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Historische Romane
Kinder und Jugendliche für Vergangenes begeistern

Historische Romane haben bei Kindern einen schweren Stand. Dabei treffen sie mit Themen wie Krieg, Flucht und Vertreibung genau den Nerv der Zeit. Wie es dennoch gelingt, junge Leser für Geschichte zu begeistern, zeigen unter anderem "Córdoba" von Waldtraut Lewin und "Salz für die See" von Ruta Sepetys.

Von Karin Hahn | 19.11.2016
    Kinder und Jugendliche stöbern am Donnerstag (18.03.2010) auf der Leipziger Buchmesse in den Buchauslagen der Kinderbuchhandlung. Besonders viele Kinder und Jugendliche bevölkern die vier Messehallen an diesem Tag. Auf der Messe präsentieren sich mehr als 2000 Verlage aus fast 40 Ländern mit ihren Neuerscheinungen. Foto: Hendrik Schmidt dpa/lsn (zu dpa 0570 vom 18.03.2010) | Verwendung weltweit
    Kinder stöbern in den Buchauslagen. (dpa / picture alliance / Hendrik Schmidt)
    Ob spanische Inquisition im 15. Jahrhundert, die Zeit des Eisenbahnbaus im amerikanischen Westen oder Europas Flüchtlingskrise im Jahr 1945 – historische Romane für junge Leser vereinen im besten Fall kenntnisreiche Wissensvermittlung mit literarischem Anspruch. Dabei verhehlen die Autoren nicht, dass sie zwar oft faktentreu berichten, aber ansonsten doch fiktional frei davon erzählen, wie es vielleicht hätte sein können.
    "Ich hab in meiner Jugend wie verrückt historische Romane gelesen, alles was mir unter die Finger kam, von den Klassikern 'Ein Kampf um Rom' von Felix Dahn über 'Die letzten Tage von Pompeji', zum Beispiel Laxness habe ich unheimlich gern gelesen, 'Die Islandglocke', die eben Historie aus einer gebrochenen Perspektive betrachtet",
    erzählt die fast 80-jährige Autorin Waldtraut Lewin, die in ihren historischen Romanen nicht nur die Zeit des römischen Reiches, die Geschichte der Juden, sondern auch die Inquisition in Spanien thematisiert hat.
    "Ich schreibe historische Romane für junge Leute, denn ich habe die Theorie, dass die Geschichte voller Geheimnisse ist. Junge Leser denken nach und haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Wenn ich über verborgene Kapitel der Geschichte schreibe, kann ich diese durch meine Leser wieder neu beleben. Für mich ist das eine Investition. Ich schenke meine Geschichten jungen Lesern und hoffe, dass sie auch in der Zukunft nicht vergessen werden",
    sagt die amerikanische Autorin Ruta Sepetys, deren Familie väterlicherseits aus Litauen stammt. Für ihren dritten Jugendroman umkreist die amerikanische Autorin wieder ein bedrückendes Kapitel, auch in der litauischen Geschichte. Wie Ruta Sepetys vertieft sich die Berliner Autorin Waldtraut Lewin in langzeitige Recherchen. In ihrem 2014 veröffentlichten Werk "Der Wind trägt die Worte – Geschichte und Geschichten der Juden" schreibt sie über eine historisch verbürgte Szene, die zum Ausgangspunkt für ihren neuen Jugendroman "Córdoba" wurde.
    "In meiner Geschichte des Judentums erzähle ich eine Episode, die also im christlichen Spanien spielt, die Sache mit der Prozession und der Orangenlimonade, die aus Versehen ein junges Mädchen auskippt. Die Orangenlimonade fällt auf den Mantel der Madonna, die als Statue da durchgeführt wird und jemand aus der Menge behauptet: Das Judenmädchen, also weil das konvertierte Juden sind, hat Pisse auf die Madonna gegossen. Und das Spannende an der Story ist, es wäre ja eine der üblichen Verfolgungsgeschichten, wenn sich da nicht ein beherzter Stadtkommandant vor diese Familie gestellt hätte und versucht hat, Ausschreitungen zu verhindern."
    Der Roman setzt am Ende des 15. Jahrhunderts ein. Die Spanier haben Andalusien zurückerobert und viele Juden sind längst zum christlichen Glauben übergetreten. Allerdings traut die Bevölkerung diesen sogenannten Conversos oder "Neuchristen" nicht. Bedroht von Denunzianten und Inquisition fliehen Hunderte in die Stadt Córdoba, deren Stadtoberhaupt der liberale Alkalde José Adrías ist.
    "Im Lande ringsum wüten die Feuer, auf denen Ketzer verbrannt werden, all jene, die sich von der strengen Lehre der Kirche abzuwenden scheinen. Doch das geschieht nicht in Córdoba, in seiner Stadt. Bisher. Dass das noch von langer Dauer sei, dafür will er alles tun. Denn er weiß, sein Land Spanien ist krank. Und die Krankheit kommt aus dem Hass, dem Hass auf alles Andersartige, auf alle Andersgläubigen. Dem Hass auf die Erzketzer, die Juden."
    Mit der Berufung des neuen Bischofs jedoch brechen schwere Zeiten an. Klerus und Staat gieren nach den Vermögen, die die vorgeblich Ungläubigen nach ihrem qualvollen Tod hinterlassen. Mit Sorgen denkt José Adrías auch an seine 18-jährige Tochter Maria, die bereits Witwe ist. Maria jedoch ist eine ziemlich moderne Heldin, die sich über alle moralischen Verhaltensregeln ungeniert hinwegsetzt und direkt auf den Mann zugeht, den sie liebt.
    "Die Art wie Maria sich verhält, ist natürlich nicht zeitgemäß, aber sie hat ja auch ein paar mystische Züge. Sie ist eine Empathin, sie kann Leute beeinflussen, mental beeinflussen und ist so, wenn man will, in der Zeit eine gefährdete Figur, sie würde ja sofort als Hexe verbrannt, wenn man das rauskriegen würde. Aber da sie die Tochter des Alkalden ist, hat sie einen gewissen Schutz."
    Rückgriff auf eine bewährte Erzähltechnik als Erfolgsrezept
    Waldtraut Lewin folgt einer bewährten Erzähltechnik. Bei ihr wird Geschichte personifiziert, historische Ereignisse werden mit Helden oder Heldinnen besetzt, die so lebendig agieren, dass der Leser sich mit ihnen identifizieren kann. Maria liebt Diego, den Bruder ihrer besten Freundin Reina. Beide werden ein Paar, obwohl jeder einer anderen Person bereits versprochen ist. Flor heißt die sehr junge Verlobte von Diego. Auch sie muss mit ihrer Familie und gesamtem Hausrat in die vermeintlich sichere Stadt fliehen. Sie wird es auch sein, die bei der Prozession zum Festtag des Heiligen Jakob die Limonade auf das Gewand der Maria verschüttet.
    Vor drei Jahren hat Waldtraut Lewin mit der Arbeit an ihrem Roman begonnen und dabei ein feines Gespür für ein brisantes Thema bewiesen. Marias Gedanken kommen uns heute mehr als bekannt vor.
    "Dass man in Córdoba nicht gerade angetan ist vom Flüchtlingsstrom, ist ihr verständlich. Aber ihr Vater kann diese Menschen nicht abweisen. Das würde seinen Prinzipien der Gerechtigkeit und des Anstands widersprechen. "
    Und so plant der Alkalde für seine Schutzbefohlenen, die in Zelten vor der Stadt campieren, nicht alle sind wohlhabend oder werden von der Verwandtschaft aufgenommen, Wohnungen zu bauen. Doch dann läuten die Feuerglocken und es stellt sich heraus, es war Brandstiftung. Tote sind zu beklagen und viele ahnen, wer hinter dieser feigen Tat steckt.
    "Ja, es war eine Parallele auf einmal da, zwischen der historischen Geschichte und der Gegenwart. Und ich denke, das ist sowieso immer wichtig, beim Schreiben von historischen Büchern, dass die Leute spüren müssen, dass sind Dinge, die sie angehen, die sie auch erleben könnten, auf eine andere Weise vielleicht."
    "Menschen lernen nicht aus der Geschichte bedauerlicherweise, das heißt man muss es ihnen immer wieder sagen. Und da ist vielleicht der Schriftsteller die Mittelsperson, die am ehesten in der Lage ist, indem sie Emotionen weckt, in dem sie Empathie mit historischen Gestalten weckt, das zu vermittelt, dass man sagt, ach so ja, das war ja damals auch so, das müsste ja vielleicht zu ändern sein."
    Waldtraut Lewins dialogreiche Sprache treibt die Handlung voran und gibt den qualvollen und den hoffnungsvollen Momenten Raum.
    "Maria!" Das ist Reina. Die Freundin.
    Maria löst sich von ihrem Vater. Wo ist Reinas Bruder Diego?
    "Was war das nur, was – was hast du dir gedacht?"
    "Nichts Besonderes", entgegnet sie, ein bisschen verlegen. "Es war nur so abwegig, was der Bischof da oben verkündete. Ich musste einfach loslachen."
    Ein folgenschwerer Fehler, denn Misstrauen und Hetzreden vom neuen Bischof führen zu anonymen Anzeigen in der einst so offenen Stadt. Auch Marias Haus wird von den beiden gehässigen Nachbarinnen mit einem roten Kreuz gekennzeichnet, allerdings erst nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters und Beschützers. Auf Waldtraut Lewins Hauptfiguren, Maria und Diego, wartet eine ungewisse Zukunft, denn auch sie müssen fliehen, um ihr Leben zu retten.
    Waldtraut Lewin wählt für ihre Liebesgeschichte einen modern anmutenden Erzählton und das lebensnahe Präsens, das gibt dem Roman trotz Dramatik eine gewisse Leichtigkeit. Und sie regt den Leser an, tiefer über die Akzeptanz von unterschiedlichen Religionen nachzudenken. Denn trotz Bekenntnis zum Christentum bewahren die Conversos, zumindest die Familie von Diego, die Schätze ihres alten Glaubens auf und zeigen damit, dass sie ihre Vergangenheit nicht vergessen wollen. Sicher schult ein historischer Roman nicht unbedingt das Geschichtsbewusstsein und doch kann er verdeutlichen wie Menschen auch gegen Widerstände in anderen Gesellschaften Entscheidungen treffen mussten.
    Altbekanntes überraschend neu erzählt
    Mit historisch überlieferten Fakten, realen Personen der Zeit, aber einer völlig frei erfundenen Geschichte überrascht die belgische Autorin Kristien Dieltiens. In ihrem fabelhaft geschriebenen Roman "Kellerkind" erzählt sie von Kaspar Hauser. 1828 taucht er plötzlich in Nürnberg auf und sorgt für Spekulationen seine Herkunft betreffend. Aber die Autorin löst sich aus dem konkret Historischen und konzentriert sich nicht nur auf den von Geheimnissen umwitterten Jungen.
    Geschickt verknüpft sie Hausers Geschichte mit dem Schicksal von Michael Ostheim, den die Gesellschaft mit Verachtung straft. Geboren wurde Michael mit einer Hasenscharte. Nur seine Mutter liebt ihn innig und versucht alles, um ihren Sohn vor Ausgrenzung und Hass zu schützen. Ausführlich und detailreich erzählt Michael aus der Ich-Perspektive von seinem entbehrungsreichen Leben.
    "Ich bin so abgrundtief hässlich, dass jemand mir einst gesagt hat, ich könnte eine Sonnenfinsternis auslösen. Wenn ich ins Freie gehe, verstummen die Amseln, und die Katzen lassen ihren Wurf im Stich. So war es, und so ist es. Ich habe gelernt, im Dunkeln zu bleiben, mein eigener Schatten zu werden. "
    Als Michaels Vater stirbt, ist der Junge, sechs Jahre alt. Die lebensfrohe Mutter heiratet einen Pfarrer und landet in der Hölle. Michaels Stiefvater ist ein unbarmherziger, eiskalter Mann, der Mutter und Sohn trennt und seine Familie demütigt. Geborgenheit empfindet Michael nur im Wald bei den Tieren. Auch später werden die Pferde der Herrschaften, für die Michael arbeitet, für ihn wichtiger sein als die Menschen.
    Als Michael auf Geheiß des Vaters in eine Heimschule nach Tübingen reisen muss, erlebt er neben den üblichen Schikanen, zum ersten Mal Mitgefühl. Johann heißt der jüngere Schüler, der ihm hilft, einfach so. Über ein Jahrzehnt später wird Johann, nun Major im Kriegsdienst, erneut Michaels Leben retten und seine Schuldgefühle und Dankbarkeit gnadenlos ausnutzen. Er beschafft ihm eine exponierte Stelle als Lakai am Hof des badischen Großherzogs, damit er Augen und Ohren offen hält und Bericht erstattet. Und er sorgt auch dafür, dass Michael seiner großen Liebe Rosika näher kommt.
    Nach gut 200 Jahren ist bis heute nicht geklärt, ob Kaspar Hauser nicht doch der Erbprinz von Baden war oder ein geschickter Lügner. Dieses Rätsel hat die Autorin fasziniert. Sieben Jahre hat sie recherchiert und geschrieben. Ihren Kaspar Hauser, der erst als Teenager das wahre Leben entdeckt, lässt Kristien Dieltiens Tagebuch führen.
    "Vatermann lehrte mich laufen. Aber zuvor zog er mir Stiefel über die Füße. Seine Hände fassten meine Hände. Dann nahm er mich auf seinen Rücken und trug mich in die Welt. Ins Freie, wo alles begann. Ich hörte Wind in seinem Atem; wahrscheinlich war ich zu schwer für ihn. Vatermann trug mich weiter und weiter.
    Vatermann sagte nichts. Ich war schwer. Ich sagte auch nichts, weil ich noch keine Worte kannte. "
    Es ist Michael, der den in eine enge Kammer eingepferchten Jungen finden wird und den Kaspar Vatermann nennt. Stehen sich die Schicksale von Michael und Kaspar zu Beginn des Romans nur gegenüber, so nimmt die Geschichte Fahrt auf, als deutlich wird, in welcher Verbindung die beiden wirklich stehen. Kristien Dieltiens schafft es, sich beim Erzählen ihrer Geschichte trotz Nähe zu den historischen Fakten nicht einengen zu lassen. Dabei handeln ihre Figuren psychologisch subtil genau beobachtet aus dem historischen Kontext heraus, der überzeugend konstruiert ist. Michael und Kaspar werden, ohne es zu ahnen, Spielbälle im politischen Ränkespiel um Intrigen, Gegenintrigen und Macht. Auch wenn beide durch tiefe seelische Wunden gezeichnet sind, verhalten sie sich nicht wie ihre Peiniger.
    Kaspar verurteilt nie den Fremden, der ihn eingesperrt und versorgt hat. Michael missbraucht seine Stellung bei Hofe nicht, um das Leid, das ihm angetan wurde, weiterzugeben. Kristien Dieltiens erzählt szenisch und schafft es trotz zeitlicher Distanz, für ihre beiden Außenseiter Verständnis, Sympathie und Emotionen zu entwickeln, denn beider Innenleben wird einerseits im Tagebuch und andererseits durch eine bildhafte Sprache offengelegt.
    "Ich bin absolut sensibel, wenn es um die Grenze zwischen Fakten und Fiktion geht. Es gibt verschiedene Elemente, die einfach fest sind, zum Beispiel Daten und Schauplätze. Ich möchte die Geschichte nicht neu schreiben, nicht schummeln. Das wäre dem Leser gegenüber nicht fair. Aber wenn ich Interviews mit vielen Leuten führe und sie erzählen mir ähnliche persönliche Erinnerungen, dann vereine ich ihre Geschichte in einer einzelnen Figur. Diese erdachte Figur, so hoffe, ich, verkörpert dann in sich menschliche Erfahrungen, von denen ich gehört hatte.
    Die Fiktion schenkt mir diese Flexibilität, in einem Sachbuch wären die Grenzen viel enger. Aber ich muss auch bei den erdachten Szenen vorsichtig sein. Es kann sein, dass jemand etwas erzählt, was er nicht richtig erinnert. Aber wenn ich die gleiche Geschichte von unterschiedlichen Leuten höre, dann weiß ich, dass es wirklich geschehen ist und ich verarbeite es in meinem Buch",
    sagt die amerikanische Autorin Ruta Sepetys. Ihr historischer Roman "Salz für die See" liest sich gewollt oder ungewollt wie eine Analogie zur Gegenwart. Auch wenn die Deutschen noch keine Evakuierungserlaubnis erteilt haben, verlassen viele Menschen in bitterer Kälte 1945 ihr Zuhause und fliehen vor der russischen Armee. Joana, eine junge Krankenschwester aus Litauen, die 15-jährige schwangere Polin Emilia und Florian, offenbar ein desertierter deutscher Soldat, helfen einander selbstlos und lernen sich so näher kennen. Ein alter Mann, der sogenannte Schuh-Poet, nimmt sich eines kleinen Waisenjungen an, Ingrid, eine blinde Frau, ist auf Joanas Hilfe angewiesen und Eva ist dabei, eine Frau, die unreflektiert ausspricht, was ihr in den Sinn kommt. So unterschiedlich alle sind, so verbindet sie doch eine Schicksalsgemeinschaft, in der immer wieder Konflikte ausbrechen.
    "Die Kleine hat noch Glück im Unglück.", sagte Eva.
    "Wie meinst du das?"
    "Mein Mann erzählt, dass Hitler die polnischen Intellektuellen für politische Gegner hielt. In Lwów wurden alle Professoren hingerichtet. Bestimmt auch der Vater des Mädchens. Tut mit leid, das sagen zu müssen, aber er wurde bestimmt mit einer Klaviersaite erdrosselt und."
    "Hör auf, Eva."
    "Wir können das Mädchen nicht mitnehmen. Ihr Mantel ist voller Blut. Sie hat eindeutig Ärger am Hals. Und sie ist Polin."
    "Ich bin Litauerin. Willst du mich auch loswerden?" Ich hatte genug davon. Dieses Nur für Deutsche ekelte mich an. Durften wir unschuldige, entwurzelte Kinder im Stich lassen? Sie waren Opfer, keine Soldaten. Aber manche Leute sahen das natürlich anders.
    Joana erzählt aus ihrer Sicht von den Geschehnissen, aber auch Florian, Emilia und der naive verträumte Matrose Alfred von der Wilhelm Gustloff kommen zu Wort.
    Letztendlich werden alle Flüchtlinge mit mehr oder weniger Schwierigkeiten voller Hoffnung auf das Schiff gelangen, ohne zu ahnen, welche Tragödie ihnen noch bevorsteht. Alle erinnern sich an unsagbare Grausamkeiten und verbergen einen tiefen inneren Schmerz voreinander, denn auf die eine oder andere Weise ist jeder schuldig geworden.
    "Als ich mit der Arbeit für "Salz für die See" begonnen habe, konnte ich nicht ahnen, dass parallel zur Veröffentlichung meines Buches uns diese Flüchtlingskrise bewegen wird. Ich habe diese Geschichte von Flüchtlingen als Tochter eines Flüchtlings interessant gefunden. Mein Vater ist aus Litauen geflohen und war neun Jahre in Flüchtlingslagern, acht Jahre davon in Deutschland."
    Wie in Waldtraut Lewins Jugendbuch finden sich auch Passagen bei Ruta Sepetys, die sich erschreckend aktuell lesen.
    "Hitler hat mir erlaubt, ins Deutsche Reich zu kommen, weil er glaubt, manche Balten könnten 'germanisiert' werden. Aber für jeden Menschen, der kommen darf, wird eine arme Seele wie Emilia vertrieben." Eva zuckte die Schultern. "Das Leben ist nun mal ungerecht. Du hast einfach Schwein." Ich hatte nicht das Gefühl, Schwein zu haben. Ich fühlte mich schuldig.
    "Ich habe ausgiebige Recherchen für dieses Buch angestellt. Ich habe sechs unterschiedliche Länder besucht, Historiker getroffen, mit Tiefseetauchern, Überlebenden und ihren Familien gesprochen. Das war sehr interessant für mich, denn jede Person hat auf unterschiedliche Weise ihre Geschichte erzählt, jeder sah es aus einer anderen Perspektive. Das hatte einen großen Einfluss auf mein Schreiben. Darum habe ich auch vier Blickwinkel für die Geschichte des Buches gewählt. "
    Andeuten, ohne zu detailliert zu werden
    Ruta Sepetys deutet gewaltsame Erfahrungen, die ihre jungen Protagonisten erleben mussten, nur an, geht aber nie ins Detail. Sie baut auf einen Leser, der mitfühlt und erahnt, was geschehen sein könnte. Im Mittelpunkt des komplexen Romans steht der packende Überlebenskampf der Fliehenden und deren moralische Integrität, ohne diese vordergründig zu thematisieren. Dabei verwebt die amerikanische Autorin berührend und erschütternd zugleich die menschlichen Schicksale, mit wahren historischen Tatsachen: den Untergang der Wilhelm Gustloff, die Existenz des legendären Bernsteinzimmers und das Unternehmen Hannibal.
    "Wenn ich schreibe, ist mein Hauptziel nicht unbedingt die emotionale Wirkung. Ich möchte aber letztendlich Menschen eine Stimme geben, die nicht in der Lage sind, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Wenn mich Leute fragen, ob ich einen Plan habe, dann sage ich, ja, den habe ich.
    Es gab Menschen, die haben ihre Botschaften aufgeschrieben und als Flaschenpost verschickt. Bei meinen Forschungen habe ich diese Texte entdeckt und erkannt, diese Menschen brauchen eine Stimme. Wenn ich einen Plan habe, dann will ich diese Geschichten aus dem Wasser, aus der Dunkelheit holen und sie jungen Lesern und Erwachsenen schenken, um ihnen so eine Zukunft zu geben."
    Erzählen in versetzten Zeiten
    Von jungen Protagonisten, aber in einem völlig anderen zeitlichen Umfeld erzählt Lucy Inglis in ihrem Jugendroman "Worte für die Ewigkeit". Die englische Autorin und Historikerin teilt ihre Geschichte in zwei Handlungsstränge, in denen einerseits Emily und Nate und andererseits Hope und Cal die Hauptfiguren sind. Emily und Hope erleben in Montana zeitversetzt, die eine mit Pferd und Wagen, die andere im Pick-up, an genau der gleichen, morschen Brücke einen folgenschweren Unfall.
    1867 bricht die 16-jährige Emily von London nach San Francisco auf, um ihren Verlobten, den Erben der größten Eisenbahngesellschaft, den sie noch nie gesehen hat, zu heiraten. Verwöhnt, naiv und vor allem eingezwängt in ein unerträgliches Korsett, reist die junge Frau mit einer verbitterten Anstandsdame durch gefährliches Indianergebiet. Es ist die Zeit, in der noch zahlreiche Büffelherden durch die Landschaft ziehen.
    Auf ihrem Weg passiert Emily dann die Brücke und findet sich schwer verletzt im Flussbett wieder. Sie ist die einzige Überlebende. Als Hope, ebenfalls 16 und aus London stammend, 150 Jahre später mit ihrer alles bestimmenden Mutter auf der Ranch der Familie Crow in Montana ankommt, sind die Büffel fast ausgestorben. Hope reist mit Cal Crow, einem jungen Farmer. Beide können sich nach dem Einbruch der Brücke aus dem Auto retten, müssen aber nun ohne funktionierende Handys die Tage bis zu ihrer Rettung überstehen. Hope findet in der Hütte, die sie und Cal entdecken, Emilys Tagebuch.
    'Cal dachte darüber nach. 'Wahrscheinlich haben sie diesen Weg genommen, um der Colera zu entgehen. und vielleicht auch den Sioux-Kriegen...'
    'Genau. Das sagt sie auch. Komisch ist nur, dass das Tagebuch wie ein Brief geschrieben ist. Ein Brief an einen anderen Mann mit hellen Augen und einem verkrüppelten Bein. Bin mal gespannt, wer das ist. So weit bin ich noch nicht.'"
    Emilys Retter ist Nate, ein Vorfahre von Cal, ehemaliger Soldat und Deserteur. Nates Mutter hat nach dem Tod ihres Mannes Red Feather, einen Indianer, geheiratet, von dem Nate nur mit Hochachtung spricht. Von ihm hat er vieles gelernt, seine Freunde sind eher Indianer als Weiße. Emily hat keine Wahl, sie muss mit Nate mitgehen, zumal dieser sich nicht bereit erklärt, sie nach Portland zu bringen.
    "'Du hast mich spöttisch angesehen.'
    'Was ist? Hat's Ihnen die Sprache verschlagen?'
    'Ich war dazu erzogen, stets freundlich und fügsam zu sein, und kämpfte mit meinen Worten. 'Was ist?' Sie halten mich hier fest, das ist!'
    'Ich halte Sie nicht fest. Sie können jederzeit gehen.'
    'Du hast auf die Berge draußen gezeigt.'
    'Hier, bitte.'
    'Aber ich ... weiß ja nicht, wohin?'
    'Ach wirklich?'
    'Das ist nicht anständig von Ihnen', wisperte ich mit aufgerissenen Augen. 'Das Ganze Leben ist nicht anständig. Sie werden sich schon wieder beruhigen.'"
    Emily muss alle Anstandsregeln, die ihr von klein auf eingetrichtert wurden, vergessen. Sie lernt reiten, kochen, haushalten, kurzum das Überleben in der Wildnis. Und sie teilt mit diesem Fremden das Bett. In dieser fast unberührten Natur am anderen Ende der Welt findet die junge Frau für sich ein Stück persönlicher Freiheit. Emily aus dem 18. Jahrhundert wird nicht als moderne Figur gezeichnet, sie geht eine gesellschaftlich völlig indiskutable Beziehung ein, die auch wenn sie tragisch endet, die junge Frau stärkt und verändert. In der zeitlichen und individuellen Gegenüberstellung der Erlebnisse von Emily und Hope, liegt der Reiz der Lektüre. Beide geraten in ähnliche Situationen, verlieben sich und durchleben den Prozess eines Wandels, denn auch Hope gewinnt an Selbstvertrauen und lehnt sich endlich gegen ihre Mutter auf.
    Die Stärke des historischen Romans
    Das ist die Stärke des historischen Romans, mag man noch so viel theoretisch über historische Epochen gelesen haben, eine wirkliche Lebenswelt ist nur im Roman darstellbar. Durch junge Protagonisten, die oftmals im Zentrum der Geschichten stehen, vermag er beim Leser Empathie zu erzeugen, Erfahrungen zu vermitteln und möglicherweise auch das Interesse, sich mit geschichtlichen Hintergründen näher zu befassen. Oder er unterhält einfach nur gut, indem er den Leser in ein Abenteuer hineinzieht, wie in Roland Paulers Mehrteiler "Bärentöter".
    Mitte des 14. Jahrhunderts spielt die Geschichte, in der sich Wilfried dem durchreisenden Viehtreiber Zoltan anschließt, um seiner Familie zu helfen, die seit dem gewaltsamen Tod des Vaters hungern muss. Und so verlässt der 14-Jährige seine Mutter Lisa und die Geschwister und begibt sich in die Welt hinaus, um festzustellen, dass er gar nicht der ist, der er glaubt zu sein.
    Roland Pauler, ausgewiesener Altphilologe und Kenner des Mittelalters, erzählt temporeich und streut immer wieder detailreich zeitgeschichtlich interessante Informationen ein, zum Beispiel über die Pest in Italien oder den Papst, dessen Geldgier nur Unheil bringt und die Auseinandersetzungen zwischen heidnischem und christlichem Glauben.
    "Als Zoltan beim Absteigen das rechte Bein über den Pferderücken schwang, entdeckte Wilfried, dass er unter seinem Hemd ein Kleidungsstück trug, das den Unterleib bedeckte. So etwas hatte er im Dorf noch nie gesehen. Er hatte keine Ahnung, dass es so etwas wie Unterhosen gab. Nicht einmal der Grundherr trug eine."
    Nachdem die Viehtreiber von Räubern überfallen wurden, soll Wilfried in der Stadt Hilfe beim Friedensrichter Graf Gerald von Reiffenstein erbitten. Als dieser den Jungen sieht, ahnt er, dass Wilfried sein Kind sein könnte. Einst hatte der Vater vom Grafen die Verbindung zwischen Lisa und Gerald unterbunden und Lisa an den Lehnsmann Poschinger verschachert. Der kometenhafte Aufstieg vom Bettelknaben zum Grafensohn verwirrt und verunsichert Wilfried.
    "Ich habe geglaubt, die Adligen können tun und lassen, was sie wollen, sie wären frei in ihren Entscheidungen. Stimmt das nicht?", fragte Wilfried.
    "Da täuschst du dich gewaltig, Wilfried. Ich bin frei und Lehnsmann der Herzöge von Bayern. Ruft mich der Herzog, von dem ich mein Lehen habe, zu den Waffen, so muss ich ihm folgen wie du dem Poschinger, wenn er dich zum Ackern ruft. Ich bin frei und gebunden zugleich."
    Fasziniert in diesem Roman das andersartige, unglaublich abenteuerliche Leben eines 14-Jährigen, so entwirft Roland Pauler trotz spannender Handlung ganz nebenbei auch ein anschauliches Bild der Ständegesellschaft im Mittelalter.
    Der historische Roman erzählt von wahren und fiktionalen Figuren. Vergangene Epochen aus Farben, Gerüchen und Geräuschen entstehen, die die Fantasie anregen und durchaus darf in diesem Genre auch Wissen vermittelt werden. Der historische Roman soll stimmungsvoll unterhalten und auch zeitlose menschliche Grundfragen aufwerfen: Wer bin ich? Was ist der Sinn meines Lebens? Wer will ich eigentlich sein? Was bedeuten Liebe oder Tod? Wenn Autoren Vergangenes in überzeugenden Geschichten erzählen, dann gelingt es auch, jungen Lesern ihre gegenwärtige Welt etwas verständlicher zu machen.
    Waldtraut Lewin: "Córdoba", Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2016, 319 Seiten, Euro16,95, 978-3-8369-5458-7
    Roland Pauler: "Bärentöter", Fabulus-Verlag, Fellbach 2016, 288 Seiten, Euro16,95, 978-3-944788-38-8

    Ruta Sepetys: "Salz für die See", Aus dem Englischen von Henning Ahrens, Königskinder Verlag im Carlsen Verlag, Hamburg 2016, 416 Seiten, Euro19,99, 978-3-551-56023-0

    Lucy Inglis: "Worte für die Ewigkeit", Aus dem Englischen von Ilse Rothfuss, Chicken House im Carlsen Verlag, Hamburg 2016, 397 Seiten, Euro19,99, 978-3-551-52087-6

    Kristien Dieltiens: "Kellerkind", Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2016, 413 Seiten, Euro19,90, 978-3-8251-7970-0