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Historische Studie
Die Rolle der Familie in Diktaturen

Es mangelt nicht an Büchern über die Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Der britisch-italienische Historiker Paul Ginsborg ist jedoch der erste, der in seinem Buch diese Epoche auf einen ganz neuen Aspekt hin untersucht hat: Welche politische Rolle spielte die Familie in Diktaturen? Eine bahnbrechende und hochaktuelle Studie.

Von Cordula Echterhoff | 12.01.2015
    Der Schatten einer Familie, die sich an der Hand hält.
    Ein Idealbild der Familie wurde in Diktaturen häufig zur Selbstdarstellung genutzt. (picture alliance / dpa / M. C. Hurek)
    Paul Ginsborg beginnt sein Buch mit dem Verschwinden der Familie. Im post-revolutionären Russland, als das Zarenreich abgelöst wurde und die Bolschewisten an die Macht kamen, träumt Alexandra Kollontai, einzige Frau in Lenins Revolutionsrat, einen revolutionären Traum: Von der Gleichberechtigung der Frau und dem Ende der bürgerlichen Ehe, die für sie eine "Degradierung der Frau zum Eigentum des Mannes" ist. Sie will eine gleichberechtigte Partnerschaft, mit Leidenschaft und Achtung, die nicht unbedingt auf Dauer angelegt ist, wie Ginsborg schreibt. Die Aufgaben, die die Frau ans Haus fesseln – vom Wäschewaschen bis zur Kindererziehung – sollen künftig vom Staat übernommen werden. An erster Stelle steht nicht die Familie, sondern das Kollektiv. Ginsborg zitiert Alexandra Kollontai:
    "Die Frau, die den Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse aufnimmt, muss verstehen lernen, dass für die alte besitzergreifende Haltung kein Platz mehr ist, die sagt: 'Das sind meine Kinder. Ich schulde ihnen meine ganze mütterliche Fürsorge und Zuneigung; und das sind eure Kinder, sie gehen mich nichts an, und es ist mir gleichgültig, wenn sie hungern und frieren – ich habe keine Zeit für andere Kinder.' [ ... ] Die werktätige Mutter muss lernen, nicht zwischen meinen und deinen zu unterscheiden; sie muss sich vor Augen führen, dass es nur unsere Kinder gibt, die Kinder der kommunistischen Arbeiter Russlands."
    Neue Gesetze stellten Familientraditionen auf den Kopf
    Alexandra Kollontai wollte, dass die Familie im Staat aufgeht. So weit sollte es in Russland nie kommen. Dennoch wurden in dem neu gegründeten Arbeiter- und Bauernstaat zwischen 1918 und 1926 radikal moderne Gesetze erlassen, die die bisherigen paternalistisch und kirchlich geprägten Familientraditionen auf den Kopf stellten: Die zivile Ehe wurde eingeführt, Scheidung wurde möglich, wenn einer der beiden Partner dies wollte, und die Gleichstellung von Mann und Frau wurde gesetzlich festgeschrieben; innerhalb wie außerhalb der Ehe. Ein Novum in Europa. Doch die Familie als solche wurde nicht angetastet, schreibt Ginsborg:
    "Man konnte dies auch als Eingeständnis des Gesetzgebers deuten, der eingesehen hatte, dass der Staat allein nicht imstande war, das zu tun, was er sich im Jahr 1918 vorgenommen hatte. Die Familien würde es noch einige Zeit geben."
    Paul Ginsborg, der an der Universität Florenz Geschichte lehrt, betrachtet in seinem Buch die großen Umbruchphasen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wenn Ideologien und Systeme neu verhandelt werden, dann steht auch das Bild der Familie auf dem Prüfstand. Der Historiker beleuchtet die Alternativen und revolutionären Träume, vor allem aber die Politik der großen Diktaturen und zeigt, wie sie die Familie formten und führten. Dabei spannt er einen Bogen vom revolutionären Russland über Atatürks neu gegründeten türkischen Nationalstaat bis zu den faschistischen Diktaturen und Stalin. Ginsborg schildert die ideologischen Familienmodelle immer vor der Folie der Tradition und des wirklichen Lebens, das sich wesentlich behäbiger ändert als die Gesellschaftstheorien und Gesetzgebungen. Alexandra Kollontais Traum vom Aufgehen der Familie scheiterte nicht zuletzt an den russischen Bauern, die in orthodox-paternalistisch organisierten Familienverbänden lebten. Trotzdem vollzogen die Bolschewisten einen radikalen Bruch mit der Macht der orthodoxen Kirche und dem Patriarchat. Wenig später sollte Atatürk mit den osmanischen Traditionen brechen, um einen westlich orientierten türkischen Nationalstaat zu etablieren. Dem osmanischen Modell, in dem die Frau auf das häusliche Leben reduziert war, setzte er ein westlich orientiertes Bild entgegen: Er führte 1934 das Frauenwahlrecht ein, stärkte die Rechte der Frau und förderte ihre Bildung; ohne aber die Vorherrschaft des Mannes anzutasten. Er etablierte einen "emanzipierten Paternalismus", wie Ginsborg es nennt.
    "Die republikanische Familie sollte als monogamer Nukleus erhalten bleiben, als sicheres 'Nest', das dem Leben der neuen Nation als Keimzelle diente."
    Die Instrumentalisierung der Familie
    Dieses Motiv war auch in den faschistischen Diktaturen von Bedeutung. Die Familie wurde gebraucht, um einen funktionierenden, expansiven Staat zu etablieren. Unter Mussolini, Franco oder Hitler sollte die Frau zu Hause bleiben und Kinder kriegen. Sie wurde, so Ginsborg, zur "geschätzten Aktivistin an der Reproduktionsfront", die in der Sphäre des Mannes nichts zu suchen hatte. Der Historiker zeigt, wie die Diktatoren die fruchtbare Familie zu fördern versuchten – etwa durch entsprechende Gesetze und Wohlfahrtsprogramme. Das ging einher mit einer Umwertung der Werte: So wollte Mussolini etwa, dass die Familien den Staat als obersten spirituellen Wert anerkennen sollten – an Stelle von Gott. Doch gegen die Kirche kam Mussolini im katholischen Italien nicht an. Unter Hitler sollte die Familie in der Volksgemeinschaft aufgehen. Die Nationalsozialisten griffen tief in das Private ein, etwa mit den Jugendverbänden. So schafften sie es, die Familien für ihre Zwecke massenhaft zu mobilisieren. Am Ende des Buches allerdings ist eines klar: Die Familienpolitik in den Diktaturen war höchst ambivalent. Sie förderten die "richtige" Familie. Die "andere", "fremde" wurde verfolgt – sei es aus rassistischen, religiösen oder nationalistischen Gründen. Und auch wenn sie tief in die Familie eindrangen, sie mit Gesetzen und Programmen in ihrem Sinne zu formen suchten, die Familie an sich stand nicht infrage:
    "Die tatsächlich existierenden Regime der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, denen man für gewöhnlich das Adjektiv 'totalitär' zuschreibt, haben in Bezug auf das Familienleben durchaus nicht derart 'total' gewirkt. Sicher gingen diese Diktaturen gnadenlos und oftmals auf barbarische Weise gegen Familien vor. Doch sie waren nicht gegen die Institution Familie an sich. [ ... ] Die Tyrannen wünschten sich einen Zusammenhalt der Familien, keine Zersplitterung in atomisierte Individuen."
    Paul Ginsborgs Buch "Die geführte Familie" ist eine bahnbrechend umfassende Studie; detail- und anekdotenreich, ist sie unterhaltsam und erkenntnisreich zugleich. Und zudem hochaktuell. Liest man über die "geführte Familie" von damals, denkt man die heutige unwillkürlich mit. Debatten über Elternzeit oder Betreuungsgeld zeigen: Familienpolitik ist nie frei von Ideologie, auch heute noch geht es um erwünschte Formen des Zusammenlebens und nicht zuletzt um den Einfluss auf die Geburtenrate. Mit Ginsborg versteht man die Mechanismen, wie die Familie zu welchem Zweck geformt wird. Sei es nun diktatorisch verordnet oder demokratisch legitimiert.
    Paul Ginsborg: Die geführte Familie. Das Private in Revolution und Diktatur 1900 - 1950
    Übersetzung: Heike Schlatterer, Ursula Held, Norbert Juraschitz, Hoffmann und Campe, 752 Seiten, 38,00 Euro, ISBN: 978-3-455-50329-6.