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Historiker: SED-Führung verfiel in Hektik

Nach Auffassung des Potsdamer Historikers Hans-Hermann Hertle hat die SED-Führung in der Nacht vom 9. auf den 10. November komplett die Kontrolle über die Mauer verloren. Als Günter Schabowski das neue Reisegesetz vorgelesen habe, hätte er wichtige Details wie die Sperrfrist und bürokratische Regelungen in der Hektik weggelassen.

09.11.2009
    Friedbert Meurer: Der Fall der Mauer vor 20 Jahren. Irgendwann Anfang November 1989 verlor die SED auch unter ihrem neuen Generalsekretär Egon Krenz völlig die Kontrolle über die Ereignisse. Krisensitzung auf Krisensitzung folgte. Krenz war es, der am 9. November tagsüber im Zentralkomitee der SED kurz das neue Reisegesetz vorlas, und diesen berühmten Zettel hat er dann Günter Schabowski für dessen Pressekonferenz am Abend zugesteckt.

    Günter Schabowski: Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.

    Meurer: Günter Schabowski war nicht klar und Egon Krenz auch nicht, was dieses Gesetz auslösen würde. – Der Potsdamer Historiker Hans-Hermann Hertle hat die Stunden und Tage rund um den 9. November _89 erforscht wie kaum ein anderer. Guten Tag, Herr Hertle.

    Hans-Hermann Hertle: Guten Tag!

    Meurer: Warum hat Günter Schabowski vor 20 Jahren, am 9. November, auf seiner legendären Pressekonferenz nicht gewusst, was er da mit seinen Worten auslösen wird?

    Hertle: Das war eine absolut hektische Situation für die SED-Führung. Günter Schabowski hat diese neue Reiseverordnung zwischen Tür und Angel von Egon Krenz in die Hand gedrückt bekommen. Er hat sie während seiner Pressekonferenz das erste Mal gelesen, wie er damals zumindest gesagt hat, unmittelbar nach 1990, und war insofern vielleicht ein Stück weit selbst überrascht. Er war vor allen Dingen nicht darüber informiert, dass über diese Mitteilung eine Sperrfrist verhängt war, und diese Sperrfrist markierte zugleich den Zeitpunkt der Inkraftsetzung. Beabsichtigt war: 10. November 1989, sollte diese Regelung in Kraft gesetzt werden. Schabowski wusste das nicht und sagte auf der Pressekonferenz "ab sofort, unverzüglich".

    Meurer: Was wäre anders gekommen, Herr Hertle, wenn Schabowski das mit der Sperrfrist mitbekommen hätte?

    Hertle: Ich glaube, der ganze Prozess wäre völlig anders verlaufen, zumindest zu Beginn. Die SED-Führung hat in der Nacht vom 9. auf den 10. November komplett die Kontrolle über die Mauer verloren. Das was in dieser Nacht passierte, war nicht rückgängig zu machen. Die Menschen haben von Ost und von West her die Mauer am Brandenburger Tor besetzt. Das hatte den höchsten Symbolgehalt, das war das niederschmetterndste Ereignis für alle SED-Funktionäre, die ich kenne, das brannte ihnen praktisch als Niederlage regelrecht auf der Seele. Wäre diese Reiseregelung so bürokratisch angewandt worden, wie sie beabsichtigt war, hätte die SED-Führung noch eine ganze Zeit lang die Kontrolle über die Mauer behalten und der Einigungsprozess hätte nicht in dieser Art und Weise stattfinden können.

    Meurer: Tagsüber, am 9. November, Herr Hertle, hat ja der damalige SED-Generalsekretär Egon Krenz das neue Reisegesetz im Zentralkomitee präsentiert. Er hat es vorgelesen, davon gibt es Tonaufnahmen. War sich auch Krenz nicht bewusst, mit diesem Gesetz fällt die Mauer?

    Hertle: Die SED stand unter einem irrsinnigen Druck, unter dem Druck der Massendemonstrationen. Überall in der DDR, in den großen Städten, in den kleinen Orten, wurde Reisefreiheit gefordert. Sie stand unter dem Druck der tschechoslowakischen Regierung, die ganz energisch und ultimativ gefordert hat, dass endlich der Ausreiseprozess über die Tschechoslowakei nach Bayern gestoppt wird. Die tschechoslowakische Regierung befürchtete, dass Unruhen auch auf die CSSR übergreifen, und verlangte ultimativ, dass die SED-Führung doch ihren Ausreiseverkehr über die eigenen deutsch-deutschen Grenzen durchführen sollte. Das war die Situation, in der Egon Krenz die Reiseverordnung vortrug. Es war beabsichtigt, die ständigen Ausreisen über die innerdeutschen Grenzen auch möglich zu machen, allerdings mit Visum und mit Antrag, und die Frage der Besuchsreisen wurde mitgeregelt. Wäre das nicht geregelt worden, hätte die DDR praktisch diejenigen bestraft, die einfach nur mal kurz reisen wollten und zurückkommen wollten.

    Meurer: Aber offenbar war man sich und war Egon Krenz sich nicht im Klaren, was es bedeutet, wenn nicht nur ständige Ausreise unkompliziert erlaubt wird, sondern auch Besuchsreisen ermöglicht werden.

    Hertle: Es war ja ein bürokratisches Verfahren für die Genehmigung der Besuchsreisen vorgesehen. Diese Reisen sollten beantragt werden. Dafür brauchte man ein Visum. Um ein Visum zu bekommen, brauchte man einen Reisepass, den die meisten DDR-Bürger nicht hatten. Die Idee, die zu Grunde liegende Idee war, die DDR-Bürger werden am nächsten Tag, am 10. November, zu den Ämtern gehen, zu den Behörden, werden ein Visum beantragen, werden einen Reisepass beantragen. Dessen Ausstellung hätte drei, vier, fünf Wochen gedauert und dann hätten die ersten vor Weihnachten etwa reisen können. Das war die Idee, so bürokratisch stellte man sich das vor. Und alles, was dann nach Schabowskis Pressekonferenz eingetreten ist, war in der Situation am Nachmittag absolut nicht vorherzusehen.

    Meurer: Es lag aber in der Luft, Herr Hertle, dass es ein neues Reisegesetz geben wird. War die Bundesregierung in Bonn am Morgen des 9. November 1989 wenn nicht im Bilde, sondern hatte ihr irgendwie doch geschwant, da kann was kommen heute Abend?

    Hertle: Die Bundesregierung war im Bilde. Der Reisegesetzentwurf war am 6. November im "Neuen Deutschland" veröffentlicht worden. Insofern waren alle im Bilde. Aber worüber waren sie im Bilde? Sie waren darüber im Bilde, dass der Reiseverkehr im Dezember, vor Weihnachten etwa beginnen sollte, und dieser Entwurf wurde am 6. November im "Neuen Deutschland" veröffentlicht und stieß unmittelbar auf Ablehnung auf der Montagsdemonstration am gleichen Abend in Leipzig, weil es wieder eine völlig bürokratische Regelung war, in der Versagungsgründe geprüft werden sollten, in der die Reisenden nicht mit Devisen ausgestattet werden sollten, sie wären als Bettler in den Westen gekommen, und das erregte sofort Unmut. Die Reiseverordnung des 9. November war auch eine Reaktion auf die Ablehnung dieses Reisegesetzentwurfes. Aber Bundesregierung und West-Berliner Senat waren insofern darauf vorbereitet, dass noch vor Weihnachten sich massiv etwas ändern würde. Allerdings rechneten sie damit erst im Dezember.

    Meurer: Wer hat für Sie die Mauer geöffnet, die SED mit dem Pass-Gesetz, die Menschen, die vorher über Prag und Ungarn ausgereist sind, die Bürgerrechtler und all die, die im Land, in der DDR geblieben sind und Veränderungen wollten?

    Hertle: Der wichtigste Maueröffner waren in dieser Nacht des 9./10. November ganz klar diejenigen, die zur Grenze gegangen sind, und im Vorfeld natürlich diejenigen, die auf der Straße waren und dafür gesorgt haben, dass die SED-Führung in eine Hektik verfiel, in der sie keine klaren Entscheidungen mehr treffen konnte. Aber am Abend des 9. November war auch ganz entscheidend die Rolle der West-Medien. Die West-Medien sind den Ereignissen vorausgeeilt. Hans-Joachim Friedrichs hat in den "Tagesthemen" behauptet, die Tore in der Mauer stehen weit offen. Das war zu diesem Zeitpunkt absolut nicht der Fall. Und indem die Medien praktisch dieses Ereignis schon als eingetreten gemeldet haben, haben sie es mit herbeigeführt, weil der Massenansturm auf die Grenze etwa in der Bornholmer Straße erfolgte erst nach den "Tagesthemen" um 23 Uhr, 23:15 Uhr herum.

    Meurer: Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam, wie vor 20 Jahren die Mauer geöffnet wurde. Herr Hertle, besten Dank und auf Wiederhören.

    Hertle: Gerne. Auf Wiederhören!