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Hitlers imperiale Träume

Paradoxerweise träumten schon die Nazis von einem geeinten Europa - ein Kontinent unter deutscher Vorherrschaft, ein ethnisch einheitliches Imperium, das die Macht über die Welt innehatte und damit auch über die USA. Über dieses zentrale Motiv hat Mark Mazower ein Buch geschrieben.

Von Niels Beintker | 31.08.2009
    Der Generalplaner für den Mord an den europäischen Juden war mächtig verspannt. Mehr noch: Er war überaus erregt. Das jedenfalls berichtete sein Physiotherapeut an einem Sommertag des Jahres 1942. Auslöser für Heinrich Himmlers Muskelschmerz und Bluthochdruck war die Tatsache, dass der Führer persönlich dem Reichsführer SS gerade den angeblich glücklichsten Tag seines Lebens bereitet hatte. Hitler hatte nämlich gerade Himmlers Pläne zur Germanisierung des Ostens abgesegnet. Deutsche Siedlungen bis zum Ural!

    Durch Interkontinentalautobahnen mit Deutschland verbunden – von denen einzelne Abschnitte bereits von jüdischen Zwangsarbeitern gebaut wurden –, würden sie einen Grenzwall bilden, der Europa vor dem 'asiatischen Einbruch' schützte. Pläne und Landkarten in seiner vollgestopften Aktentasche bezeichneten Bauernhöfe und Forsten, Modelldörfer und -städte sowie alle notwendigen Einrichtungen, um das Leben einer neuen Klasse von finanziell kräftigen und selbständigen Bauernsoldaten zu sichern.

    Diese kleine Episode erzählt der amerikanische Historiker Mark Mazower in seiner großen Geschichte des Dritten Reiches, einer detailreichen Darstellung der nationalsozialistischen Großmachtträume. An derselben Stelle berichtet er auch, dass Himmler einige Tage vor seinem Gefühlsausbruch das Vernichtungslager Auschwitz besucht und die Ermordung einer Gruppe von Juden beobachtet habe. Dem Lagerkommandanten habe er danach befohlen, ihre Leichen zu verbrennen und sie nicht mehr wie bislang in Massengräbern zu verscharren. Auf gerade einer halben Seite findet sich damit der Kern dessen, was Mark Mazower die "neue Ordnung" nennt: Die schreckliche Vision eines europäischen Großreiches, das sich über den ganzen Kontinent, von der Atlantikküste im Westen bis weit in den Osten, auf das Gebiet der Sowjetunion erstrecken sollte, bewohnt von einer rassisch homogenen Bevölkerung, der Gemeinschaft der deutschen Volksgenossen. Der sogenannte Generalplan Ost, über dessen Genehmigung Himmler so jubelte, war genau in dieser Absicht konzipiert. Er enthielt sogar ein pseudowissenschaftlich untermauertes Germanisierungsprogramm, berechnet auf der Grundlage der Bevölkerungsprognosen, die Hitler selbst aufgestellt hatte:

    80 Millionen Deutsche, zehn Millionen Holländer, 300.000 Luxemburger und so weiter. Beeindruckt von den blonden, blauäugigen ukrainischen Kindern, denen er begegnet war, zählte er zehn Millionen Sklaven dazu, die 'eingedeutscht' werden konnten. Von insgesamt 127 Millionen echten oder potenziellen Deutschen ausgehend, kalkulierte Hitler dann künftige Geburtenraten.

    Hitler war, so Mark Mazower, zutiefst von der bevorstehenden Geburt eines europäischen Imperiums unter Führung der Deutschen überzeugt. Das eigentliche Motiv der nationalsozialistischen Politik war demnach der Griff nach der Weltmacht, nicht nur die Revision des Versailler Vertrages oder die Wiederherstellung der alten deutschen Machtstellung in der Welt. Wer die Vorherrschaft über den europäischen Kontinent ausübt, der kann ohne große Schwierigkeiten die Weltherrschaft übernehmen, so das Kalkül Hitlers. Den Weg zu diesem Ziel sollte, nach dem Anschluss Österreichs und der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren, ein grausamer und rassisch motivierter Krieg ebnen. Dieser Krieg begann vor 70 Jahren mit dem deutschen Überfall auf Polen und dem Versuch, die polnische Führungsschicht vollständig auszulöschen. Während der Invasion der Wehrmacht wurden mehr als 55.000 Polen ermordet, unter ihnen 7.000 Juden. Wenige Monate später veranlasste Hans Frank, der Leiter des Generalgouvernements Polen, eine sogenannte "Außergewöhnliche Befriedungsaktion", bei der 30.000 Angehörige der polnischen Elite festgenommen und 3.000 von ihnen erschossen wurden. Die ungeheure Brutalität der deutschen Besatzer diente dann als Vorbild für den Russlandfeldzug, das Unternehmen Barbarossa, das im Juni 1941 begann. Mit dem zeitgleich erlassenen Barbarossa-Befehl wurde das Kriegsrecht weitgehend außer Kraft gesetzt, unter Zustimmung der Wehrmacht. Das bedeutete: Soldaten, die Kriegsverbrechen begingen, wurden nicht mehr strafrechtlich verfolgt. Die Wehrmacht arbeitete auf diese Weise der zunehmenden Hemmungslosigkeit der NS-Führung entgegen.

    Offiziere hatten das Recht, Vergeltungsmaßnahmen gegen jedes Dorf zu ergreifen, aus dem geschossen worden war. Soldaten sollten nicht einmal für Handlungen bestraft werden, die Kriegsverbrechen darstellten. Um die Militärgerichte vor Hitler zu schützen, der sie womöglich ganz aufgelöst hätte, entzog ihnen das Oberkommando auf unbestimmte Zeit die zivilen Vergehen. Offiziere konnten nun völlig frei über das Schicksal russischer Zivilisten entscheiden.

    Beispielhaft für diesen völlig rechtsfreien Raum ist der Umgang mit den mehr als drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die in den ersten Monaten des Feldzugs festgenommen wurden. Der größte Teil von ihnen wurde ermordet. Mark Mazower zeigt, dass die Wehrmacht mit diesen riesigen Gefangenenzahlen überfordert gewesen ist und ihren Tod billigend in Kauf nahm. Mit der Gewalt gegen die Soldaten der Roten Armee ging die massenhafte Ermordung der jüdischen Zivilbevölkerung einher. Die Besatzer griffen dabei auf die Hilfe zahlreicher faschistischer und antisemitischer Gruppen in den besetzten Gebieten zurück. Zudem entwickelten viele Wehrmachtsangehörige den unfaßbaren Ehrgeiz, sich von den Sonderkommandos der SS nicht ausstechen zu lassen. Von der hemmungslosen Brutalität der deutschen Besatzer gegen die Angehörigen der sowjetischen Armee bis zur sogenannten Endlösung der Judenfrage war es für Mazower nur ein kleiner Schritt.

    Als die Deutschen abzogen, waren in den Grenzen von 1941 über zwei Millionen Juden ermordet worden. Von diesen hatten vielleicht 1,6 Millionen auf dem Territorium gelebt, das von 1939 bis 1941 von der UdSSR besetzt war. Juden hatten überall am stärksten unter deutscher Brutalität zu leiden, aber wo die Rote Armee zuvor geherrscht hatte, starben die meisten. Hier schlugen die deutschen Hinrichtungskommandos am frühesten und ohne Vorwarnung zu.

    Der Russlandfeldzug brachte den Wendepunkt des Krieges, er war der Anfang vom Ende der Naziherrschaft. Und das Aus für die blutigen Pläne für ein großgermanisches Imperium in Europa. Vieles von dem, was Mazower schreibt, ist bekannt. Hier und dort aber wartet er mit neuen Erkenntnissen auf, etwa wenn er neue Quellen über die "Aktion Reinhardt" erschließt, die die Brutalität dieses ersten systematischen Massenmords an den Juden im Baltikum belegen. Auch wenn gelegentlich der rote Faden seiner Argumentation ein wenig untergeht in der Darstellung vieler detaillierter Episoden, lässt sich dieses Buch, eine materialreiche und sehr spannend geschriebene Darstellung, mit Gewinn lesen. Nicht zuletzt liegt das an Mazowers ebenso gewagtem wie provokantem Versuch, nach Überbleibseln der ,,neuen nationalsozialistischen Ordnung" des Kontinents in der Nachkriegszeit zu suchen. Er entdeckt sie vor allem im Bereich der personellen Kontinuität, unter Politikern und Beratern, die schon im Dritten Reich wichtige Positionen bekleidet hatten und nach dem Krieg beim Aufbau der grenzüberschreitenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mitwirkten: Männer wie Ludwig Erhard, Hermann Josef Abs oder Karl Blessing, der spätere Bundesbankpräsident. Eine These, die unter hiesigen Historikern eine spannende Diskussion auslösen könnte. Mark Mazowers Geschichte des nationalsozialistischen Imperialismus, seiner unmittelbaren Folgen und Nachwirkungen, eröffnet neue Perspektiven für die Beschäftigung mit dem Dritten Reich.

    Mark Mazowers Buch "Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus" ist im Verlag C.H. Beck erschienen. 704 Seiten kosten 34 Euro. Nils Beintker war der Rezensent.