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Hochmoderne Illustration eines alten Gedichts

Der Illustrator Dirk Steinhöfel arbeitet ausschließlich digital: Am Computer modelliert er dreidimensionale Figuren und fügt sie in digitale Bilder ein. Zusammen mit den Übersetzungskünsten seines Bruders Andreas ist so eine ganz neue Darstellung des romantischen Gedichts "Die Wolke" von 1820 entstanden.

Von Martina Wehlte | 22.10.2011
    Ein Junge schaut gelangweilt durchs Fenster in den trüben Regentag und er träumt sich hinaus unter freien Himmel; unter eine dickbauschige Wolke, die sich über ein Feld mit Kornblumen und roten Schmetterlingen ergießt:

    "Ich bringe den Regen für das dürstende Leben von den Strömen und Seen."

    So hat Andreas Steinhöfel die ersten beiden Zeilen von "The Cloud / Die Wolke", einem 1820 entstandenen Gedicht Percy Bysshe Shelleys, übersetzt. Shelley ist einer der wichtigsten Vertreter der englischen Romantik und wird wegen der Schönheit seiner Sprache und der ausdrucksstarken Bilder geschätzt. "Die Wolke" ist hierfür ein beeindruckendes Beispiel und Andreas Steinhöfel hat das Werk mit kraftvollen Sprachbildern sehr frei, aber kongenial ins Deutsche übertragen. So heißt es über die Wolke und den Blitz, der sich in Regen auflöst:

    "And I all the while bask in Heaven's blue smile,
    Whilst he is dissolving in rains."


    Andreas Steinhöfel verwandelt nun "baden" in "trinken", das Auflösen des Blitzes in Regen wird zu einem "Vermählen": Ein Bild wird durch ein im Deutschen kraftvolleres ersetzt. Dadurch bleibt der romantische Sprachgestus erhalten:

    "Und ich trinke die Düfte lachender Lüfte,
    während er sich dem Regen vermählt."


    Die Wolke ist in ihrer Verwandlungsfähigkeit Teil der Naturgewalten, deren immense Kraft die Gedichtzeilen schildern. Sie sind verstreut über die 120 Bildseiten eines außergewöhnlichen großformatigen Buches für Jugendliche und Erwachsene , mit dem der Oetinger Verlag den mutigen Schritt zur kompletten ganzseitigen Computergrafik gemacht hat. Der Illustrator Dirk Steinhöfel hat 2003 den Stift aus der Hand gelegt und arbeitet seitdem ausschließlich digital.

    In wenigen Scribbles und Vorskizzen werden Entwürfe festgehalten, die am PC geformt und dreidimensional modelliert werden. Da werden Figuren gemorpht, mit künstlicher Haut überzogen, in Stellung gebracht und in ein digitales Bild eingefügt. Die so komponierten Szenen bringen räumliche Effekte, die in der Zeichnung nicht zu erreichen sind. Fotorealistische Details - wie täuschend echt wirkende Wassertropfen - stehen in Spannung zu ausgesprochen künstlichen Elementen, so dem einer Porzellanfigur gleichenden Jungen, mit dem wir in eine belebte außermenschliche Welt jenseits von Ort und Zeit aufbrechen.

    Eine derart konsequent ausgeführte, übrigens höchst arbeitsintensive Computergrafik wirkt völlig anders als die spontane, lebendigere Handzeichnung und widerspricht den Sehgewohnheiten von Generationen. Entsprechend schwierig war es für Dirk Steinhöfel, Verlage von dieser Technik zu überzeugen:

    "Als ich angefangen habe, mich diesem Bereich zu widmen und zu arbeiten, herrschte zumindest auf dem Buchmarkt eine riesengroße Intoleranz oder Befremdlichkeit, so ein Nicht-Wollen, dieses Nein, das ist neu und das wirkt tot und unterkühlt, dem wollen wir uns nicht widmen. Und das war dann, so würde ich sagen, meine eigene Bockigkeit, dann trotzdem weiterzumachen. Aber natürlich die letztherangewachsene Generation, die hat schon einen ganz anderen Blick, der ist geschärft auf Computergrafik, die sind damit groß geworden und die haben nicht diese Angst, diese Hemmung sich dem zu stellen."

    Wie kam es aber dazu, ein romantisches Gedicht in dieser hochmodernen Darstellungsweise zu illustrieren und als Jugendbuch auf den Markt zu bringen? Die Idee hatte Dirk Steinhöfels Bruder Andreas, mehrfach ausgezeichneter Autor und Übersetzer, der Shelleys "Die Wolke" vor Jahren übersetzt hat.

    "Ich hab mich dann natürlich mit der Frage beschäftigt, wie stelle ich so ein Gedicht dar; denn das ist ja doch eine Metapher fürs Leben oder zumindest für alles, was mir im Großwerden widerfahren ist und noch widerfahren wird: der immer wiederkehrende Versuch, etwas beginnen zu wollen und an seine Grenzen zu stoßen, wieder von vorne anzufangen. Und da kam mir die Idee mit diesem Jungen, der eben auf die Suche geht und etwas in Bewegung setzen will, sei's im Traum eine Vorstellung, eine Idee, auf jeden Fall etwas Großartiges, aber scheitert. Und zum Ende hin, das sieht man ja auch im Buch, wird sehr schnell deutlich: Er ist nicht der Einzige, der das vorhat, es gibt noch andere Kinder, die das machen wollen. Das war so der Ursprung für die Geschichte selbst. Natürlich hätte ich auch nur Wolkenstimmungen machen können, aber dann hätte zu Recht jedes Kind oder jeder Jugendliche gefragt, ist das denn nun ein Geschenkband für meine Eltern oder für meine Großeltern, aber was soll ich denn als Kind oder Jugendlicher damit?"

    Tatsächlich tritt im Text des großartigen Gedichts an keiner Stelle ein Mensch in Erscheinung. Aber die Identifikation des Menschen mit der Natur, diese Entgrenzung im Sinne der Romantik, die es erlaubt, Naturphänomene als Metaphern für das menschliche Leben und Schicksal zu lesen, hat Dirk Steinhöfel zur Verständnisgrundlage seiner Interpretation des Gedichts gemacht. Nicht die Wolke als Naturerscheinung, als Konkretion und Spielball der Elemente steht im Mittelpunkt der Bilderzählung, sondern ein Junge, der mit einem Koffer in die Welt zieht, sich auf seine Lebensreise begibt: mit dem Willen, seinem Leben selbst die Richtung zu geben, die Natur zu beherrschen.

    In Fotobildern mit weiß gezackten Rändern, auf altem, grauen Büttenpapier neben- und übereinander arrangiert, entwickelt Dirk Steinhöfel die Geschichte von seinem zehn- oder zwölfjährigen Jungen, der - vielleicht vor 70, 80 Jahren - im braunen Anzug mit kurzen Hosen und Wollstrümpfen von zu Hause aufbricht; im Koffer nur ein Modellschiff und vier Weckgläser, in denen er Feuer, Wasser, Luft und Erde einfangen möchte.

    Mit kindlicher Neugier greift er nach Eiszapfen, fängt lustvoll den Regen auf, bestaunt den nächtlichen Raureif und die Eisblumen, die Perlenketten aus winzigen Tröpfchen an Spinnwebfäden. Er schläft unter fahlem Sternenschein, wird von der Gischt einer wilden See ans Ufer gespült und von den Silberspeeren des Mondlichts durchbohrt. Er will den Raum durchmessen, den Wind in Ketten legen, mit Druckmessern, Schläuchen und Zahnrädern das Unbezwingbare besiegen. Er fliegt mit einem Heißluftballon in den Himmel und steigt unter die Erde. Bei all seinen Bemühungen aber wird er letztlich von den elementaren Kräften der Natur und nach ihrer Eigengesetzlichkeit vorangetrieben.

    Der Mensch, wie die Wolke, eine vorübergehende Erscheinung, sein Leben ein Spielball des Schicksals: diese Sinnebene liest man auf jeder Seite des Buches mit. Aber auch innerhalb der von Dirk Steinhöfel geschaffenen Bildwelt bleibt die Frage nach einem fiktiven Geschehen oder purer Imagination des Jungen offen:

    "Das ausgehende Bild ganz am Anfang lässt ja zwei Möglichkeiten zu: Er entschließt sich, steht auf und setzt sich in Bewegung, ähnlich wie sich auch eine Wolke in Bewegung setzt, um einem Ziel näher zu kommen. Und man könnte natürlich auch sagen, er schaut nach draußen und träumt, also alles könnte auch eine große Traumsequenz sein."

    Als der Junge schließlich seine Wolkenmaschine in Gang setzt, die vier Elemente in den Schlauch füllen und so die Urgewalt erzeugen will, steigt unbemerkt schon der unzähmbare Wolkengeist wieder empor und der Naturkreislauf aus Werden und Vergehen beginnt aufs Neue. Das Werk war vergebens. Es ist ihm nicht gelungen, die Elemente zu beherrschen und doch ziehen bereits die Nächsten aus, die es versuchen wollen.

    Dirk Steinhöfel: "P.B. Shelleys Die Wolke".
    Deutsch von Andreas Steinhöfel. Für Jugendliche und Erwachsene. 128 Seiten, Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg. 19,95 Euro.