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Hochhaus und Lektüre

Walter Helmut Fritz ist ein bedeutender Lyriker und Erzähler - und ein stiller Autor, der jeden Rummel um seine Person meidet. Seit 40 Jahren wohnt er in der weitgehenden Anonymität eines Hochhauses der Karlsruher Waldstadt. Manche Anwohner erzählen, man sehe den Autor manchmal in einem Buch lesend durch den nahen Hardtwald spazieren. Stadt und Wald kommen auch in einem seiner Gedichte vor:

Von Matthias Kußmann | 26.08.2004
    In Karlsruhe
    Tägliche Stadt, Fortgang, Vibration
    mit vertrauten Wegen, Plätzen, Häusern,
    die horchen, sich zu einem kurzen
    Umzug zusammentun, früh die Augen zumachen.
    Hier auf einem Sand- und Kiesrücken
    der Oberrheinebene, wenig tellurischer Druck,
    zwischen Daxlanden und Durlach,
    der Hardtwald ist in der Nähe, das Albtal.
    An diesem Ort gerecht zu leben versuchen,
    älter werdend in der Schwerkraft,
    in Zimmern mit umhergehenden Stunden,
    Arbeit, Liebe, Wörtern, Gegenwart.


    Walter Helmut Fritz wurde vielfach für sein Werk ausgezeichnet - unter anderem mit dem Georg-Trakl-Preis und dem Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er hält weltweit Lesungen und Vorträge, engagiert sich für unbekannte Autoren - und tut dies alles zurückhaltend, leise.
    In einem Gedicht zitiert er den italienischen Maler Giorgio Morandi, der jahrzehntelang dieselben Gläser, Flaschen und Dosen malte:

    Ich habe das Glück gehabt, ein ereignisloses Leben zu führen.

    In Morandi hat Fritz einen Wahlverwandten gefunden. Auch in seinen Texten passiert äußerlich wenig. Sie sind eher unauffällig, einfach, lakonisch - und dennoch poetisch: "Poesie ohne Aufwand" nannte sie ein Kritiker einmal. Fritz schreibt über alltägliche Dinge und Situationen, über Reiseeindrücke und die Natur, über Begegnungen mit anderen Autoren, Kunst und Musik:

    Ich nehme an, daß beides, sowohl Themen wie Stil, sich ergeben aus der Art, wie man lebt. Mir fällt in diesem Zusammenhang ein schönes Wort von Philippe Jaccottet ein, nämlich der Satz: "Die Schwierigkeit liegt nicht im Schreiben. Die Schwierigkeit liegt nur darin, so zu leben, daß das zu Schreibende dann natürlich daraus entsteht." Das ist für mein Gefühl der gute Versuch einer Erklärung, wie so etwas zustandekommt.

    "Im Anschauen" heißt eines seiner Gedichte - und im ruhigen Anschauen, das zugleich distanziert und ein Sicheinlassen auf die Dinge erlaubt, liegt die Stärke seiner Texte. Immer wieder geht es Fritz um Aufmerksamkeit und Wahrnehmung:

    Wahrscheinlich sind diese beiden Dinge das Wichtigste überhaupt, das Zentrum (...) von Leben und geistiger Tätigkeit. (...) Ich wüßte keine besseren Stichworte.

    Walter Helmut Fritz wurde am 26. August 1929 in Karlsruhe geboren. Er studierte Literatur und Philosophie, arbeitete als Gymnasiallehrer, später als Dozent an der Karlsruher Universität. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller. Bereits Mitte der 50er Jahre veröffentlichte er erste Gedichte. Mehrere Autoren erkannten das Talent des jungen Kollegen und setzten sich für ihn ein:

    Ich will mal stellvertretend nennen den Karl Krolow: weil ich mit dem ziemlich früh in Kontakt kam, weil sich mit ihm relativ früh ein ausführlicher Briefwechsel ergab, weil er mir ein Vorwort zu meinem ersten Buch schrieb - und weil sich aus all dem eine Lebensfreundschaft entwickelt hat.

    1956 erschien Fritz´ Debüt, der Lyrikband mit dem programmatischen Titel "Achtsam sein". Dem folgten bis heute rund 50 weitere Bücher: Aufzeichnungen, Erzählungen, Romane, Übersetzungen, bibliophile Drucke - und natürlich Gedichte. Oft bis auf wenige freie, reimlose Verse verknappt, umreißen sie eine Situation, lassen Menschen und Dinge kenntlich werden. Dabei scheint der Ton dieser Lyrik im Lauf der Jahre noch ruhiger, verhaltener, sicherer geworden zu sein. Zudem hat Fritz zahlreiche Liebesgedichte von oft mittelmeerischer Klarheit geschrieben. Sie gehören zum Schönsten der deutschsprachigen Literatur nach 1945:

    Du bist es.
    Es ist dein sonnenwarmer Körper.
    Es ist die Bewegung deiner Hand,
    die auf das Meer deutet.
    Es ist die Linie deines Gesichts,
    sie ist da,
    ich muß sie nicht erfinden.
    Es ist die Fortdauer des Glücks.


    Doch ist in manchen Gedichten auch eine Spannung spürbar. Sie sprechen vom Labyrinth der menschlichen Existenz, vom In-die-Irre-Gehen, von unvermeidlichen Täuschungen und Fehlern. So gelingt Fritz in seinen Texten immer wieder, was er einmal so formulierte:

    Unsentimentale Zärtlichkeit in der Anschauung dessen, was uns umgibt. Lesen, wieder lesen, die Schrift aller Erscheinungen. Erkennen, daß uns das Dasein unablässig Vorschläge macht. Verstehen, daß "genießen glauben heißt" (wie sich Luther und Zwingli einigten). Der Wunsch zu vereinfachen. Das Heillose und das Wunderbare sehen.

    Wie sehr Fritz´ literarische Arbeit geschätzt wurde und wird, zeigen seine Berufungen in verschiedene Literaturpreis-Jurys und mehrere große Akademien: beispielsweise in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, und in die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur - deren Vizepräsident er seit zehn Jahren auch ist. Dort wirkt er unter anderem an der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises mit,
    der mit 50.000 Euro höchstdotierten Auszeichnung im deutschsprachigen Raum. Auch als sensibler Übersetzer hat sich Fritz einen Namen gemacht. Er übertrug Werke ihm nahestehender französischer Autoren - etwa von Philippe Jaccottet, Claude Vigée und René Ménard. Frankreich ist wohl jenes Land, mit dem ihn am meisten verbindet. Er mag die Literatur, Kultur und die Landschaften Frankreichs - wie auch anderer mittelmeerischer Länder:

    Zunächst war es tatsächlich die Literatur, ich versuchte also Autoren, die ich schätze, an ihren Lebensorten aufzusuchen, und habe die Reisen in dieser Art ausgerichtet. Und das ist eigentlich so geblieben, einfach um eine Vorstellung zu bekommen, wie und wo wer gelebt hat. Aber das hat sich dann erweitert und auf all das, was mit diesen Ländern zu tun hat, ausgedehnt.

    Walter Helmut Fritz gehört zu den wenigen deutschsprachigen Autoren, die sich intensiv mit dem französischen Nouveau Roman beschäftigten. Dort geht es weniger um chronologisches Erzählen als um die kühle Beschreibung der Umwelt und ihrer Veränderungen aus der Perspektive eines Protagonisten. Vor allem seine Prosa Umwege und die Romane Abweichung und Die Verwechslung lassen sich als poetische Fortschreibung des "Nouveau Roman" lesen:

    Mich haben die Bücher von Michel Butor, Marguerite Duras und Nathalie Sarraute, von Robert Pinget und Claude Simon, die haben mich von Anfang an fasziniert. Das ist sicherlich nicht ohne Wirkung geblieben - man lebt ja nicht im luftleeren Raum, man lebt in einem Echoraum mit unzähligen Stimmen.

    Der Roman Abweichung von 1965 beschreibt die ersten Monate einer Ehe. Ein Paar, Mitte dreißig, zieht in ein Hochhaus in einer größeren Stadt. Sie leben ein einfaches Leben, wie viele andere auch; Fritz nennt sie schlicht P. und M. Sie sprechen und schweigen, essen, reisen, gehen zur Arbeit, schlafen miteinander. Dazwischen die Fragen "Wer bin ich?", "Welche Gewißheiten gibt es?"; das Staunen über die pausenlos "wegtropfende" Zeit, wie es einmal heißt - und darüber, daß Alltägliches immer wieder neu sein kann. Die folgende Passage erzählt, wie P. morgens aufwacht:

    Das Fenster und was darin sich zeigt, ist von überdeutlicher Schärfe. Das Weiß des Betts auch. Die Bewegungen: als machte er sie zum ersten Mal. Die Hand zu M. hin, die eben erwacht, zu ihrem Gesicht, ihren Haaren, ihrem Arm, den sie ausstreckt. Die Schritte ums Bett herum. Die Schritte ins Bad und die Verwunderung, die sich einstellen kann darüber, daß es dieselben Schritte sind wie am Tag zuvor und wie an allen anderen Tagen zuvor. Und doch können sie so auffällig sein. Das Hemd, der Anzug, die Schuhe. Die Wohnung. Die Türen, die sich nach acht Stunden wieder öffnen. Der Flur ist wärmer als das Schlafzimmer, in dem über Nacht die Fenster geöffnet waren. Wenn Durchzug entsteht, wellt sich das Plakat, das sie von einer Ausstellung mitgebracht haben, auf dem in blauer Schrift steht "La Liberté des Mers." (...) Stehenbleiben und die Dinge sehen. So zeigen sie, daß sie in immerwährender Bewegung begriffen sind; in einer Bewegung, die sich so rasch vollzieht, daß sie als Ruhe erscheint. (...) Es ist vieles wieder in die Sichtbarkeit getreten und war doch in der Dunkelheit, für Stunden, hatte keine Umrisse und keine Farbe, war weg, weggewischt, und ist wieder ans Licht gekommen.

    Inzwischen ist Fritz von der großen Form des Romans abgekommen. Neben Gedichten schreibt er nun Erzählungen und vor allem "Aufzeichnungen". Dort ist Platz für bestimmte Wahrnehmungen und Reflexionen, die sich weder für die längere erzählende, noch für die knappe Form des Gedichts eignen. So auch in seinem jüngsten Buch mit dem Titel "Unterwegs". Der bibliophile Band entstand aus der Zusammenarbeit mit dem Bildhauer und Zeichner Franz Bernhard. Von ihm stammen die collagierten Bleistift-Zeichnungen: menschliche Köpfe und Torsi, einfach, mit klaren, festen Linien umrissen. Und von Fritz die Aufzeichnungen über Begegnungen mit Menschen und Landschaften, Büchern und Kunstwerken: Variationen über das Unterwegssein:

    Die Fahrt durch das Piemont, vor vielen Jahren, durch Reisebenen, Dörfer und Weinberge, die Aufenthalte in Orta, Novara, Vercelli, Ivrea und Alba, die Begegnungen mit einem Trüffelsucher (seine Finger gleich Rebstockwurzeln) und Teilnehmern des Palio in Asti - das alles war, sagst du, einmal Wirklichkeit. Die Erinnerung findet durch Dunkelheit dahin zurück, in eine vielleicht andere Weise von Zeit, zu Dingen, die zu etwas anderem geworden sind, zu Lesezeichen, Widerhall, Herzschlag. Einmal erzählte jemand von dem alten Glauben, in den Bergen schwinge sich die Erde auf, um dem Himmel zu begegnen. Groß die Untergänge der Sonne. Wie glühten sie nach.


    Die Bücher von Walter Helmut Fritz erscheinen im Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg. Der bibliophile Band "Unterwegs" ist im Stuttgarter Radius-Verlag erschienen und kostet 39 Euro.