Samstag, 20. April 2024

Archiv


Historisches Lexikon für Kernkraftgegner

Wenn ein Buch mit wissenschaftlichem Anspruch 40 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch einmal unverändert herausgegeben wird, muss es schon etwas Besonderes sein. Vieles hat heute noch Gültigkeit oder erscheint im Licht der Ereignisse sogar erschreckend visionär.

Von Dagmar Röhrlich | 07.11.2011
    Rund 1300 Seiten, zahllose Statistiken, Diagramme, etliche schlecht gedruckte Fotos und ein nicht gerade mitreißend geschriebener Text. Das klingt kaum nach einem Bestseller. Vor allem, wenn er nicht in den Läden ausliegt, sondern beim Verlag bestellt werden muss. Trotzdem hat sich vor rund 30 Jahren die erweiterte Ausgabe von Holger Strohms ursprünglich schon 1973 erstveröffentlichtem Buch "Friedlich in die Katastrophe" etwa 400.000 mal verkauft. Dieses Buch traf einen Nerv der Zeit: Es beschäftigte sich mit der Atomenergie - und zwar aus Sicht der Gegner.

    Bund, Ländern und Industrie stehen jährlich Millionenbeträge zur Verfügung, der Bevölkerung immer wieder die gleichen Falschinformationen einzubläuen: Atomkraftwerke sind umweltfreundlich, ungefährlich, Rettungsringe der in der Energiekrise versinkenden Industriegesellschaft. Aber Falschmeldungen gewinnen selbst durch Wiederholungen nicht an Richtigkeit, sondern stumpfen den Adressaten ab, ersticken durch den steten Würgegriff seine natürliche Angst und sollen ihm die Kraft nehmen, Widerstand zu leisten.

    Holger Strohm schrieb dieses Buch, weil die Technologie derart komplex anmutete, dass nicht viel anderes übrig zu bleiben schien als den Fachleuten zu vertrauen oder eben zu misstrauen. Er aber wollte, dass die Gegner nicht nur aus dem Bauch heraus "irgendwie" dagegen sein, sondern mit wissenschaftlichem Anspruch argumentieren konnten.

    So verbesserte er das Niveau der Kernkraftkritik erheblich: "Friedlich in die Katastrophe" war eine Art Lexikon für alle Fragen der Atomenergie - allerdings ein parteiisches Lexikon, kein abgewogenes Pro und Contra. Hier trägt ein Gegner konsequent seine Argumente gegen den Nuklearstrom vor - und zwar vor dem Hintergrund einer enorm aufwendigen Recherche. So zitiert er Stephen H. Hanauer, seinerzeit leitender Sicherheitsbeamter bei der US-Atomüberwachung NRC:

    Jüngste Ergebnisse haben die Sicherheitsnachteile der Sicherheitsbehälter von Siedewasserreaktoren ans Tageslicht gebracht. Obwohl sie auch einige Sicherheitsvorteile haben, überwiegen - nach Abwägung beider Seiten - die Nachteile.

    1972 riet Hanauer vom Bau dieser Reaktoren ab, schrieb Strohm. Vertreter dieses Reaktortyps sind in Fukushima Daiichi nun seit mehr als einem halben Jahr außer Kontrolle. Strohm warnte damals auch vor der Verstrickung von Kontrolleuren und Industrie - ein Faktor, der zumindest in Japan dazu beigetragen hat, dass die Sicherheit auf die leichte Schulter genommen wurde. Damals verband der Autor seine Kritik an der Kernenergie auch mit der am Kapitalismus und der Illusion von der Machbarkeit eines unbeschränkten Wirtschaftswachstums:

    In den letzten Jahren wurde das Konzept des ständig anwachsenden Bruttosozialprodukts und des damit verbundenen Wirtschaftswachstums erstmalig in der Geschichte der Menschheit mit gewichtigen Argumenten angezweifelt. Dennoch handeln Regierungen, Industrien und Behörden weiter nach eben diesem Prinzip und stellen die Weichen in eine Zukunft, die in die Katastrophe führen wird.

    Sicher geht Holger Strohm manchmal zu weit: So orientierte er sich bei der Bewertung der Folgen einer Reaktorkatastrophe zu sehr an den Erfahrungen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki. Aber seine Warnungen vor dem Chaos bei der Evakuierung haben sich in Tschernobyl und Fukushima bewahrheitet. Und auch sonst noch so einiges:

    Ein entscheidender Punkt bei der Evakuierung ist eine schnelle und wirksame Benachrichtigung der Bevölkerung. Bei dem Unfall in Harrisburg wurden aber vom Betreiber wesentliche Informationen vorenthalten.

    Nicht anders als in Fukushima. Natürlich fehlt in diesem Buch das aus der Reaktorhavarie von Tschernobyl gewonnene Wissen - um nur ein Beispiel zu nennen. Andere Fragen sind - anders als der Autor es behauptet - immer noch offen, etwa die, ob selbst geringste Strahlenmengen gesundheitliche Folgen haben.

    Warum also heute ein Buch erneut lesen, in dem Jahrzehnte der Jahre Forschung fehlen? In dem viele Protagonisten längst in Vergessenheit geraten sind? Sicher ist die Zeit über vieles hinweggegangen - aber vieles hat heute noch Gültigkeit oder erscheint im Licht der Ereignisse sogar erschreckend visionär.

    Vor allem aber ist "Friedlich in die Katastrophe" als historisches Buch interessant: Es entstand in einer Zeit, als die Bürgerinitiativen sich in einem aussichtslosen Kampf glaubten. Dass sich - zwei schwere Havarien später - zumindest in Deutschland die Atomkraftgegner durchsetzen konnten, war nicht abzusehen. Die Wurzeln dieser Entwicklung lassen sich hier nachlesen.

    Um das Buch ins 21. Jahrhundert zu heben, hat SPD-Mitglied Michael Müller, ehemals Staatssekretär im Bundesumweltministerium, ein Vorwort geschrieben: Es bildet eindeutig den schwächsten Teil der Neuauflage.

    Der Hitlerfaschismus war nämlich nicht nur der verbrecherische Mord an sechs Millionen Juden, nicht nur die Ursache für unvorstellbare 55, nach manchen Schätzungen sogar bis zu 80 Millionen Kriegstote. Er war auch der Auslöser für die verhängnisvolle Entwicklung der Atomkraft. Auch sie ist ein Meister des Todes aus Deutschland.

    Eine solche geschichtsvergessene Effekthascherei hat Holger Strohms Buch nicht verdient.

    Holger Strohm: "Friedlich in die Katastrophe. Eine Dokumentation über Atomkraftwerke."
    Originalausgabe 1973, erweiterte Ausgabe 1981
    Nautilus Verlag, 1360 Seiten, 19,90 Euro.
    ISBN: 978-3-894-01748-4