weniger Aufmerksamkeit auf sich als eine versteckte Anspielung auf mögliche Fehltritte eines Marquis.
    "So strich ein Zensor einen sachlich korrekten Hinweis auf eine Missetat heraus, die ein Mitglied der mächtigen Familie Noailles im 16. Jahrhundert begangen hatte, weil ›sich das Haus [Noailles] beschweren könnte, dass daran erinnert wird‹. Ein anderer lehnte ein vollkommen faktentreues genealogisches Werk mit der Begründung ab, es wären womöglich Fakten übergangen worden, deren Fehlen bedeutende Familien beleidigen könnten.
    Beleidigtsein ist immer noch ein Bestandteil des Literaturbetriebs, in dem heute freilich kaum mehr Mächtige beleidigt werden, sondern man sich lieber untereinander diffamiert. Diese Richtungsänderung verdankt sich der gesellschaftlichen Entschärfung der Literatur durch die pluralistische Demokratie, was freilich mit einem deutlichen Macht- und Wirkungsverlust einhergeht. Redefreiheit trägt zur Inflation der Worte bei – bis man sich wieder nach Einhegungen sehnt:
    "Ich hatte den Glauben an das Wort verloren. Die Zensur gab ihn mir wieder", spießte etwa der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec die Ambivalenz staatlicher Überfürsorge auf.
    Wo das Auge des ideologisch gebundenen Staates auf der Literatur ruht, bekommt sie etwas, das sie in gleichgültigen, offenen Systemen keineswegs erhält: permanente Aufmerksamkeit. Diese im Vergleich mit der absolutistischen Zensur gänzlich andere Kontrollinstitution des 20. Jahrhunderts schildert Robert Darnton am Fallbeispiel der DDR.
    Die totalitäre Literaturproduktion der DDR praktizierte Vor-Vor-Zensur
    Während im 18. Jahrhundert Personen geschützt wurden, versuchte der totalitäre Staat der Moderne vorrangig Gedanken einzuhegen. Deswegen konnte die Aufklärungspublizistik von Diderot und Voltaire noch unter der Wahrnehmungsschwelle der königlichen Zensoren gedeihen, während in der DDR selbst harmlose geistige Abweichungen besser nicht veröffentlicht wurden.
    Das Biotop, das dabei entstand, erscheint im Rückblick eigenartig. In der Vorstellungswelt der SED sollte es eigenschöpferische, selbstverantwortliche Schriftsteller eigentlich gar nicht mehr geben: "Die ZK-Kulturabteilung (…) wies darauf hin, dass Vorschläge für Bücher nur in Ausnahmefällen der Initiative der Autoren überlassen bleiben sollten. Stattdessen müssten die Verleger eine ›Offensivstrategie‹ entwickeln, die das ›ideologische Potenzial‹ der Autoren stärke.
    Spricht man in den politischen Wissenschaften von Vorzensur (ein Werk muss vor Drucklegung dem Zensor vorgelegt werden) und Nachzensur (bereits gedruckte Bücher werden polizeilich beschlagnahmt), so entwickelte die DDR eine Art Vorvor-Zensur: Im Idealfall sollte jeder veröffentlichte Gedanke aus der parteilichen Planung heraus entstanden sein und dann mittels staatlicher oder Parteiverlage von einer Art Autor-Facharbeiter zur Reife gebracht werden – stets natürlich in engem Kontakt zu den Machthabern. Als der Harvard-Historiker Robert Darnton 1990 Einblicke in die DDR-Zensur gewann, staunte er über die quasi-maschinelle Auffassung sozialistischer Literaturproduktion:
    "Der Plan sollte mich durch seinen geistlosen und geschäftsmäßigen Ton überraschen. Er listete sämtliche projektierten Bücher alphabetisch nach den Nachnamen der Verfasser auf. Jeweils aufgeführt waren Titel, Verlag, vorgeschlagene Auflagenzahl, Genre oder die Reihe, in der das Werk erscheinen sollte, mitsamt einer kurzen Inhaltsangabe."
    Dieser Plan wurde allerdings nicht mehr verwirklich, denn es handelte sich um die Verlagsproduktion des Jahres 1990; mit dem Staat ging auch die vermessene Utopie einer vermeintlichen Staatskreativität unter. Wie absurd sie von Anfang an gewesen war, ließ sich aus dem Papier auch herauslesen:
    "Hatte der Plan auffallenderweise nicht auch mehr Einträge für Nachdrucke (315) als für neue Titel (202) enthalten? Erstere waren für die ›heißesten‹ Titel bestimmt: für Bücher ostdeutscher Autoren, die in Westdeutschland erschienen waren (…), also Titel, die (ohne Auswirkungen auf das Zensurbüro) Wirbel machten und in der DDR (möglichst unauffällig und in kleinen Auflagen) veröffentlicht werden konnten, sobald sich der Staub gelegt hatte.
    Gab es ein heimliches Einvernehmen zwischen Zensoren und Autoren?
    Das aus künstlicher Verknappung und Bevormundung entstandene "Leseland DDR" hätte seine inneren Widersprüche zwischen Autorenstarrsinn, Leserwillen und Staatsdoktrin auch bei einer längeren Existenz der DDR vermutlich nicht unbeschädigt überstanden. Wo die Autoren ihre wichtigsten Bücher unzensiert im Westen veröffentlichten, die DDR-Leser genau diese Titel haben wollten, und die Partei auf dem Umweg des Re-Imports vor beiden kapitulierte, war die autoritär-staatliche Literaturlenkung de facto erledigt.
    Schon 1983 hatte Christa Wolf in ihrer Erzählung "Kassandra" Auslassungszeichen an den zensierten Stellen durchgesetzt – ein erhobener Zeigefinger für all jene, die zu lesen verstanden. Auch frühere Autoren hatten sich keineswegs machtlos gegenüber ihren Lektor-Zensoren gefühlt, etwa Erich Loest 1976. Nach einem zähen Ringen über Striche und Änderungen "... saßen wir ergriffen und dachten an das, was hinter uns lag. [...] Wir fühlten Achtung voreinander wie Boxer, die sich das Letzte abverlangt hatten."
    Durch diese Szene schimmert wieder das Ur-Muster aus dem Absolutismus hindurch, dass die unfreie Literaturproduktion vielleicht doch nur eine von mehreren Spielarten des Literaturbetriebs sei – denn gerungen ums literarische Produkt wird zwischen Verleger, Lektor und Autor ja immer. Robert Darnton gelangt zu einem solchen Resümee:
    "Weil heimliches Einvernehmen, Zusammenarbeit und Verhandlungen – zumindest in den hier behandelten Systemen – das Miteinander zwischen Autoren und Zensoren maßgeblich bestimmten, wäre es irreführend, Zensur als reinen Konkurrenzkampf zwischen Schöpfertum und Unterdrückung zu betrachten. Von innen heraus und insbesondere aus Perspektive der Zensoren in den Blick genommen, können Literatur und Zensur durchaus als deckungsgleich erscheinen".
    Akademische Anmaßung von jemandem, der selbst keinerlei Leid aus Unterdrückung erfahren hat? Nein, die Gedankenfigur war und ist weit verbreitet. Vom ausgebürgerten russischen Nobelpreisträger Joseph Brodsky kennt man die Worte:
    "Zensur ist gut für Schriftsteller. Aus drei Gründen. Erstens vereint sie die ganze Nation als (oder zur) Leserschaft. Zweitens setzt sie dem Schriftsteller Grenzen, etwas, wogegen er anschreiben kann. Drittens erhöht sie die metaphorische Kraft der Sprache (je strenger die Zensur, desto äsopischer muss die Literatur werden)."
    Die Ungerechtigkeit bleibt
    Bessere Helfer können sich totalitäre Systeme eigentlich gar nicht wünschen, und die Geschichte steckt voller tragischer Beispiele solcher "Identifikation mit dem Aggressor", sprich in dem Fall: mit dem Zensor. Ganz zum Schluss gesteht Robert Darnton ein:
    "Historikern fehlt das Rüstzeug, um unterschiedliche Grade an Ungerechtigkeit zu berechnen."
    Immerhin, die Ungerechtigkeit wird klar benannt. Über alle Zeiten hinweg bleibt dennoch die schwärende Wunde, dass die Kunst nicht selten vom Leiden der Künstler profitiert. Darum aber der Unfreiheit als Kunstverstärkerin das Wort zu reden, wäre zynisch. Autoren selbst tun das bisweilen. Der Historiker tut es zum Glück nicht.
    Robert Darnton: "Die Zensoren"
    Aus dem Englischen von Enrico Heinemann
    Siedler Verlag, 368 Seiten, 24,99 Euro.