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Historiker über 1919 und 2019
Labiler Frieden: "Wir sind in rauerem Fahrwasser"

Das europäische Friedensprojekt ist gefährdet. Nationalismus und Protektionismus haben wieder Konjunktur. Aber es gibt in Krisen der Demokratie auch Selbstheilungskräfte, die nicht unterschätzt werden sollten, sagte Jörn Leonhard, Autor von "Der überforderte Frieden", im Dlf.

Jörn Leonhard im Gespräch mit Michael Köhler | 03.03.2019
Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard
Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard (picture alliance / ROPI)
Das europäische Gleichgewichtssystem zerbrach 1919. Alte Reiche gingen unter. Moderne Nationalstaaten entstanden. Doch rasch entflammten auch neue Konflikte, etwa in Nahost und auf dem Balkan. Das Erbe des Versailler Friedensvertrages reicht bis heute. Frieden ist seither mehr als die Abwesenheit kriegerischer Gewalt. Das gehört zum Erbe von 1918/19, sagte der Freiburger Historiker Jörn Leonhard im Dlf.
Frieden definiere sich auch über innergesellschaftliche Aspekte wie Sicherheit oder soziale Gerechtigkeit und politische Kommunikation. Jetzt gerate das europäische Pazifizierungsprojekt an Grenzen und erlebe Konkurrenz durch andere Modelle. Wir dürften nicht in eine Negativspirale geraten, bei der die Demokratie auf der Verliererseite steht. Wir haben es, so Leonhard, mit Konjunkturen der Demokratie zu tun, dialektischen Beziehungen von Krise und Antworten darauf.
Der überforderte Frieden
Versailles war anders als der Wiener Kongress, weil eine Weltordnung geschaffen wurde. An den Nachwirkungen hätten wir hundert Jahre später noch zu kauen, denn 1918/19 verschwinde die "Oblivion, das wohltätige Vergessen", erklärt Leonhard. "Was an die Stelle der Oblivion tritt, ist "die Permanenz und Omnipräsenz des Opfers", sagte Jörn Leonhard. Das hätten wir heute in den Gedenkkulturen.
Seither müssten Friedensschlüsse zu viel leisten, nämlich Versöhnung schaffen. Die Kollektivgedächtnisse tauchen aber wie Bojen an der Oberfläche auf. Die Zeit von 1914 bis 1923 ist etwa in Nahost präsent. Die heutigen Konflikträume in der Ukraine und in Nahost könnten nur mit Blick auf diese Phase verstanden werden. An vielen Stellen der Welt ist kein Frieden. Der perfekte Frieden wurde vor hundert Jahren nicht geschaffen.
Hinsichtlich der neuen nationalistischen Strömungen liege die Ähnlichkeit zu 1919 in der neuen Unübersichtlichkeit und neuen politischen Akteuren wie China. Die Nationalismen von heute hätten mit Globalisierung sowie der Erfahrung von Einschluss und Ausschluss zu tun. "Wir sind in rauerem Fahrwasser", so Leonhard.
Aber wir seien nicht in einer Situation wie in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Leonhard plädiert für den nicht-alarmistischen Blick.
Multipolare Welt
Die alte europäische Pentarchie aus Frankreich, Großbritannien, Russland, Österreich und Deutschland zerbricht. An die Stelle tritt eine neue Weltunordnung mit Spannungen. Was 1918 entstand, war die "Multipolarität". Das, was in Paris passiert, hat Bedeutung in Shanghai, Moskau und Buenos Aires. Die Welt wird verflochtener.
Es entstehe "Vergleichskommunikation", die uns bis heute begleitet. "Man darf die Selbstheilungskräfte bei allen Belastungen, die Resilienz von demokratischen Systemen, in Krisen nicht unterschätzen", sagte Leonhard.
Auch diese Botschaft habe die Zeit der 20er-Jahre für uns.
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